Ich habe gestern mit meinem Vater telefoniert. Eigentlich nichts Weltbewegendes und alle Kinder oder zumindest die meisten tun sowas und manche vielleicht sogar regelmäßig und da ist ja auch nichts Schlimmes bei eigentlich, bis vielleicht auf die Tatsache, dass Telefonate mit Eltern immer schwierig sind. Weil so ein Telefonat immer die Tendenz einer Zeitschleife hat, in der wir als inzwischen erwachsene Kinder, also ich bin inzwischen 38, plötzlich wieder 12 Jahre alt sind, oder so ähnlich. Von unserem Gastautor Daniel Kasselmann.
Eigentlich wollte ich nur kurz nachfragen, ob es für ein anvisiertes Familientreffen bereits einen Termin gäbe. Weil solche Termine in unserer Familie immer kurzfristig bis gar nicht kommuniziert werden, oder erst, wenn sie dann schon in der Vergangenheit liegen und das ist ja nun wirklich arg knapp. Aber als ich nach einer Stunde auflegte und mir den Schaum vom Mund wischte, hatten wir gerade mal fünf Minuten über diesen Termin gesprochen. Weil ich vorher gar nicht dazu kam, das Thema zur Sprache zu bringen, sondern in die Falle aller Söhne und Töchter dieses Universums tappte, meinem Vater zur Eröffnung des Gesprächs eine einfache Frage zu stellen, die normalerweise in den Bereich gepflegter Konversation gehört, aber in dieser Konstellation die Steilvorlage für die Monologe der abgekauten Ohren ist. Ich fragte meinen Vater, wie es ihnen geht, mehr nicht. Ich meine, dass sie sich gerade einen neuen Fernseher gekauft hatten, hätte ich zumindest erahnen können, weil in unserem letzten dreistündigen Gespräch davon die Rede war, dass ihr alter Nordmende-Farbfernseher aus dem Zeitalter des kalten Krieges, tatsächlich bereits nach läppischen 30 Jahren seinen Geist aufgegeben hatte und kein Hersteller-Garantieversprechen mehr weiter half, weil die Firma Nordmende bereits Jahre vorher ebenfalls ihren Geist aufgegeben hatte. Ich erinnere mich noch, dass ich versuchte, meinen Vater davon zu überzeugen, dass es doch eigentlich schön sei, dass das Produkt die Lebensdauer seiner Produktionsfirma um fast eine Generation überdauert hätte, aber das ließ er nicht gelten, denn das Gerät war damals der fernsehtechnisch kometenhafte Aufstieg meiner Eltern vom Schwarzweißfernsehen zum Farbfernsehen gewesen und da hingen viele Erinnerungen dran. Helmut Schmidt, Ronald Reagen und Margaret Thatcher live und in Farbe, das war in unserem Hause eine coloristische Sensation, vergleichbar mit einem Dauerregenbogen vom Nord-zum Südpol. Und dieses Gerät hatte sich also nun auf Dauer ins technische Nirvana verabschiedet und musste daher ersetzt werden. Das hätte ich wissen können, als ich meinen Vater anrief und den Anruf unterlassen, aber hinterher ist man ja immer schlauer. Ich hätte wissen können, dass meine Eltern sich inzwischen einen neuen Fernseher gekauft haben würden und hätte ich mir nur eine Minute über die weitreichenden Konsequenzen Gedanken gemacht, dann hätte ich wirklich nicht angerufen, denn damit verglichen ist die Baumaßnahme eines Mehrfamilienhauses ein Sonntagsspaziergang.
Meine Eltern hatten vorher händeringend versucht, noch einen Röhrenfernseher zu erwerben, aber die werden ja nicht mehr hergestellt, also lief es auf einen dieser neumodischen, technisch noch total unausgereiften Flachfernseher hinaus. Diese haben zwar den Vorteil, dass sie in der Tiefe des Raums platzsparend sind, dieser Vorteil wird aber durch den katastrophalen Umstand nivelliert, dass sie ein anderes Format haben und das Neugerät meiner Eltern war schlicht ein gutes Stück breiter als der 70cm Nordmende, der Technikgotthabihnselig.
Meinen Vater als bibliophil zu beschreiben, käme einer unangemessenen Untertreibung gleich, wobei auch der Begriff des Bibliomanen ihn noch nicht ganz trifft, auch der Bibliopolit, also der Weltbücherbürger ist ein wenig schief, ich bin da noch auf der Suche nach einem geeigneten Begriff. Aber ordnungstechnisch – und das ist der zweite erschwerende Umstand für eine dermaßen unvorsichtige Kamikaze-Neuanschaffung – kann ich nur auf den Umstand hinweisen, dass mein Vater alle seine Bücher mit einem halbmeterlangem Stahllineal in Reih und Glied bringt. Das ist notwendig, damit der Platz davor noch optimal mit antiken und pseudoantiken Kunstgegenständen von Indien bis Honolulu bestückt werden kann, aufs sorgfältigste beleuchtet durch eine museumsadäquate Scheinwerferbatterie, so dass jedem Besucher im Moment des Eintretens in den Museumssalon klar werden muss, dass hier die kultiviertesten der Kultivierten, kosmopolitischen und weitgereisten, Kunstbeflissenen Bibliomanen der westlichen Hemisphäre Hof halten. Das Auratische der originären Kunst nach Benjamin hat hier sein genuines Zuhause, das sich im Arbeitszimmer meines Vaters, der von uns aufgrund seiner grünen Wandfarbe nur der grüne Salon genannt wird, sowie dem zweiten im Souterrain befindlichen blauen Salon entsprechend fortsetzt, wobei letzterer meist zu Diaabenden von zeitlich wagnerianischen Ausmaßen genutzt wird, denn mein Vater hat auf den Reisen meiner Eltern keine antike Säule der griechischen, römischen oder ägyptischen Welt fotografisch ausgelassen. Sollten irgendwann mal die Pyramiden von Gizeh einem Erdbeben oder sonstiger Katastrophe zum Opfer fallen, wäre es sicherlich möglich, sie mithilfe des umfangreichen Bilderstocks meines Vaters originalgetreu Stein für Stein wieder zu errichten. Da mein Vater sich weiterhin weigert, von seiner analogen Leica M5 auf den technischen Standard der digitalen Fotografie umzusteigen, bedarf die Lagerung seines Dia-Stocks eines weiteren eigenen Raums von den Ausmaßen eines mittleren Manhattener Penthouses. In diesem werden außerdem zur Strafe diejenigen Gäste eingesperrt, die sich des unentschuldbaren Tatbestandes strafbar gemacht haben, während eines seiner fünfstündigen Diamonologe zwischendurch einzudösen. Ich kenne diesen Raum selbst sehr gut, denn ich war damals noch jung und noch nicht wirklich fit für das Wagnermonologformat. Doch zurück zum neuen Fernsehgerät.
Der „Neue“ war etwa 10 Zoll größer und hatte daher die Tendenz, die nebenstenende Hifi-Anlage mit Reciever, Doppelcasettendeck, BlueRay-CD-Player, Plattenspieler und dem Tonbandaufnahmegerät aus dem Jahre 1970 schlichtweg räumlich zu erdrücken, denn nach einer alten physikalischen Formel kann wo A ist, nicht gleichzeitig auch B sein. Nachdem mein Vater das elementare Problem dieser häuslichen Krise erläutert hatte, schwante mir, worauf ich mich eingelassen hatte und versuchte noch, die Situation mit dem konstruktiven Vorschlag zu retten, indem ich ihm den zeitnahen Erwerb einer Micro-Hifianlage nahelegte, was er jedoch aufgrund der hohen Qualität der vorhandenen neuwertigen Hifi-Ausstattung konsequent ablehnte. Ich erfuhr auch direkt den Grund, denn er hatte selbst schon die Lösung des Problems gefunden. Er ist ein Nachtmensch und zieht sich seine Wagner-Schallplattensammlung aus dem ledernen Schmuckschuber immer am liebsten in Originallautstärke so am frühen Abend ab 23.00 Uhr rein, wobei er als ehemaliger Orchestermusiker verständlicherweise die Nutzung eines Stereo-Kopfhörers aufgrund des vollständig indiskutablen Raumklangs kategorisch ablehnt. Das führte in der Vergangenheit mitunter zu dezenten Klagen der Nachbarn, sowie der nächsten Autobahnmeisterei und dem einige Kilometer entfernter gelegenen Flughafen. Mein Vater hatte zwar immer auf der Freiheit der Kunst und des freien akustischen Kunstgenusses bestanden, sah aber nun in der Krise die Chance, sein Verhältnis zum Flughafen, der für seine Person zwischenzeitlich ein Hausverbot erteilt hatte, zu verbessern. Der Plan war, die Hifi-Anlage mit mit Reciever, Doppelcasettendeck, BlueRay-CD-Player, Plattenspieler und dem Tonbandaufnahmegerät aus dem Jahre 1970 in das Souterrain und dort in den blauen Salon zu verschieben. Dies hatte nur den Haken, dass sich ebendort die umfangreiche Reiseführersammlung meiner Eltern befindet, in der sich Caféhausführer aus den Achtzigern mit Nahostreiseführern aus den 60ern, die Sowijetunion, DDR sowie Reiseziele in die schönsten GAU-Gebiete aus den 30ern nebeneinander ein Stelldichein geben. Wer jetzt einwendet, dass Reiseführer mit der Zeit veralten und unaktuell werden, trifft damit wie die Faust in die Magengrube des passionierten Globetrotters, denn die Qualität dieser gesammelten Ausweise von kulturbeflissener Reiseleidenschaft sind selbstverständlich über das Kriterium der Aktualität vollständig erhaben, sie zu vernichten ein kultureller Frevel. Doch es gibt in dem blauen Salon auch noch andere unersetzliche Literatur neben den historischen Reiseführern und das sind die gesammelten Schulhefte meines Vaters, angefangen von der Primarstufe bis hin zur allgemeinen Hochschulreife inklusive Graecum und Latinum, nach Schuljahren sortiert. Mein Vater trennte sich schließlich schweren Herzens von seinem schulkulturellen Erbe der Primarstufe und setzte sich mit den Inhalten seiner Schullaufbahn zwischen Untersekunda und Oberprima auseinander. Das ist vor der Folie wichtig, wenn man bedenkt, dass Franz Kafka seinerzeit Max Brod auftrug, sein literarisches unveröffentlichtes Erbe komplett zu vernichten und es ist Max Brod posthumer Verweigerung dieses Wunsches eines Sterbenden zu verdanken, dass die deutsche Literatur heute auch aus dem Nachlass des Dichters schöpfen kann. Auch Woyzeck von Büchner wurde als Fragment vermacht und ohne diese Werke wären die deutschen Staats- und Stadttheater quasi spielplanlos und Deutschland zurückgeworfen auf den kulturellen Status eines Entwicklungslandes. Denn bevor mein Vater Cellist und Ruinenfotograf wurde, war er in seiner Schullaufbahn ganz eindeutig Philosoph. Das hatte er zwar während seiner beruflichen Musikerkarriere minimal verdrängt, aber durch seine gesammelten Cahiers war er nun in der Lage, sich seine damalige geistige Entwicklung von Aristoteles über Kant, Hegel, Heidegger bis hin zu Sartre und Camus wieder zu vergegenwärtigen und an seinem Synapsen und nun im Telefonat mit mir auch an meinen vorbeiziehen zu lassen. Als ich an dem Punkt angelangt war, mich verzweifelt zu fragen, was ich denn während meines fünfjährigen Studiums überhaupt gelesen hätte, war mein Vater bei Hegels Vorlesungen zur Ästhetik I-II angelangt und kam auf die Theatertheorie Brechts zu sprechen, immerhin ein Feld auf dem ich mich als Theaterwissenschaftler etwas sicherer fühlte und meine Versagensängste abebbten. Ich hatte immerhin den Mut, ihm vorzuschlagen, seine Schulhefte abzutippen und bei einem wissenschaftlichen Verlag einzureichen, doch da wir beide die Zeit, die dafür zwingend notwendig wäre, dieses enzyklopädische Mammutunternehmen anzugehen beide mit zehn Jahren einschätzten, war das auch keine Möglichkeit, sich kurzfristig doch von seiner gesammelten Schulliteratur zu trennen. Zumal ich mir gar nicht vorstellen wollte, welchen Platz die Autorenexemplare im blauen Salon einnehmen würden. Deswegen waren wir beide nach 55 Minuten etwas ratlos und es entstand die erste Pause im bis dahin ununterbrochenen Redefluss meines Vaters. Neue Regale im Salon aufzustellen ist nicht möglich, da die gegenüberliegende Wand den Werken der bildenden Kunst vorbehalten bleibt, zumal mein Vater seit seinem Ausscheiden aus dem Musikbetrieb seine vierte Karriere als bildender Künstler gestartet hat und seine Ruinenfotos zu künstlerischen Collagen verarbeitet, von denen die meisten in Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt werden, jedoch die besten und damit unverkäuflichen den heimischen vier Wänden vorbehalten sind. Ich konnte die Verzweiflung meines Vaters inzwischen sehr gut nachvollziehen, denn dass dieser brillante Philosoph, Cellist, Ruinenfotograf, bildender Künstler und Bibliomane dieses Platzproblem durch eigene Geisteskraft nicht lösen konnte, musste ihn schier in die Verzweiflung treiben. Das brachte ihn darauf, mir aus seinem Aufsatz über seine Widerlegung der Einsteinschen Relativitätstheorie vorzulesen und mir brach der Schweiß aus, denn ich wusste, wenn ich ihm jetzt nicht Einhalt gebieten können würde, dann würde sich das Telefonat auf drei Stunden ausdehnen mit offenem Ende. Brachial fuhr ich ihm ins Wort, zugegeben eine ungehorsame Aktion, die ich nur mit meiner reinen Verzweiflung moralisch und auch nur ausnahmsweise rechtfertigen kann. Ich brachte wirklich die Frage nach dem Familientermin an, der allerdings noch nicht feststand, wir verblieben dann so, dass er sich bei mir melden würde, wenn es einen Termin gäbe und wir beendeten das Gespräch.
Ermattet ließ ich das Mobiltelefon sinken. Und die verschiedenen Gedanken aus unserem Gespräch zuckten mir durch die Synapsen. Meine Tante ist nämlich auch bildende Künstlerin und mindestens eine genauso großartige Selbstdarstellerin wie ihr Bruder. Gemeinsame Treffen mit meinem Vater und meiner Tante arten also regelmäßig darin aus, dass sie gegenseitig versuchen, sich zu beweisen, wer von ihnen der oder die bessere Künstler, Musiker und Denker ist. Wollte ich bei so einem Zusammentreffen wirklich dabei sein? Ich schüttelte unbewusst den Kopf. Aber das war doch der eigentliche Grund für meinen Anruf gewesen, den ich mit dem Preis einer Suada über den schier unmöglichen Umzug einer Hifi-Anlage von einem Wohnzimmer in einen blauen Salon bezahlt hatte. Warum hatte ich das vorher nicht gewusst?
Dumme Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass man meist vorher neben sich steht und ganz genau darüber im Klaren ist, dass man jetzt gleich etwas total Bescheuertes tun wird, es im nächsten Moment aber dennoch tut. Immerhin hat mich dieser Anruf außer Nerven nichts gekosten, da ich eine Flatrate ins Festnetz habe. Vielleicht hätte ich das meinem Vater seinerzeit nicht erzählen sollen, denn als ich noch sagen konnte: „Papa, ich muss jetzt Schluss machen, das wird hier sonst zu teuer.“ waren unsere Telefonate noch wesentlich kürzer. Schon blöd, wenn man als Sohn so redselig ist, dass man ein solch wichtiges Geheimnis nicht einfach mal für sich behalten kann.
Daniel, ich habe den ersten und letzten Satz gelesen.
„Schon blöd, wenn man als Sohn so redselig ist, dass man ein solch wichtiges Geheimnis nicht einfach mal für sich behalten kann.“
Könntest Du mir den Zwischenteil zusammenfassen?
😉
Hallo Herr Kasselmann,
mein Vater ist pensionierter Ingenieur und ich kann Ihnen versichern, dass auch eine von meinem Vater immer beschworene „technische Lösungssuche“ bei Alltagsproblemen absolut ähnlich verläuft.
Was mich rettet, da ich als Geistwissenschaftler nun sowas von keine Ahnung haben darf, bleiben solche Telefonate an meinem Bruder hängen. Warum ist der auch Bauingenieur geworden…. 🙂
[…] Der neue Fernseher Ich habe gestern mit meinem Vater telefoniert. Eigentlich nichts Weltbewegendes und alle Kinder oder zumindest die meisten tun sowas und manche vielleicht sogar regelmäßig und da ist ja auch nichts Schlimmes bei eigentlich, bis vielleicht auf die Tatsache, dass Telefonate mit Eltern immer schwierig sind. Weil so ein Telefonat immer die Tendenz einer Zeitschleife hat, in der wir als inzwischen erwachsene Kinder, also ich bin inzwischen 38, plötzlich wieder 12 Jahre alt sind, oder so ähnlich. […]
Sehr schön. Ich musste oft lachen.
Deinen Vater würde ich gerne mal kennenlernen.