Wie das legendäre Bermudadreieck in den blauen Fluten der Karibik, ist auch das gleichnamige Gastronomie- und Entertainmentviertel der Legende nach aus dem Nichts entstanden. Aber wie es bei Legenden so ist, sie stimmen in der Regel höchstens zur Hälfte. Es ist wahr, in den 50er Jahren und auch noch Anfang der Sechziger war von diesem heute pulsierenden Ort nichts zu sehen, und jemand, der ihn zu dieser Zeit vorausgesagt hätte, wäre Gefahr gelaufen, kurzfristig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden.
Schaut man jedoch genauer hin, dann war dort, wo heute an sonnigen Sommerwochenenden bis zu 50.000 Menschen feiern und flanieren, früher einmal das Bahnhofsviertel der damals äußerst dynamischen und ständig wachsenden Industriestadt Bochum. In gewisser Weise schlug dort ihr Herz. Es wurde zusammen mit dem größten Teil der Innenstadt im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gebombt. Nach dem 4. November 1944, dem Tag des schwersten Bombenangriffs, war die Bochumer City ein Trümmerfeld. Vom alten Bochumer Hauptbahnhof steht heute nur noch ein behelfsmäßiger Nachbau. Der so genannte Katholikenbahnhof, heute bekannter als Veranstaltungsort namens Rotunde, wurde zum Katholikentag, der ersten von den Alliierten in Deutschland genehmigten Großveranstaltung, 1949 in Bochum auf dem Schutt des alten Bahnhofes, wesentlich kleiner und schlichter als dieser erbaut.
Der Katholikenbahnhof sollte von Anfang an nicht mehr als ein Provisorium sein. Nach dem Krieg waren sich die Bochumer Stadtplaner darin einig, dass der „richtige“, neue Hauptbahnhof an einem neuen, dem heutigen Platz, wieder in alter Größe entstehen sollte. Es war ein alter Plan, denn die Verlegung dieses zentralen Eisenbahnhaltepunktes war schon seit der Jahrhundertwende eine Überlegung der Stadtplaner. Da der Bochumer Hauptbahnhof ursprünglich kein Umsteigebahnhof war, musste man, um nach Wanne-Eickel und Gelsenkirchen zu kommen, erst einmal zum ehemaligen Nordbahnhof laufen. Zudem war der Bahnhofsvorplatz schon lange nicht mehr dem zunehmenden Reiseverkehr gewachsen.
Trotz aller städtebaulichen und verkehrstechnischen Probleme bot sich dem, der vor dem Zweiten Weltkrieg mit der Eisenbahn in Bochum ankam und sich Richtung Innenstadt auf den heutigen Konrad-Adenauer-Platz zu bewegte, eine ausgesprochen großstädtische Kulisse. Mehrere Hotels mit so illustren Namen wie Royal, Zum weißen Schwan und Union, sowie ein Kino namens Weltlichtspiele reihten sich nacheinander auf. Ebenso im Blickpunkt lag der heutige Handelshof, der 1914 errichtet worden war. In ihm befand sich zu seiner Eröffnung, wie heute wieder, im Erdgeschoss Gastronomie und darüber ein Billardsaal. Damals hieß dieser allerdings Billardakademie, und stand unter der Leitung eines – wie die Zeitungen schrieben – „erstklassigen“ Meisters seines Faches.
Weiter ging es die heutige obere Kortumstraße, damals noch Bahnhofstraße, am 1925 fertig gestellten Lueg-Haus vorbei, dessen Erdgeschoß vor dem Krieg noch im wesentlichen aus einer 450 qm großen Ausstellungshalle für – wie es früher hieß -Automobile bestand und eines der ersten Hochhäuser im Ruhrgebiet war. Das von dem Düsseldorfer Architekten Emil Pohle erbaute Haus war noch bis 1955 das höchste Gebäude der Stadt und beherbergt heute das Union-Kino. In den umliegenden Häuser gab es auf der untersten Ebene , wie heute auch, Gaststätten und Einzelhandel. Ein richtiges Kneipenviertel war das Quartier am Bochumer Bahnhof jedoch nicht. Es hatte eher –wie viele Bahnhofsviertel großer Städte – die Anmutung eines Rotlichtviertels.
Direkt lief der Neubochumer dann auf den 1910 eingeweihten und noch heute existierenden Engelbertbrunnen zu, der dem Viertel seinen Namen gab. Er wurde in seiner ursprünglichen, eher schlichteren Form von dem ortsansässigen Künstler Markus Wollner entworfen und verweist auf eine Zeit – auf das Jahr 1388 – in der es weder ein Bahnhofsviertel, noch Eisenbahnen gab, und Bochum noch nicht viel mehr als ein kleines Ackerbürgerstädtchen war. In diesem Jahr soll ein gewisser Graf Engelbert der III. von der Mark von Bochumer Junggesellen bei seiner Fehde mit der Freien Reichsstadt Dortmund unterstützt worden sein. – Auch dies wohl eine Legende mit eher zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, zumal die Geschichte wohl erst vor gut hundert Jahren erfunden worden ist und den Bochumern seitdem als Grund für ein bis heute jährlich stattfindendes Stadtfest dient.
Graf Engelbert II. allerdings hat nachweislich zu Beginn des 13. Jahrhunderts Bochums Stadtrechte schriftlich niedergelegt. Was das Denkmal selbst betrifft, wurde es im Zweiten Weltkrieg als Kriegsmaterial eingeschmolzen und ist erst 1964 in der heutigen „modernen“ Fassung, nur wenige Meter vom alten Standort, wieder errichtet worden.
Von dieser städtebaulich attraktiven Vorkriegsszenerie sind im Wesentlichen nur der Handelshof und das Lueg-Haus erhalten geblieben. Selbst wenn die oben genannten Hotels die Bomben überstanden hätten, sie hätten letztlich an diesem Standort keine Zukunft gehabt. Die nun endlich realisierbare Bahnhofsverlegung schuf nämlich seit den 50er Jahren um den alten Standort eine Art städtebauliches Vakuum, eine Leerstelle am Rande der sich im Wiederaufbau befindlichen Innenstadt Bochums. Aus einem der zentralen Orte der Stadt war spätestens mit dem Bau des neuen Bahnhofs im Jahre 1957 ein blinder Fleck geworden, für den sich, von den Verkehrsplanern abgesehen, niemand mehr so Recht interessierte.
Die Verkehrsplaner Bochums sahen schon bald nach Kriegsende in der zu 70% zerstörten Innenstadt nicht nur das vergangene und überstandene Elend, sondern eine Zukunft, die breitere Straßen und eine optimalere Verkehrsführung für das sich anbahnende Wachstum der Region und natürlich auch Bochums anvisierte. Bochum sollte bereit gemacht werden für das Auto-Zeitalter. Ein urbanes Kneipen- und Szeneviertel passte nicht in die Vison dieser Leute.Sie nahmen der alten Bahnhofstraße die verkehrliche Erschließungsfunktion zur Innenstadt, und verlegten diese auf die nun vierspurig verbreiterte Viktoriastraße und den neuen Innenstadtring. Die alte Bahnhofstraße wurde so zu einem Teil der Kortumstraße und nahm auch ihren Namen an.
Ihr zweites Teilstück Richtung Innenstadt, der Bogen zwischen Engelbert und Südring, wurde zur Brüderstraße. Die für ihre heutige Nebenstraßenfunktion sichtbar überdimensionierte Breite erinnert heute noch an ihre alte Hauptstraßenrolle. Diese „Übergröße“ war es auch, die es den heutigen Stadtplanern erlaubte, die für das Bermudadreieck typische Außengastronomie zuzulassen, da dies den Fußgängerfluss nicht einschränkte. Der alte Bahnhofsvorplatz und heutige Konrad-Adenauer-Platz vor dem Handelshof wurde zum Berliner Platz, war aber eigentlich überhaupt kein Platz mehr, sondern nur noch eine mit ein wenig Grün versehene, großzügige Straßenabzweigung der Viktoriastraße in die obere Kortumstraße.
Im Ergebnis war das Viertel um den Engelbert durch das neue, innerstädtische Erschließungskonzept auf einmal von zwei Seiten durch vierspurige Verkehrstrassen von der restlichen Innenstadt abgeschnürt. Viktoriastraße und Südring bildeten dabei einen rechten Winkel zueinander und dadurch zusammen mit der nun in Obere Kortumstraße und Brüderstraße umbenannten ehemaligen Bahnhofstraße ein reales Straßendreieck. In diesem Straßendreieck nahm nun auch der aus der Vorkriegszeit verbliebene oder wieder erstandene Einzelhandel kontinuierlich ab. Die Menschen, die aus dem Süden über die Viktoriastraße durch die ebenfalls ausgeweitete Eisenbahnunterführung gelangten, hielten nicht mehr vor dem Südring an und stiegen dort auch nicht mehr aus. Auch wer aus der Innenstadt kam, sah keine große Veranlassung mehr, den Südring Richtung Engelbert zu überschreiten.
Wer allerdings am neuen Berliner Platz ganz nach oben zur Dachkante des Handelshofes schaute, konnte mit etwas Phantasie schon 1951 in großen Leuchtbuchstaben sehen, wohin die Reise zukünftig gehen sollte. Seit diesem Jahr stand dort wie ein positives Menetekel in großen Leuchtbuchstaben: „Treffpunkt Bochum – Schaufenster des Reviers“. Die Stadt hatte mit neidischem Blick auf den ebenfalls direkt am Bahnhof gebauten Handelshof in Essen und dem dort weit sichtbar angebrachten Spruch „Essen – Einkaufsstadt im Revier“ einen Bürger-Wettbewerb ausgeschrieben, und dieser Slogan war dabei herausgekommen.
Dass dieser 1988, nach dem er sich im wahrsten Sinne des Wortes erfüllt hatte, statt „Schaufenster im Revier“ das Wort „Bermudadreieck“ in sich aufnehmen würde, konnten aber weder die Bochumer Bürgerin, die ihn getextet hatte, noch die Preisverleiher ahnen. Erst recht nicht, dass niemand in Bochum etwas dagegen haben würde. Bei genauerem Hinsehen war aber auch nach dem Krieg im ehemaligen Bahnhofsviertel nicht alles Leben erstorben.
In der hektischen Gründerzeit während der Wirtschaftswunderjahre gab es sowohl im Einzelhandel als auch in der Gastronomie zahlreiche Wieder- und Neueröffnungen. Anfang der 60er Jahre hatten sich dort sogar schon wieder so genannte Bars, im damaligen Beamtendeutsch: „Unterhaltungsgaststätten mit verkürzter Polizeistunde“, etabliert. Diese eher mit zweifelhaftem Ruf beleumundeten Lokalitäten trugen Namen wie Die Kulisse an der Brüderstraße 8, die Stripteasebar Romantica an der Kortumstraße 19 und das Tanzcasino an der Kreuzstraße, und die damals wohl unvermeidliche Lidobar an der Viktoriastraße.
Auch im näheren Umkreis hatten zwei Tanz- bzw. Nachtlokale eröffnet: Das heute noch existierende New Orleans am Südring, und das wohl besonders feurige Nachtlokal Paprika am Ring an der Kreuzung Südring/Viktoriastraße.
Es gab aber auch bürgerliche Gaststätten wie das Zum Ritter an der oberen Kortumstraße und den Handelshof im gleichnamigen Gebäude. Auch das heutige Tucholsky hatte zu dieser Zeit schon einen gastronomischen Vorläufer. Ebenso das heutige Café Konkret, das zu jener Zeit in seinen Räumen die Gastwirtschaft Zum Engelbert beherbergte. Die kleine schmale Kneipe namens IT-Stübchen (heute die Pinte) neben dem Kino mit dem heute zweifelhaft wirkenden Namen Intimes Theater (heute Casablanca) gehörte mehr zum Rotlichtmilieu der Stadt. Auch das Kino Union war schon in Betrieb.
Das Bochum der 50er Jahre war allerdings, was das Nachtleben betraf, so wie die meisten Ruhrgebietsstädte, eher provinziell. Anständige Menschen gingen – erst recht wenn man bedenkt dass die Masse schwerindustrielle Arbeiter waren – damals nun einmal früh ins Bett. Erst 1959 gab es wieder zwei Bars in Bochum. Bis 1965 hat sich die Zahl der „Tanz- und Vergnügungsstätten“ immerhin auf insgesamt 20 erhöht. Für eine normale Großstadt auch damals keine beeindruckende Zahl.
Mehr:
Teil 1: Die B3E-Story – oder wie das Bochumer Szeneviertel namens Bermudadreieck entstanden ist
Teil 3: http://www.ruhrbarone.de/die-b3e-story-vom-proletarischen-moltkeviertel-zur-bochumer-studentenbewegung/#more-44327
Dieser Text wurde schon unter Teil 1 veröffentlicht. Redaktioneller Fehler?
Ansonsten sehr guter Einstieg, freue mich auf weitere Teile!
@Marc: Ja, ein Fehler. Danke für den Hinweis. Ist geändert 🙂
Mag die Reihe auch :). War auch schon bei einem Vortrag von Dietmar Bleidick über die Geschichte des Bochumer Ehrenfelds.
Gibt es eigentlich noch weitere Fotos zur Illustration, Herr Voss? Darüber wäre ich ja äußerst entzückt.
Links anne Ruhr (13.07.2012)…
Mülheim an der Ruhr/Duisburg: A40 von Mülheim bis Kreuz Kaiserberg zwei Wochen lang gesperrt (WAZ.de) – Dortmund: Ausschuss-Entscheidung: Piraten bleiben bei Wiederholungswahl außen vor (Ruhr Nachrichten) – Da es s…
Großartig, Arnold! Sehr interessant!
Die Bar Romantica und die Lidobar hätte ich gern zurück, natürlich wegen der Namen 😉 Und warum das Paprika am Ring seinen genialen Namen irgendwann änderte, habe ich bis heute nicht verstanden.
Nun mal ernst: Wenn ich mir das Foto anschaue, werde ich ein bisschen traurig. Wie grün damals selbst die Innenstadt war! Das fiel mir schon öfter auf, wenn ich historische Fotos von Bochum gesehen habe. Heute dominieren in der Innenstadt Straßen und öde Betonplätze, Begrünung scheint out zu sein, und selbst vorhandene Restbestände (Rasenflächen mit großen, alten Platanen links und rechts neben der Marienkirche) wil man dann auch noch weghauen für ein fragwürdiges Prestigeprojekt Bochumer Politiker. Traurig.
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