Und noch mal Emscherkunst 2010. Sie hat einen jungen Mann ins Ruhrgebiet gelockt, der den fremden Blick sehr ernst genommen hat. Den in Berlin wohnhaften gebürtigen Österreicher Florian Neuner.
Seine Leidenschaften: Zu Fuß gehen und in Kneipen halt machen um mit Leuten zu reden. Ersteres kein großes Hobby der Ruhrstädter, zweiteres schon. Beides hat Neuner im Ruhrgebiet ausgiebig getan und darüber hat er ein Buch geschrieben:Ruhrtext. Text deswegen, weil er die Stadt wie viele seiner literarischen Vorgänger als solchen liest. Als gebaute Sätze mit einem semantischen Sinn der sich nur durch das gehen/flanieren, d.h. durch genau diese dreidimensionale und sinnliche Art des laufenden Begreifens erschließt.
Flaneur und Ruhrgebiet scheint erst einmal ein Widerspruch in sich zu sein.
Aber der Autor stellt sich diesem in einer Konsequenz, die – wenn man bedenkt dass das Buch aus eigener Initiative entstanden ist – geradezu bewundernswert erscheint. Der Kerl ist wirklich durch dieses nicht enden wollende als geradzu antiurban geltende Stadtgestrüpp gelatscht, Tag um Tag, Monat um Monat, um uns Ruhries am Ende klar zu machen, dass es genau diese Mikrostruktur ist, die das Ruhrgebiet ausmacht. Nichts gegen die Industriekultur, nichts gegen die sonstigen Leuchttürme des Ruhrgebiets, aber es ist der Raum dazwischen, der nach seiner Ansicht die Identität dieser Stadtregion bestimmt.
Kein Wort über das Bermudadreieck in Bochum, kaum eins über das Kreuzviertel in Dortmund und über Rüttenscheid in Essen. Auch nicht viel über den neuen Innenhafen von Duisburg. Nichts über die neuen sogenannten Kreativquartiere. Keine der üblichen lobenden Ausführungen über die im landläufigen Sinne dann doch recht urbanen Teile dieser Stadtandschaft. Keine Hymne auf die Arbeitersiedlung als die große solidarische Wohnform der Industriegesellschaft. Stattdessen minutiöse Beschreibungen der Viefalt im Kleinen, durchmischt mit den weltweiten Elementen städtischer Peripherie und dem immer gleichen Containerarchitekturen entlang der nicht enden wollenden und nicht nur für den Fremden immer wieder undurchschaubaren Megastruktur der Autotrassen an Emscher und Ruhr.
Die Wahrheit lieben lernen, das könnte der unausgesprochene Leitsatz hinter diesen ausufernden Beschreibungen gebauter Dispersion sein. Diese gleichzeitige Verlorenheit und Aufgehobenheit in immer neuen Zwischenräumern, ist das große Thema dieses Buches. Vielleicht auch das des Autors selbst. Sie verdichtet sich auch für ihn sozial und kulturell immer wieder in den mehr oder weniger zufällig aufgesuchten Kneipen, in denen er sich mit ebenso zufällig ausgewählten Menschen trifft und, wenn es sich ergibt, sich mit ihnen unterhält, bzw. ihnen zuhört.
Das in diesen aneinander gereiten Zwischenräume jedoch insgesamt eine solche Menge an Menschen wohnen, das alles in allem dabei eine riesige Millionenstadt herauskommt, entgeht dabei auch diesem notorisch autoresistenten Ruhr- und Emscher-Eroberer nicht. Im Gegenteil, es ist gerade diese kompakte Riesigkeit einer Vielfalt im Kleinem die ihn offensichtlich fasziniert. Die ihn diese vielen Reisen in dir Nähe machen lässt. Zu Orten die die meisten Ruhries, mit Ausnahme derer die dort wohnen, kaum kennen weil sie sie auch nicht weiter interressieren. Und natürlich fällt im gerade als Fußgänger (aus Berlin) immer wieder und zu seinem Leidwesen auf, dass diese Ruhrstadt einen Nahverkehr hat, der ihrer Größe und räumlichen Dichte hohnspricht. Der Kommentar einer Wirtin macht den hier manifest werden Widerspruch des ganzen Buches kopfschüttelnd deutlich: Zu Fuß würde ich hier nicht weit laufen.
Stimmt. Niemand würde das hier tun, wenn er nicht dafür bezahlt würde. Das, was der Autor dabei so spannend findet, interessiert die meisten Ruhries nicht die Bohne. Wenn unmotorisiert, dann ist das mindeste als Fortbewegungsmittel ein Fahrrad. Auch mit dem sucht man dann eher die vielen grünen und blauen Freiräume oder die Orte wo sich das Leben verdichtet auf, als dass man sich der sogenannten Zwischenstadt anheim gibt. Die hat man ja in der Regel gleich „um die Ecke.“
Das ist auch ein Problem beim Lesen des Buches. Es kann einem leicht langweilig werden, denn die Beschreibungen sind sich oberflächlich gesehen recht ähnlich. Aber eben nur oberflächlich. Das was der Autor von sich selbst verlangt hat, das verlangt er auch vom Leser: Genaues Lesen bzw. genaues hinschauen. Auch wenn er über die Ruhrstadt und ihre Urbanität zwischendurch theoretisiert. Das wirkt manchmal etwas aufgesetzt, aber nicht uninteressant. Vieles ist dem diesbezüglich informierten Leser auch nicht neu. Aber wie er es mit dem Ruhrgebiet verknüpft, lässt einen dann doch auf neue Gedanken kommen.
Auf jeden Fall konnte ein solches Stadtbuch nur im Ruhrgebiet entstehen und Florian Neuner hat sich dieser besonderen Stadtlandschaft wirklich gestellt. Schon von daher unterscheidet es sich geradezu angenehm von all dem metropolitanen Marketinggeschwurbel das in und um die Kulturhauptstadt verbreitet wird. Man spürt beim Lesen auch zunehmend, dass er sich mit dem Gegenstand seiner Erforschung identifiziert, ohne sich mit ihm gemein zu machen. Statt der berühmt berüchtigten Liebe auf den zweiten Blick, die alle die gerne propagieren, die dann doch nicht bleiben, dominiert der harte und zugleich offene erste und deswegen immer auch fremde Blick das Buch. Schon deswegen ist es, trotz seines großen Umfang, unbedingt lesenswert.