München, 20. Juni 1962. Hunderte Jugendliche standen auf dem Wedekindplatz im damals noch nicht so noblen Schwabing und hörten ein paar Straßenmusikern zu. Es wurde spät, Anwohner beschwerten sich, die Polizei kam mit dem „kleinen Überfallkommando“ und räumte den Platz. Es kam zu einer Festnahme.
Am nächsten Tag wurden drei Straßenmusiker auf der Leopoldstraße festgenommen. Ihre Zuhörer versuchten. sie zu befreien. Die Situation eskalierte, es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen, die mehrere Tage andauerten und zu Demonstrationen mit über 10.000 Teilnehmern. Die Schwabinger Krawalle gelten bis heute als der Auftakt der 68er Bewegung. Sie waren auf den ersten Blick unpolitisch. Es ging nicht um Vietnam, wo zu diesem Zeitpunkt gerade einmal ein paar Hundert US-Soldaten stationiert waren, es ging nicht um die Aufarbeitung der Nazizeit und auch nicht um den Kapitalismus.
Es ging um das Recht, sein Leben zumindest ein paar Stunden lang so zu leben wie man es sich wünscht. An warmen Sommerabenden Musik zu hören, Spaß zu haben, selbst zu bestimmen. Und es ging um eine Polizei, die genau das verhindern wollte, weil es dem Ordnungsrecht widersprach.
Der Oberbürgermeister Münchens war damals ein Sozialdemokrat – Hans-Jochen Vogel. Er ist über jeden Verdacht erhaben, damals etwas gegen freie Meinungsäußerungen oder das Demonstrationsrecht gehabt zu haben. Aber Ordnung musste sein. Immerhin ging es ja auch darum, die Rechte der Anwohner zu schützen. Arbeitern, die morgens früh in die Fabrik mussten, Kindern, die schlafen wollten, Alten, die den Schlaf in den Sommernächten schon aus gesundheitlichen Gründen dringend benötigten. Es ging um Rücksichtnahme, darum geltendes, demokratisches Recht durchzusetzen und ein wenig sicherlich auch um Erziehung: Auch die jungen Leute, die wenigsten von ihnen werden zu den damals gerade aufkommenden Gammlern gehört haben, sollten den Respekt vor den Rechten der anderen lernen und war es nicht auch für sie besser, zeitig ins Bett zu gehen? Sie mussten doch sicher auch am nächsten Morgen aufstehen, mussten in die Universität, zu ihren Lehrstellen oder in die Schule.
Später, als der Jugendrevolte an Fahrt gewann, spielte das Ordnungsrecht kaum noch eine Rolle. Die Auseinandersetzung mit den 68ern, mit der späteren Anti-AKW-Bewegung oder auch den Hausbesetzern wurde politisch und über das Strafrecht geführt. Es waren deutlich härtere Konflikte. Die Linien der Gegner waren klar und sie schenkten sich nichts – weder im politischen Streit noch in den zum Teil militant geführten Auseinandersetzungen. Ein Konflikt, der über Generationen ging – bis in die Mitte der 80er Jahre. Es war ein Streit um Kernkraft, die Nutzung leerstehender Häuser, den Nato-Doppelbeschluss. Und immer hatte er zwei Komponenten: Ein politische und eine Strafrechtliche. Beide Komponenten besaßen ein ungeheures Eskalationspotential. In die Streitigkeiten und Auseinandersetzungen konnten sich beide Seiten beliebig reinsteigern.
So griff der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geissler 1983 die Grünen in einer Debatte um die Nachrüstungspolitik im Bundestag massiv an: „Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem heutigen unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht“.
Im Konflikt um die Startbahn-West schwärmte Anfang der 80er Jahre der SPD-Ministerpräsident Holger Börner davon, mit Dachlatten gegen Demonstranten vorgehen.
Die hatten davor wenig Angst und lieferten sich an jedem Wochenende im Frankfurter Stadtwald Scharmützel mit der Polizei.
Vorbei. Die offenen Auseinandersetzungen gibt es kaum noch. Sie sind, wenn sie noch stattfindet, in den meisten Fällen eine Reminiszenz. Ein Zitat von Konflikten vergangener Zeiten, retrohaft wie das Hören von Ton Steine Scherben- oder Abba-Platten.
Heute werden Konflikte im Geiste von Hans Jochen Vogel geführt. Niemand hat es mehr nötig, sich inhaltlich mit Protesten oder Subkulturen auseinanderzusetzen. Ob im Stadion, im besetzten Haus oder in der Kneipe: Ein erweitertes Ordnungsrecht ist die Grundlage für staatliches Handeln. Der Staat muss sich nicht mehr politisch rechtfertigen. Es reichen Verweise auf die Ordnung, auf die Ruhe, auf die Sicherheit und auf die Gesundheit.
Zum Beispiel Köln-Kalk. Dort wurde 2010 die Kantine eines alten Fabrikgebäudes besetzt, das im Besitz der Sparkasse war. Die bestand darauf, dass das Haus geräumt werden muss. Das ist nichts ungewöhnliches und war immer schon so. Die Begeisterung von Hausbesitzern, deren Haus besetzt wurde, hielt sich schon immer in Grenzen. Aber die Sparkasse argumentierte nicht mit ihren Eigentumsrechten. Der Welt am Sonntag sagte Jürgen Lange, Geschäftsführer der sparkasseneigenen RheinEstate GmbH: „Das Gebäude ist aus Sicherheitsgründen nicht als Veranstaltungszentrum zu nutzen. Die Stadt ist nicht bereit für die Umbaukosten aufzukommen, also bleibt uns kein anderer Ausweg als die Räumung – wenn die Besetzer nicht vorher die alte Kantine freiwillig verlassen.“
Es ging um eine große Glasscheibe im Foyer des Gebäudes – an ihr hätte sich ein Besetzer im schlimmsten Fall die Hand aufschneiden können. Eine Fürsorglichkeit, die frühere Besetzergenerationen sicher schmerzlich vermisst haben.
Als im Herbst 2011 in Duisburg eine leerstehende Schule besetzt und als Stadtteilzentrum genutzt werden sollte, drohte die Stadt wegen mangelndem Brandschutz mit der sofortigen Räumung des Gebäudes. Die Fachleute der Feuerwehr und des Ordnungsamtes erachteten die von den Besetzern mitgebrachten Branschutzvorhänge und Feuerlöscher für nicht ausreichend.
Doch das Ordnungsrecht ist nicht nur ein scharfes Schwert wenn es gegen Hausbesetzer geht:
Jugendzentren werden geschlossen, weil sich Anwohner über abendliche Konzerte stören, Clubs, weil Nachbarn die Gespräche von Besuchern auf der Straße lästig finden. Der Kneipe kommt man mit dem Rauchverbot bei und wenn das nicht hilft, entspricht die Küche nicht mehr den geforderten Gesundheitsstandards.
Früher wurden Ansammlungen von Punks von vielen Stadtväter und besorgten Bürger als Zumutung empfunden. Sie zu vertreiben galt jedoch als unschicklich und Zeichen von Provinzialität. Verbietet die Stadt allerdings Glasbierflaschen auf den Plätzen und wirft einen Blick auf die Steuermarken der Hunde, ist die Lokalpolitik auf der sicheren Seite und die Punks müssen von dannen ziehen.
Das Ordnungsrecht hat sich zum beliebtesten Repressionsinstrument entwickelt. Es war immer da, wurde auch immer zur Unterdrückung genutzt, nur nachdem sich ab den 60er Jahren eine gewissen Laissez-faire-Haltung breit gemacht hatte, war es ein wenig in den Hintergrund getreten. Ein paar Jahrzehnte erwarteten alle für alles politische Rechtfertigungen. Alles war politisch, auf dem Höhepunkt der Entwicklung sogar die Wahl des Geschlechtspartners, auch wenn es nur eine Entscheidung für eine Nacht war. Das ist vorbei. Es ist egal ob man eine Entscheidung politisch begründen kann oder nicht. Es ist egal, wie man sie dann ideologisch einordnet, ob sie als progressiv, reaktionär oder autoritär gilt. All das spielt keine Rolle. Die neuen Fetische stammen nicht aus dem alten, verstaubten Lexikon der Ideologien. Sie kommen aus dem Psychrembel, dem beliebten klinischen Wörterbuch. Es geht um Gesundheit, um Schutz, um Sicherheit, um Rücksicht. Sie liefern die Begründung die persönlichen Freiräume immer stärker einzugrenzen und jede Regelverletzung zu überhöhen. Denn gibt es etwas Wichtigeres als die körperliche Unversehrtheit? Ist nicht jeder Verstoß gegen dieses Recht ein heimtückisch daherkommender Anschlag auf das Leben? Und rechtfertig der nicht jede Sanktion? In Der Welt wurden in einem Artikel über die restriktive Gesundheitspolitik des New Yorker Bürgermeisters Michael Bloomberg die Freiheit und die Dummheit als klassisches Liebespaar bezeichnet.
Menschen die frei sind, das stimmt, machen dumme Sachen. Sie suchen sich die falschen Partner, essen das falsche Essen, sie rauchen, trinken, sitzen zu lange am Computer, machen zu wenig Sport, sie lesen die falschen Bücher, Zeitungen und Internetseiten. Sie hören laute Musik, die sie nur aufregt und auf dumme Gedanken bringt. Sie haben zweifelhafte Freunde, schlagen beruflich den falschen Weg ein, sind undankbar und unbeherrscht. Aber wer die Freiheit und die Dummheit, dieses grandiose Liebespaar, auseinanderreisst, wird die Menschen in ihr Unglück stoßen. Denn die Freiheit und die Dummheit waren es, welche als Paar die Menschen voran trieben. Sie sorgen dafür, dass der Neugierige alle Bedenken über Bord warf und sich auf zu neuen Ufern machte, ahnend, dass er sie vielleicht wird kaum erreichen können.
Die Angst ist das graue Tuch, da sich über dieses Paar wirft, ihr Versprechen ist die Sicherheit. Ein Versprechen, dass sie nicht wird halten können. Denn der Tod ist uns allen gewiss. Die Frage ist nur, wie wir die Zeit vor ihm verbringen: Frei oder in Angst. Und dabei geht es nicht nur um uns, es geht um die Gesellschaft in der wir leben wollen: „ Leben ist Unruhe, die durch exzentrische Einzelpersonen ausgelöst wird. Um diesem Leben zu entsprechen, muss die Gesellschaft Risiken eingehen, ja sogar ein gewisses Maß an Regelverstößen akzeptieren, wenn die Gesellschaft leben will muss sie Gefährlich leben“ sagte einmal der britische Anarchist Herbert Read. Und er hatte Recht.
Stefan, R e c h t hatte der Anarchist Read sicher nicht und auf R e c h t hätte er sich als Anarchist vermutlich auch nie berufen. Was er meinte, ist nach Deiner Auffassung r i c h t i g -sorry-.
Das R e c h t steht in den von Dir skizzierten Sachverhalten in der Regel auf Seiten der Verwaltung, z.B. der Ordnungs- und Polizeibehörden. Und dieses Recht sieht regelmäßig nicht nur die Möglichkeit eines ordnungs-/polizeilichen Handelns vor, sondern ein R e c h t s p f l i c h t für die Behörden, tätig zu werden.
Wer sich mehr oder weniger anarchistisch wider das Recht stellt, wer also fahrlässig oder vorsätzlich rechtswidrig handelt, riskiert dabei ordnungs-bzw. polizeirechtliche Maßnahmen gegen sich und nimmt strafrechtliche Konsequenzen in Kauf.Für Anarchisten, für Revolutionäre ist das alles selbstverständlich.Und das sollte auch für die vielen heutigen “ Möchtegern-Revolutionäre“ oder „Alltagsanarchisten“ selbstverständlich sein. Wenn „man“ Glück hat, reagieren die Ordnungs-/Polizeibehörden nicht oder verhältnismäßig harmlos. Aber auf solches Glück ist bekanntlich kein Verlass und berufen kann man sich schon gar nicht darauf.
Stefan, ich stimme Dir „ohne Wenn und Aber zu“, wenn es um das persönliche Recht, die pers.Freiheit geht, im Privaten jederzeit Dummes tun zu können, also vor allem auch das Dumme, das Falsche, was die Gesellschaft mehrheitlich für dumm, für falsch hält. Darin liegt ja auch der Reiz, etwas Dummes, etwas Falsches zu tun -jedenfalls für mich-.
Und damit wären wir wieder bei einem Grundproblem angekommen , bei den Ruhrbaronen immer wieder diskutiert:
Muß der Staat jedem privaten Tun/Nichtstun, das die Gesellschaft mehrheitlich für dumm hält, das sie mehrheitlich für falsch hält,mit staatlichen Geboten/Verboten begegnen?
Ich sage dazu grundsätzlich N e i n.
Nur mein grundsätzliches N e i n ist uninteressant, es ist unwichtig, wenn in demokratischen Willensbildungsprozessen mit abschließenden parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen, weil m e h r h e i t l i c h durch die Gesellschaft so gewollt und so gefordert, Gegenteiliges durchgesetzt wird.
Dazu hast Du zahlreiche Beispiele genannt. Es werden weitere dazu kommen. Nicht, weil der Staat, die staatlichen Organe, „von sich aus“zunehmend regelungs-reglementierunswütiger geworden sind, sondern weil wir, die Gesellschaft, weil gesellschaftlich relevante Interessensgruppen nach immer mehr Regeln durch den Staat rufen.
Wir selbst sind es , die zunehmend dazu neigen, privaten Freiheiten immer mehr Schranken zu setzen bzw. durch den Staat setzen zu lassen, eben auch der Freiheit, etwas aus der Sicht anderer Menschen Falsches bzw.Dummes tun zu dürfen, ja, unserer persönlichen Freiheit wegen sogar tun zu müssen.
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