Vor zehn Jahren wurde Mehmet Kubaşık in der Dortmunder Nordstadt erschossen. Verantwortlich für diesen Mord, neun weitere und mindestens zwei Bombenanschläge waren – so wurde erst Jahre später öffentlich bekannt – Neonazis um den „Nationalsozialistischen Untergrund“. Der NSU-Komplex offenbarte Strukturen in deutschen Sicherheitsbehörden, die mindestens in diesem Fall von Ignoranz, Vertuschen und Versäumen geprägt waren – und er offenbarte, dass es für Rassismus in einer Gesellschaft keine Nazis braucht. In Dortmund wird heute der Opfer des NSU gedacht.
„Spekuliert wird, ob Mafia-Killer aus dem Drogenmilieu dahinter stecken, die Abtrünnige liquidieren; Auftragsmorde sind denkbar“, stand am 7. April 2006 in der Westfälischen Rundschau. Drei Tage vorher war der Kiosk-Betreiber Mehmet Kubaşık in der Mallinckrodtstraße in der Dortmunder Nordstadt ermordet worden. Schon bald war klar: Mit der selben Waffe waren schon andere türkei- oder griechenlandstämmige Geschäftsleute in Städten in ganz Deutschland erschossen worden. Der leitende Staatsanwalt schloss damals, „dass es sich um einen Schlusspunkt unter einer Auseinandersetzung zwischen Gewerbetreibenden handelt.“
Es waren keine Gewerbetreibenden, sondern Neonazis, die von 2000 bis 2007 neun Geschäftsmänner und eine Polizistin ermordeten und mindestens zwei Bombenanschläge verübten. Erst 2011 wurde der rassistische Hintergrund der Serie bewiesen – nicht etwa wegen erfolgreicher Ermittlungen, sondern weil der NSU sich selbst enttarnte.
Seitdem wird viel über ein Versagen der Sicherheitsbehörden gesprochen, über Versäumnisse, schlechte Kommunikation, und über die Unterstützung, die das Kerntrio aus der rechten Szene in Dortmund und den anderen Städten gehabt haben muss. Ein Punkt wird aber noch immer zu wenig beleuchtet, sagt der Rechtsanwalt Carsten Ilius: dass dieses Versagen Teil des Systems ist. „In Dortmund, und unabhängig voneinander auch in allen anderen Städten, wurde in strukturell rassistischer Weise gegen die Betroffenen ermittelt.“
Kriminalisiert, ignoriert
Ilius vertritt Elif Kubaşık, die Ehefrau des Getöteten, als Nebenklägerin im Münchener Prozess und ist überzeugt: „Das, was in Dortmund passierte, ist beispielhaft für die Problemlage.“ Denn bei der Suche nach den TäterInnen waren Drogenhandel, Mafiastrukturen oder Tätigkeiten der PKK die ersten Ermittlungsansätze. Zwei Jahre lang wurde das komplette Umfeld der Familie ausgeleuchtet, Angehörige immer wieder befragt, ob Mehmet Kubaşık eine Geliebte hatte oder Kontakte zur PKK. In einem Interview schilderte die Ehefrau 2014, sie sei befragt worden, ob es sich um eine Blutfehde handeln könne, schließlich komme die Familie ja aus der Osttürkei. Dass Mehmet Kubaşık ermordet wurde, weil er selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen war, war für die ErmittlerInnen der einzig mögliche Schluss. Das passierte nicht nur in Dortmund: Die Betroffenen des Nagelbombenattentats in der Kölner Keupstraße wurden 2004 genauso zu Unrecht verdächtigt wie der Nürnberger Blumenhändler Enver Şimşek, dem Kontakte zu Drogenhändlern und einer „Schnittblumenmafia“ unterstellt wurden.
Ein rechtes Motiv allerdings wurde, auch in Dortmund, ignoriert, trotz der Hinweise, die es gab: trotz der Zeugin, die zum Tatzeitpunkt zwei Männer mit einem Fahrrad gesehen hatte, die sie als „Junkies oder Nazis“ beschrieb. Trotz der Operativen Fallanalyse, einer Art Psychogramm, die die TäterInnen als „unorganisiert/fremden- bzw. türkenfeindlich“ charakterisierte. Angehörige von Mehmet Kubaşık und dem Kasseler Mordopfer Halit Yozgat haben auf Schweigemärschen mit dem Titel „Kein 10. Opfer“ auf einen möglichen rechten Hintergrund hingewiesen. Doch es passierte nichts. Weil es nur eine Arbeitshypothese gewesen sei, es aber keine konkreten Ansätze gegeben habe, sagte der Leitende Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper im Januar vor dem NRW-Untersuchungsausschuss. Und weil sich die Dortmunder Neonaziszene ja vor allem auf den Stadtteil Dorstfeld beschränke.
Ein gesamtgesellschaftliches Phänomen
Nach einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Verbreitung rechter Einstellungen fühlen sich 18 Prozent – fast ein Fünftel der deutschen Bevölkerung – „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“ Weitere 19 Prozent stimmen dieser Aussage zumindest teilweise zu. Mehr als 1.000 Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte hat das Bundeskriminalamt 2015 gezählt. In Escheburg wurde im Februar 2015 Feuer in einer solchen gelegt, in Altena drang im Oktober ein Mann in ein Wohnhaus ein, in dem sieben Geflüchtete wohnten, legte auf dem Dachboden Feuer und schnitt die Leitung zum Brandmelder durch. Die Täter: ein Finanzbeamter und ein Feuerwehrmann, nicht als rechtsradikal bekannt. Die ganz normale Mitte. Um diese Mitte geht es aber, sagt Ilius, denn sie konstituiert staatliche und gesellschaftliche Institutionen, Polizei, Behörden, Bildungseinrichtungen, Medien. Sie prägt die Regeln – und wird von ihnen geprägt –, die MigrantInnen als fremd, nicht gleich, kriminell konstruieren.
Als der Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU 2013 seinen Abschlussbericht vorlegte, diagnostizierten NebenklagevertreterInnen, dass institutioneller Rassismus bei der Aufarbeitung zu wenig thematisiert wurde. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte kam im Staatenbericht des UN-Antirassismus-Ausschusses zu dem Schluss: „Ob Formen institutionellen Rassismus in Ermittlungsbehörden eine wirksame Aufklärung dieser Taten behinderten, wird bislang in der Aufarbeitung unzureichend thematisiert.“ Wie diese Aufarbeitung funktionieren kann? 1997 befasste sich eine Untersuchungskommission in England mit den Ermittlungen zum Tod von Stephen Lawrence, der 1993 in London erstochen worden war, und untersuchte, ob rassistische Strukturen innerhalb der Polizei die Ermittlungen behinderten. Im Bericht dieser Kommission, der als Macpherson-Bericht bekannt wurde, stand am Ende, dass der Mord „eindeutig durch Rassismus motiviert“ und die Polizeiarbeit durch „Inkompetenz und Rassismus“ geprägt war.
Nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 habe er sich gefragt, ob er auf das rassistische Motiv hätte kommen können, sagte Staatsanwalt Artkämper im Januar vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf. Doch er habe keinen Fehler in den Ermittlungen feststellen können, auch nicht mit dem Wissen von heute.
Im Februar wurde bekannt, dass die Polizei nach der Entführung eines Kleinkindes im vergangenen Oktober aus dem Berliner LaGeSo mehrere Tage lang in die falsche Richtung ermittelt hatte. Sie hatte zuerst die Familie verdächtigt, die Entführung nur vorzutäuschen, um nicht abgeschoben zu werden.
Dieser Text erschien im März 2016 im Straßenmagazin bodo.
Tag der Solidarität
Ein Bündnis aus rund 30 Organisationen und Initiativen gedenkt am heutigen Tag der Solidarität Mehmet Kubaşık und allen Opfern des NSU. Die Demonstration beginnt um 17.30 Uhr an der Mallinckrodtstraße 190, um 19.30 Uhr beginnt in der Auslandsgesellschaft NRW eine Podiumsdiskussion zu „NSU und Rassismus“.
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