Der Bochumer Historiker Klaus Tenfelde, Professor für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum und zugleich Leiter des Instituts für soziale Bewegungen arbeitet an einer Geschichte des Ruhrgebiets. In diesem Jahr hofft er das Werk abzuschließen.
Foto: Klaus Tenfelde
Die Geschichte des Ruhrgebiets begann in Kalkriese. Dort, im Osnabrücker Land, fand im September des Jahres 9 nach der damals von niemand beachteten Geburt Christi die Schlacht zwischen einem Heer aus verschiedenen germanischen Stämmen und drei römischen Legionen statt. Die Gegenspieler: Arminius, ein Cheruskerhäuptling, der Jahrhunderte später zu Hermann dem Cherusker verklärt werden sollte, und der römische Senator Publius Quinctilius Varus. Die Schlacht endete mit einer verheerenden Niederlage der Römer. Und die hatte Konsequenzen: Die Großmacht gab ihre östlich des Rheins gelegenen Stellungen wie Haltern an der Lippe auf. Der Rhein wurde für Jahrhunderte zu einem Grenzfluss.
Geschichtswerk
Mit der Errichtung dieser römischen Grenze begann die Geschichte des Ruhrgebiets, auch wenn sich die Region damals nicht von anderen Landstrichen unter germanischer Herrschaft unterschied. „In dem Text Über Ursprung und Leben der Germanen von Tacitus finden wir die erste schriftliche Erwähnung der Region, die später einmal das Ruhrgebiet werden sollte“, erklärt Professor Dr. Klaus Tenfelde. „Und mit schriftlichen Dokumenten beginnt die Geschichte, alles davor ist Archäologie.“
Tenfelde ist Professor für Sozialgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des Instituts für soziale Bewegungen. Im kommenden Jahr wird er sein Buch über die Geschichte des Ruhrgebiets veröffentlichen. Zwölf Kapitel auf 600 Seiten wird das Werk umfassen. Zusätzlich gibt Tenfelde das Historische Lesebuch Ruhrgebiet heraus mit einem Umfang von 18 Kapiteln und 900 Seiten in zwei Bänden. Noch nie wurde die Geschichte des Ruhrgebiets in ihrer Gänze so umfassend wissenschaftlich über alle Epochen hinweg beschrieben. Beide Werke sind nicht nur von regionalhistorischem Interesse – dafür ist die Bedeutung des Ruhrgebiets für die deutsche Geschichte zu groß. Was im Ruhrgebiet geschah, hatte spätestens seit der Mitte des vorletzten Jahrhunderts mindestens deutschland- und oft europaweite Bedeutung.
Grenzland
Davon war das Ruhrgebiet in seinen Anfängen allerdings weit entfernt. Erst einmal war es Grenzland – und die wichtigen Entwicklungen geschahen auf der anderen Seite. Mit dem Toleranzedikt von Nikomedia, das die Christenverfolgung im römischen Reich beendete, begann sich westlich des Rheins ab 311 die Christianisierung zu beschleunigen.
Trier und Köln waren schon Bistümer, Mainz wurde es kurz darauf. Doch mit dem Ende des weströmischen Reiches zu Beginn des fünften Jahrhunderts endete in Germanien die Christianisierung – zumindest vorübergehend.
Erst im achten Jahrhundert wurde auch östlich des Rheins und damit auch im Ruhrgebiet mit militärischer Unterstützung des Frankenkönigs Karls des Großen massiv missioniert.
Um 800 gründete Liudger in Werden das erste Kloster der Region. Kurz darauf folgte die Gründung des Bistums Münster.
Unter dem Schutz der Franken weitete sich das Christentum aus. Tenfelde: „Die heutige Trennung Nordrhein-Westfalens in die beiden Landschaftsverbände Rheinland
und Westfalen geht auf die Antike zurück, auch wenn die heutigen Grenzen den damaligen
nicht ganz entsprechen.
Das Rheinland ist das ehemalige römische Herrschaftsgebiet, das heutige Westfalen der Raum, in dem die germanischen Stämme herrschten, über die wir noch immer kaum etwas wissen, weil sie keine Texte hinterlassen haben und weil die Römer sich nur wenig Mühe gaben, sie differenziert
zu betrachten. Für sie waren das alles nur Barbaren.“
Stadtlandschaft
Im Heberegister des Klosters Werden werden erstmals Ruhrgebietsstädte wie Throtmanni (Dortmund), Altenbochum und Hernes (Herne) erwähnt.
Doch die Mönche des Klosters, deren zum Teil auch weltliche Macht bis ins 19. Jahrhundert andauerte, waren nicht die einzige Macht im späteren Ruhrgebiet, das damals, so Tenfelde, begann eine Stadtlandschaft zu werden. Aus den kleinstädtischen Strukturen ragte schon früh Dortmund heraus. Dortmund war Freie Reichsstadt, und die Verfassung, die sich seine Bürger im Hochmittelalter gaben, war Vorbild für etliche andere Städte. Die große Zeit Dortmunds endete erst mit dem 30-jährigen Krieg: „Von diesen Zerstörungen hat sich die Stadt bis zur Industrialisierung nicht mehr erholt. 80 Prozent der Einwohner starben, die Stadt wurde mehrmals verwüstet“, erklärt Tenfelde.
Auch nach dem 30-jährigen Krieg hörten die Feldzüge nicht auf, aber Geschichte fand woanders statt. Zwar war das Ruhrgebiet eine relativ besiedelte Region mit zahlreichen kleineren Städten, aber mit der Bedeutung süddeutscher Stadtregionen konnte man nicht mithalten. Daran änderte auch der Abbau von Kohle nichts, der schon für das 13. Jahrhundert nachgewiesen werden kann. Kohle wurde nur in geringen Mengen gefördert und war als Brennstoff auch längst noch nicht begehrt. So probierten die Kölner Bäcker zwar in der frühen Neuzeit Kohle zur Befeuerung ihrer Backöfen aus, setzten dann aber wegen der Geruchsbelästigung oft wieder auf Holzkohle.
Kohleförderung
„Die Kohleförderung im Mittelalter dürfen wir uns nicht so vorstellen wie in der Zeit der Industrialisierung. Es wurden nur geringe Mengen Kohle benötigt und entsprechend wenig wurde vor allem im Tagebau und in sehr kleinen Stollen abgebaut. Es fehlten die Abnehmer für die Steinkohle.
Das änderte sich mit zwei Erfindungen, die wie ein Katalysator für die Industrialisierung waren und eng zusammenhingen: Die Dampfmaschine und die Eisenbahn. „Die Eisenbahn führte zu einer großen Nachfrage-Steigerung an Stahl für Schienen. Das sorgte wiederum für eine Steigerung der Kohleproduktion, denn Kohle brauchte man für die industrielle Stahlproduktion.
Und auch die Züge benötigten Kohle. Im Vergleich mit England kam die Industrialisierung
in Deutschland mit erheblicher Verzögerung in Gang, doch sie sorgte dafür, dass das Ruhrgebiet entstand, das wir heute kennen.“ Noch Anfang des 19 Jahrhunderts wohnten im heutigen Ruhrgebiet kaum mehr als 200.000 Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ihre Zahl auf mehr als vier Millionen gestiegen. In den alten Kernstädten des Ruhrgebiets waren die Veränderungen anfangs kaum zu spüren.
Tenfelde: „Die neuen, großen Industriegebiete entstanden nicht innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern von Dortmund, Essen oder Duisburg, sondern vor deren Stadttoren: In Hörde, Altendorf, Stahlhausen oder Marxloh entstanden die ersten großen Stahlwerke und Zechen.
Kleine Orte wie Gladbeck wuchsen von Dörfern mit wenigen hundert zu Städten mit 80.000 Einwohnern heran.
Zuwanderung
An den Sozialstrukturen änderte sich jedoch zuerst wenig: „Die alten Eliten behielten lange Zeit das Ruder in der Hand. Zwar änderten sich innerhalb sehr kurzer Zeit die Lebensumstände, aber als Ansässige profitierten sie von der Industrialisierung.
Wer Grund und Boden besaß, konnte sehr schnell reich werden. Zum einen stiegen die Grundstückspreise, zum anderen erweiterte sich der Markt für die Händler und Handwerker. Politisch konnten sie ihre Macht durch das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht erhalten. Die meisten Zugewanderten durften nicht wählen – erst ab etwa 1900 verdiente ein Arbeiter so viel, dass er steuerpflichtig und damit auch wahlberechtigt wurde.“
Mit der Industrialisierung begann sich das Ruhrgebiet von seiner Umgebung zu unterscheiden, es entstand ein Ballungsraum mit Millionen von Menschen, die begannen, ein neues Kapitel in der Geschichte der Region zu schreiben. Die alten Bezüge Westfalen und Rheinland fingen an, ihre Bedeutung zu verlieren. Etwas Neues war dabei, zu entstehen. Doch die Zuwanderung in das Ruhrgebiet verlief nicht linear: Boomphasen wurden von Krisen wie der Rezession von 1874 abgelöst. Und längst nicht alle, die kamen, blieben: Millionen arbeiteten für eine kurze Zeit im Revier und verließen es wieder. Eine Familie zu gründen, war nicht einfach: In Essen kamen um 1860 auf 100 Männer im heiratsfähigen Alter kaum 60 Frauen.
Rationalisierung
Besonders hoch war die Fluktuation unter den Polen. 450.000 von ihnen lebten zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 im Ruhrgebiet.
Sie kamen aus dem preußischen Teil Polens, das als Staat erst 1919 wieder gegründet wurde. „Die Polen hatten nach dem Versailler Vertrag drei Möglichkeiten: Sie konnten im Ruhrgebiet bleiben, sich in Europa einen neuen Wohnort suchen oder nach Polen zurückkehren.“ Sie entschieden sich zu gleichen Teilen für die verschiedenen Optionen.
In den 20er Jahren wuchs das Ruhrgebiet weiter – und wurde immer wieder von Krisen wie dem Ruhrkampf 1920 und der Ruhrbesetzung 1923 erschüttert.
Als sich Deutschland Mitte der 20er Jahre dem Weltmarkt öffnete, begann eine erste Entlassungswelle im Bergbau. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, schlossen die Bergbau-Unternehmen nicht nur zahlreiche kleinere Zechen, sie rationalisierten auch massiv in den großen Bergwerken. Am ständigen Anwachsen der Bevölkerung änderte das jedoch nichts.
Benachteiligung
Unter den Nazis litt das Ruhrgebiet stark. Die Strukturen der Arbeiterbewegung, egal ob sozialdemokratisch, kommunistisch, anarchistisch oder katholisch, wurden brutal zerschlagen. Tausende von Oppositionellen starben in den Konzentrationslagern.
Im Krieg war das Ruhrgebiet als eines der wichtigsten Zentren der Rüstungsindustrie Ziel der alliierten Bomberverbände. Wie alle deutschen Ballungsgebiete wurde es zum größten Teil zerstört.
Nach dem Krieg konnte die Industrie jedoch schnell wieder aufgebaut werden. Der wirtschaftliche Wiederaufstieg des Ruhrgebiets begann – bis in den 50er Jahren die Krise des Bergbaus begann.
„Die war zwar ein großer Einschnitt, aber bis in die 80er Jahre hinein war die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet kaum höher als im Bundesdurchschnitt und die Produktivität des Ruhrgebiets sogar überdurchschnittlich.
Erst seit der Wiedervereinigung geht es mit der Region bergab.“ Das ist kein Zufall, sagt Tenfelde, denn auch die öffentlichen Investitionen fließen seitdem verstärkt in den Osten und nicht ins Ruhrgebiet: „Wir haben eine strukturelle Benachteiligung, das muss sich ändern, um einen Kurswechsel im Ruhrgebiet zu erreichen.“
Wandel
Die Veränderungen seien nicht das größte Problem: „Wir sind den Wandel von Strukturen
gewohnt wie keine zweite Region. Wir können damit umgehen.“ An seinen Problemen, so Tenfelde, sei das Ruhrgebiet zum Teil selbst schuld: „Lange Zeit war es politisch nicht gewollt, dass Wohneigentum entsteht. Der Mieter war das Ideal. So hat das Ruhrgebiet über viele Jahrzehnte die Aufsteiger aus dem Facharbeiter-Milieu, die es gebraucht hätte, an sein Umland verloren.“
Aber im Alter, da ist sich Tenfelde sicher, werden sie zurückkommen: „Der nächste Wandel, der auf das Ruhrgebiet wartet, ist der demografische Wandel. Hier haben wir eine Vorreiterfunktion innerhalb der traditionellen Industrieländer. Wir sollten das nicht als Katastrophe sehen, die auf
uns zukommt, sondern als eine Chance, die wir ergreifen müssen. Aber wir werden das schaffen. Im Wandel sind wir Profis.“
Throtmanni gefällt mir. Manni aus Throtmanni, passt doch. Ist wohl auch die Wurzel von Tremonia?