Der 1. Oktober 1982 war ein schöner Tag. Ich hatte unterrichtsfrei. Der Grund war die Wahl Helmut Kohls zum Buneskanzler.
Fast alle schauten sie betroffen, ängstlich und auch ein wenig wütend, nur der dicke Müller nicht, der war in der CDU. Als Geschichtslehrer! Für die Lehrer meines Gymnasiums, die meisten waren sozialdemokratischer Gesinnung, war der 1. Oktober 1982 ein schwerer Tag: Nun ging sie endgültig zu Ende, die sozialliberale Koalition. Die CDU würde mit Hilfe der verräterischen FDP die Macht zurück erringen, die sie 13 Jahre zuvor an Willy Brandt verloren hatte. Zwar pappten noch zwei Jahre zuvor, als Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat gegen Helmut Schmidt antrat, auf dem Schulklo überall „Schmidt oder Strauß = Pest oder Cholera“-Aufkleber, doch das war eher ein Spaß. Der war vorbei. In den Tagen vor der entscheidenden Kanzlerwahl wurde uns Schülern in fast allen Fächern vermittelt, was nun auf Deutschland zukommen würde: Eine finstere Zeit der Restauration, soziale Härten ungeahnten Ausmasses, ein neuer, noch eisigerer kalter Krieg, ja vielleicht sogar ein heißer. Die SPD war die Friedenspartei, für den Ausgleich mit unseren Nachbarn, auch denen, mit den billigen Klamotten im Osten, die immer die alten Jeans zugeschickt bekamen. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die CDU und ihr neuer Bundeskanzler Helmut Kohl wieder die Panzer gen Osten rollen lassen würden. Böse sein konnte man ihm aber irgendwie nicht dafür, denn, so wurde uns erklärt, Kohl sei so dumm, dass er die Folgen seines schändlichen Handels kaum abschätzen könne. Das uns der Biologielehrer nicht auf ein unmittelbar bevorstehendes Artensterben vorbereitete, war alles.
Es gab nur noch eine Hoffnung und das war ausgerechnet die FDP. Vielleicht, so raunte es durch die Gänge des Gladbecker Heisenberg Gymnasiums, gäbe es ja da noch den einen oder anderen charakterstarken liberalen Abgeordneten, der ein Gewissen habe, der nicht dem gierigen Grafen Lambsdorff in die konservative Knechtschaft folgen und gegen Kohl stimmen würde.
Als wir uns im Physiksaal vor dem Fernseher versammelten, um dem Wahlgang zu verfolgen, lag Spannung in der Luft. Noch war Deutschland, noch waren der Frieden und die soziale Gerechtigkeit nicht ganz verloren. Sollte dieser 1. Oktober der Tag der Wunder werden?
Nein, Helmut Kohl gewann die Abstimmung im Bundestag. Es war das erste erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik. Misstrauen – das passte. Als wir auf den Schulhof gingen um Zigaretten zu drehen – noch hatten wir ja Tabak und unsere Eltern Arbeit – waren wir sicher, dass der Spuk bald vorbeigehen sollte. Kohl wird, wenn nicht vorher ein Atomkrieg ausbrechen oder er mit Hilfe der Bundeswehr und der Notstandsgesetze eine Diktatur errichten würde, bald abgewählt werden. Er sollte 16 Jahre Kanzler bleiben. Das Land überstand seine Kanzlerschaft bekanntlich nur um Haaresbreite.
„… und wem der Kohl nicht passt, der kann auch nach drüben gehen!“
So ähnlich klang es damals ca. 10 km weiter nördlich am Petrinum, dem städtischen Gymnasium in Dorsten. Dorsten ist von Tradition aus schwarz. Meine damaligen Lehrer in den Fächern Englisch, Latein und Erdkunde waren alle drei gestandene CDU Mitglieder. Der eiserne Vorhang verlief mitten und Deutschland und ein klein bisschen auch zwischen den Städten Dorsten und Gladbeck.
Mein Gott waren beide Seiten dämlich. Etwas anderes fällt mir als Kommentar nicht ein.
Helmut Kohl? War das nicht der Kanzler der die Schulden unseres Landes in 16 Jahren von 158 auf 488 Milliarden gebracht und damit mehr als verdreifacht hat?
ich war damals 9 und stand voll hinter Kohl.
Immerhin gabs in der Zwischenzeit folgende Entwicklungen
– 16 Jahre geschichtsträchtige Politik ohne Fundament
– blühende Landschaften im Ruhrgebiet auf den Halden
– einen Ruck mit einem dicken Bundespräsidenten,
– daraufhin notgedrungen die Ruckreformen der rot-grünen Regierung
– die Reichen sind dünner, haben aber mehr auf dem Konto,
– die Armen sind so dick wie Kohl und haben kaum noch eine Chance
Es ist zwar nicht Kohl für alles verantwortlich, aber er hat es letztendlich doch geschafft, die geistig-moralische Wende einzuläuten.
Er wird nun aber in die Geschichte eingehen als der Kanzler der deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Die gesellschaftlichen Folgen der Politik Kohls will kaum einer wahrnehmen.
Kanzler der Einheit ist natürlich sehr geschmeichelt.
Noch im Sommer 1989 schoss Herr Kohl den Abgeordneten Todenhöfer ab, weil die CDU die Forderung nach der Wiedervereinigung aus ihrem Programm nehmen wollte und Todenhöfer dagegen massiv opponierte.
Zur gleichen Zeit äußerte sich Kohl in einem Interview mit der franz.Zeitung „Le Figaro“, er wäre der letzte Kanzler, der sich einer Wiedervereinigung in den Weg stellen würde.
Als der Bundestag in einer großen Debatte zur gleichen Zeit die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und damit auf 1/3 Deutschlands verzichtete, prahlte der Kanzler der Einheit, das wäre sein größter politischer Erfolg.
Wie sein damaliger Pressesprecher in seinem Buch schrieb, fiel die Mauer Herrn Kohl vor die Füße.
Sonst nichts.
Herr Lafontaine SPD und der spätere Außenminister Fischer hätten sich wahrscheinlich aber noch nicht einmal gebückt, das unterschied sie von Herrn Kohl, der so sein politisches Überleben noch einmal um 8 Jahre verlängern konnte.
Kurz nach der Wahl Helmut Kohls bin ich bei irgendeiner Veranstaltung, die ich leider verdrängt habe (wahrscheinlich gegen AKWs, Nachrüstung oder sonstwas), auf Erhard Eppler getroffen, der seinem eifrig nickenden Publikum leichenbitterisch erklärte: „Herr Kohl wird sicherlich nicht als einer der großen Kanzler in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen.“
Diese Begebenheit fiel mir neulich wieder ein. Lassen wir die aktive historische Bedeutung Kohls einmal dahingestellt sein. Aber auf die Treffsicherheit linker Polit-Horoskope gebe ich nicht erst seit damals gar nichts: Geschichte ist leider doch eher von Zufällen als von angeblich objektiven Gesetzen abhängig.