Als wir vor einem Jahr die Silvesterpartys vorbereiteten, den Sekt in den Kühlschrank stellten und versonnen auf die für den Abend gelagerten Bierkisten blickten, ahnte niemand von uns, dass 2020 das Jahr sein würde, in dem eine Pandemie unser Leben radikaler verändern würde, als wir es uns je hätten vorstellen können. Wir hatten Angst, haben getrauert, gehofft, uns diszipliniert und waren wütend. Was für ein Jahr.
Wer nach dem zweiten Weltkrieg das Glück hatte, in Westeuropa aufzuwachsen, kannte Katastrophen nur aus den Erzählungen von älteren Verwandten und aus Büchern oder Filmen. Sicher, es gab Probleme, wir hatten Sorgen, es ging uns auch nicht allen immer gut, aber eine Krise in dem Ausmaß, wie wir sie zurzeit erleben, war uns bis Anfang 2020 erspart geblieben.
Westeuropa kannte keinen Krisenmodus, weder die Menschen noch die Politik waren auf das vorbereitet, was auf uns zukam. Ja, irgendwo in China war ein neues Virus aufgetaucht, aber kam das nicht immer mal wieder vor? Blöd für die Chinesen, aber China war weit weg. Und dass die Menschen in anderen Ländern immer mal wieder Schwierigkeiten hatten, dass kannten wir schon. Am Ende spendet man vielleicht etwas und die Bundesregierung würde ein Flugzeug mit Hilfsgütern schicken. So what?
Es kam anders. Im Februar wurde uns klar, dass da etwas auf uns zukommt. Und es wurde auch klar, dass wir dem neuen Virus nichts entgegen zu setzen hatten: Keine Medikamente, keine Impfung. Abstand halten, Hände waschen und – als es sie endlich zu kaufen gab – Maske tragen, war alles, was wir tun konnten. Dann schlossen die Clubs und Kneipen, machten die meisten Geschäfte zu, stellten die Schulen ihren Betrieb ein. Spätestens jetzt war jedem denkenden Menschen das Ausmaß der Krise klar.
Schaut man in der Geschichte zurück wird einem schnell bewusst, dass es kaum jemals eine Generation gab, die keine große Katastrophe zu ihren Lebzeiten mitgemacht hat. Kriege oder Seuchen gab es immer. Nun hatte es uns erwischt. Eigentlich war es keine Überraschung, aber es fühlte sich trotzdem nicht gut an.
1,8 Millionen Menschen sind bislang weltweit an Corona gestorben, 82 Millionen Menschen erkrankt. In der Bundesrepublik sterben zurzeit um die Tausend Menschen am Tag. Trotz Lockdown sind die Infektionszahlen in Europa nach wie vor hoch. Neben den USA ist die Europäische Union längst das globale Zentrum der Krise. Die asiatischen Staaten, auch die demokratischen wie Südkorea, Taiwan oder Japan, haben die Lage ebenso besser in den Griff bekommen wie die meisten afrikanischen Länder. 2020 ist auch das Jahr, in dem die europäische Arroganz ihr Ende fand. Deutschlands Gesundheitsämter hinken bei der Digitalisierung denen in Nigeria hinterher. Die Auswirkungen jahrzehntelanger Technikfeindlichkeit kosten Leben. Zurzeit befindet sich die Bundesrepublik im Blindflug. Es gibt keine zuverlässigen Zahlen über das aktuelle pandemische Geschehen. Erst Mitte Januar werden wir wissen, wo wir stehen.
Wissenschaft
2020 hat sich allerdings auch gezeigt, dass die Rettung weder von Betroffenheitspredigern oder Aktivisten kommt, sondern aus der Wissenschaft. Dem von dem Mainzer Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci gegründeten Unternehmen Biontech gelang die Entwicklung des weltweit ersten Impfstoffs.
Gentechnik. Auch etwas, was lange niemand hier haben wollte. Der Biontech-Impfstoff war der erste, ihm werden weitere folgen: Naturwissenschaftler, Informatiker und Mediziner sind dabei, den Kampf gegen Corona zu gewinnen. 2020 war das Jahr, in dem die Wissenschaft über ihre Kritiker triumphierte. Eine Lehre sollte sein, künftig mehr Geld in Naturwissenschaften, Medizin und Informatik zu investieren und weniger in postmoderne Modefächer wie Gender-Studies, Postcolonial Studies und Kulturwissenschaft. Europa muss digitaler werden, es braucht mehr Programmierer und weniger NGOs, die sich jeder technischen Entwicklung entgegenstellen und Panik verbreiten. Der maßlose Datenschutz hat sich auch im im Kampf gegen Corona als Hemmnis erwiesen.
Föderalismus
Durch die erste Corona-Welle kam die Bundesrepublik verhältnismäßig gut durch. Nicht so gut wie Südkorea und Japan, aber besser als Frankreich, Großbritannien und die USA. Doch schon Carl von Clausewitz, wusste: “Es gibt nur einen Erfolg, nämlich den Enderfolg. Bis dahin ist nichts entschieden: nichts gewonnen, nichts verloren. Hier muss man sich beständig sagen: Das Ende krönt das Werk.” In der zweiten Welle hat die Bundesrepublik versagt und das lag auch am Föderalismus. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) konnte sich im Oktober nicht mit ihrer Forderungen nach härteren Maßnahmen durchsetzen. Sie scheiterte an den Ministerpräsidenten, die im Gegensatz zu ihr, der promovierten Physikerin, kaum in der Lage waren, Statistiken und Prognosen in ihrer Tragweite zu erfassen. Brechen an eine Waldorfschule in Bochum die Masern aus, ist es die Aufgabe der Stadt zu handeln. Zu viel Neuschnee in den Alpen ist das Problem Bayerns. Aber ein Pandemie, die das ganze Land erfasst, muss Sache des Bundes sein. Die hohen Infektionszahlen sind auch der Preis, den wir für den Föderalismus zahlen. Nach der Pandemie müssen ihm Grenzen gesetzt werden.
Europäische Union
Die Staate der Europäischen Union wollten mitten in der Pandemie beweisen, dass Multilateralismus dem nationalen Handeln überlegen ist, dass sie besser durch die Pandemie kommen als die USA und Großbritannien. Man legte den Kauf der Impfstoffe in die Hand der Europäischen Union und ihrer Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das erwies sich als ein Fehler von historischem Ausmaß: Während in Israel, Großbritannien und den USA bereits massiv geimpft wird, drei Staaten, die nicht gerade Leuchttürme des Multilateralismus sind, hinken die EU-Staaten hinterher. Die EU lässt sich mit den Genehmigungsverfahren Zeit, setzt auf Symbole wie einen gemeinsamen Start der Impfkampagne und lehnte Angebote von Biontech und Moderna ab, mehr Impfstoffe zu kaufen. Den Preis für diesen Dilettantismus werden tausende Europäer mit ihrem Leben zahlen. Die EU hatte eine historische Chance und hat sie vertan. Das wird zu einem massiven Vertrauensverlust führen und er ist berechtigt.
Protest
Sammelte sich bei Pegida vor allem rechtsradikaler Protest, erlebten wir in diesem Jahr bundesweit eine große Koalition der Feinde der von Aufklärung und Humanismus: Neonazis demonstrierten zusammen mit Hippies, marodierenden Kleinbürgern, Anthroposophen, Esoterikern und mehr oder weniger geschäftstüchtigen Wichtigtuern. Bei dieser Mischung darf Antisemitismus nicht fehlen. Diejenigen, die wirklich unter der Krise litten, Menschen, die ihre Angehörige verloren hatten, unterbezahlte Pflegekräfte oder Kurzarbeiter, blieben stumm. Sie hatten mit der Wirklichkeit zu kämpfen, die anderen gaben sich dem Wahn hin. Die große Mehrheit ließ sich von der widerwärtigen Freakmischung allerdings nicht beeindrucken, erwies sich als klug und forderte eher härtere Maßnahmen als Lockerungen.
Ausblick
2020 wird die Mehrzahl der entwickelten Staaten Dank der Impfstoffe Corona hinter sich lassen. Ob die Staaten der EU am Ende des Jahres zu diesem Kreis gehören werden, ist vollkommen offen. Aber das Entsetzen darüber, dass die „alte Welt“ offenbar den Anschluss verloren hat, ist spürbar und wird sich mit jedem Tag weiter steigern. Gelingt es nicht, den größten Teil der Bevölkerung bis zum Sommer zu impfen, und danach sieht es nicht aus, werden nicht die Irren, sondern die bislang Vernünftigen auf die Straße gehen. Auch ihre Geduld ist endlich. Der Ausgang der Bundestagswahl ist unter diesen Bedingungen vollkommen offen.