25 Jahre Perlentaucher: „Die Feuilletondebatte ist eine deutsche Besonderheit“

2003: Der Perlentaucher erhält den Grimme Online Award Foto: Privat


2000 startete das Kulturmagazin Perlentaucher, in diesem Jahr feiert es seinen 25. Geburtstag. Der Perlentaucher veröffentlicht nicht nur Presseschauen zu Literatur, Filmen und – was in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat – Feuilletondebatten, sondern initiiert sie und nimmt an ihnen teil. Beim Perlentaucher veröffentlichten unter anderem Götz Aly, Pascal Bruckner, André Glucksmann, Jürgen Habermas, Richard Herzinger und Necla Kelek. Stefan Laurin sprach mit Perlentaucher Thierry Chervel, der den Perlentaucher zusammen mit Anja Seeliger redaktionell leitet.

Ruhrbarone: 25 Jahre Perlentaucher. Damit gehört ihr zu den Seiten, die am längsten online sind, und mit eurem Newsletter wart ihr so etwas wie Pioniere.

Thierry Chervel: Pioniere ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Wir kamen fünf Jahre nach Windows 95, und das war die Zeit, in der man das Internet entdeckte. Windows 95 war ein wichtiger Einschnitt, weil es zum ersten Mal für all jene, die keine Apple Boys und Girls waren, eine grafische Nutzeroberfläche bot. Wort und Bild waren auf dem Computer möglich geworden, und damit entstand auch das Internet in seiner ersten populären Form, dem WWW, das ebenfalls ab 1995 an Bedeutung gewann. Als wir 2000 starteten, war dieses Internet schon fünf Jahre alt. Amazon, das damals immer wichtiger wurde, war für mich die Initialzündung, den Perlentaucher zu gründen. Es bildete den kompletten Buchmarkt ab. Davor musste man, wenn man ein Buch suchte, in eine Buchhandlung oder in die Bibliothek gehen und dann erst einmal das Verzeichnis der lieferbaren Bücher durchwälzen. Das waren fünf wirklich große Folianten, in denen alle Bücher standen, die gerade auf dem Markt waren. Die hatte man nun sozusagen auf seinem Schreibtisch, im Computer. Und eine einfache Suchanfrage reichte. Da habe ich verstanden, was das Internet ist. Und die Idee eines Internetmediums war ja nicht abwegig.

Ruhrbarone: So entstand dann die Idee des Perlentauchers, der ja durchaus auch ein Metamedium ist.

Chervel: Das Internet hat ja im Kern zwei Grundfunktionen: Es bündelt Informationen, und es ist durchsuchbar. Der Link ist die Seele des Internets. Diese beiden Grundideen führten zur Gründung des Perlentauchers: eine literarische, intellektuelle und politische Öffentlichkeit herzustellen, medienübergreifend. Wir begannen dann 2000 mit dem Perlentaucher, und ein Jahr später kam der Newsletter dazu. Newsletter wurden ja lange Zeit unterschätzt, weil man Mails komischerweise sehr schnell als „schon von vorgestern“ ansah. Aber ich würde jedem, der ein Internetmedium gründet, und besonders wenn er nicht so viel Geld hat, dringendst empfehlen, einen Newsletter zu machen. Man hat dann den direkten Kontakt zum Publikum, und es gibt keinen Mittler wie in den später entstandenen sozialen Medien, deren Algorithmen man meistens gar nicht versteht. Newsletter bedeuten Unabhängigkeit von den sozialen Netzwerken. Das ist meiner Meinung nach absolut essenziell für jedes unabhängige Medium.

Ruhrbarone: Ich werde es mir merken. Wie viele Medien habt ihr jeden Tag im Blick?

Chervel: Anfangs waren das die wichtigen deutschsprachigen Zeitungen wie FAZ, Süddeutsche, Frankfurter Rundschau, taz, Welt, Zeit und die NZZ. Begonnen haben wir damit, abzubilden, was der Buchmarkt einer qualifizierten Öffentlichkeit bietet. Wir haben über Rezensionen berichtet und sie verlinkt, sodass jeder das Original lesen konnte, wenn es denn online verfügbar war. Natürlich kann auch jeder Leser in eine Bibliothek oder einen Zeitschriftenladen gehen und den von uns erwähnten Text auf Papier lesen. Das ist übrigens nichts anderes als das, was die Zeitungen auch selbst machen. Jede Buchkritik ist ja letztlich auch eine verkürzte Wiedergabe des besprochenen Buches, vor allem bei Sachbüchern. Reicht mir die Kritik, dann ersetzt sie das Buch, aber weckt sie mein Interesse, dann führt sie zum Kauf des Buches.

Ruhrbarone: Ihr informiert nicht nur über neue Buchbesprechungen, sondern macht auch jeden Tag eine Debattenrundschau und veröffentlicht oft eigene Beiträge oder solche von Gastautoren. Wie hat sich in den vergangenen 25 Jahren die Debattenkultur entwickelt?

Chervel: Die Feuilletondebatte ist eine deutsche Besonderheit. Lange Zeit war das Feuilleton der einzige Ort in der Zeitung, in dem die Öffentlichkeit zugelassen war. Nur dort konnten externe Autoren zu einem bestimmten Thema etwas schreiben. Die Meinungsseiten der Zeitungen dagegen waren komplett abgeriegelt. Um auf der berühmten Seite vier der Süddeutschen Zeitung veröffentlichen zu dürfen, musste man angestellter Redakteur sein. Die goldene Zeit der Feuilletondebatte reichte bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals wurden Debatten tatsächlich noch von der Kunst ausgelöst. Man debattierte zum Beispiel leidenschaftlich über den neuesten Film von Rainer Werner Fassbinder. Dann kam aber irgendwann der Punkt, an dem sich die Debatten politisierten. Der Urknall der modernen Debatte war dann der Historikerstreit, der 1986 mit einem Text des Historikers Ernst Nolte in der FAZ begann, in dem er die These aufstellte, der Holocaust sei eine Reaktion der Nationalsozialisten auf die stalinistischen Verbrechen gewesen. Debatten gewannen dann immer mehr an Bedeutung und zogen auch Leser an. Um das Jahr 2000 hatten die Zeitungen dann Umfänge wie nie zuvor: Sie waren voll mit äußerst lukrativen Rubrikenanzeigen für Wohnungen und Autos. Sie platzten aus allen Nähten.

 

Ruhrbarone: Und dann gewann das Internet an Bedeutung …

Chervel: Die Zeitungen verloren massiv an Umsatz, weil zuerst die Rubrikenanzeigen und dann immer größere Teile der Werbung ins Internet wanderten. Aber es haben sich noch zwei ganz wichtige Dinge verändert: Zeitungen konnten nicht mehr so tun, als wären sie allein in der Welt. Wenn früher die FAZ ihre Leser informierte, konnten die Redakteure immer so agieren, als gebe es gar keine andere Zeitung. Man konnte voneinander abkupfern oder sich aufeinander beziehen, ohne die anderen Medien zu nennen, und so auch seine politischen Spielchen treiben. Das ging dann nicht mehr, auch weil Medien wie der Perlentaucher anfingen, Bezüge zwischen den einzelnen Texten herzustellen: Wir schrieben dann, dass die Süddeutsche auf die FAZ reagierte, ohne die FAZ zu nennen. Und dann entstanden weitere Online-Medien, die auch mitreden wollten, wie zum Beispiel Blogs und später dann sogar noch die sozialen Medien, die ja praktisch das Verhältnis zwischen Publikum und Zeitung umgedreht haben: Plötz kam zuerst das Publikum und dann die Zeitungen.

Ruhrbarone: Wie hat sich euer Verhältnis zu den Zeitungen damals entwickelt? Haben die euch damals überhaupt bemerkt, oder hat das eine Zeit lang gedauert?

Chervel: Den ersten Artikel über uns schrieb Gustav Seibt im August 2000 in der Zeit und nannte uns eine „bemerkenswerte Symbiose von Internet und Feuilleton“. Andere Journalisten folgten, und das Verhältnis war von Anfang an bis heute zu 90 Prozent freundlich und zehn Prozent ein bisschen scheel.

Ruhrbarone: Was waren deiner Ansicht nach die prägendsten Debatten in den 25 Jahren, die es den Perlentaucher gibt?

Chervel: Die erste wichtige Debatte in dieser Zeit ging um Martin Walsers Buch „Tod eines Kritikers“ im Jahr 2002. Das war jedenfalls auch eine der ersten Debatten, in denen wir eine Rolle gespielt haben. Frank Schirrmacher, damals als einer der fünf Herausgeber der FAZ zuständig für das Feuilleton, war eine sehr einflussreiche, mächtige Figur und wollte zusammen mit Marcel Reich-Ranicki durchsetzen, dass das Buch, in dem es um Reich-Ranicki ging, erst gar nicht veröffentlicht wird. Das Verdikt von Schirrmacher war, der Roman sei antisemitisch. Aber weder das Publikum noch andere Kritiker konnten das Buch damals überhaupt lesen. Das ging mir gegen den Strich, und da haben wir versucht, die Debatte abzubilden und einen Überschuss an Informationen zu schaffen, der den Lesern ermöglicht, sich selbst so gut wie möglich ein Bild zu machen. Eine andere war die Rechtschreibdebatte. Wir waren für die neue Rechtschreibung, haben aber natürlich auch alle anderen Positionen wiedergegeben. 2006 stießen wir dann eine Debatte über den Islam in Europa an. Das war nach dem Mord an Theo van Gogh. Auslöser war ein Text von Timothy Garton Ash in der New York Review of Books über den Islam in Europa. In dem Beitrag attackierte Timothy Garton Ash Ayaan Hirsi Ali als „Fundamentalistin der Aufklärung“. Erstaunlicherweise übernahm er dabei einen Begriff des Mörders von van Gogh, denn der hatte van Gogh mit dem Messer einen Zettel in die Brust gerammt mit dem Spruch: „Ich weiß, oh Fundamentalisten des Unglaubens, ihr werdet untergehen.“ Ash hatte also diesen Begriff des Mörders übernommen, um damit Ayaan Hirsi Ali zu beschreiben! Das ging Anja und mir wirklich gegen den Strich, und wir haben einen Gegentext von Pascal Bruckner über den „Rassismus der Antirassisten“ organisiert. Diese Debatte hat international Wellen geschlagen, weil wir zu der Zeit auch ein englischsprachiges Medium hatten. Da hat sogar Habermas dreißig Seiten dazu geschrieben. Suhrkamp hat ein Buch daraus gemacht. Seitdem hatten wir viele Debatten, die ja teilweise auch von euch ausgelöst wurden, etwa über Antisemitismus im Kulturbetrieb, wie über Achille Mbembe, das „Weltoffen“-Papier der Kulturinstitutionen, Dirk Moses, die Documenta . Das waren alles Debatten, die wir abgebildet haben und in die wir eingegriffen haben

Ruhrbarone: Von den Online-Medien, die es im Jahr 2000 gab, haben kaum welche überlebt. Warum habt ihr euch durchgesetzt?

Chervel: Wir sind klein und flexibel und konnten immer schnell auf Veränderungen reagieren. Wir waren immer eine Art Familienbetrieb und kein digitales Start-up mit Fremdkapital. Der Perlentaucher ist eine GmbH mit vier Gesellschaftern, neben Anja und mir sind das Niclas Seeliger und Adam Cwientzek. Niclas war für die Zahlen zuständig, Adam für die Technik. Anfangs hatten wir noch Partner wie BOL, die es ja auch schon lange nicht mehr gibt. Wir finanzieren uns über Anzeigen der Verlage und freiwillige Abonnements über Steady. Unsere Leser erreichen wir über Newsletter und Google. Die sozialen Medien sind sehr teuer und aufwendig, da halten wir uns zurück. Und mit Eichendorff21 haben wir auch noch eine eigene Online-Buchhandlung, unsere menschenfreundliche Alternative zu Amazon. Auf diese Buchhandlung setzen wir viel Hoffnung für die Zukunft.

Am 13. März feiern die Perlentaucher ihren Geburtstag im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Der Perlentaucher hat aus dem Anlass eine große Kritikerumfrage lanciert: „Welches waren für Sie die prägendsten Bucher der deutschsprachigen Literatur seit 2000″? Das DLA Marbach wird den Perlentaucher künftig auch archivieren.

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