John Lydon: ››Musik soll eine heilige Komfort-Zone sein‹‹


John Lydon (Johnny Rotten) während eines Konzerts mit den Sex Pistols im Hammersmith Odeon in London am 2. September 2008 | Foto: Ed Vill | Lizenz: CC BY 2.0

Er ist eine der charismatischen Persönlichkeiten innerhalb der Musik-Welt. Als ich ihn morgens im Juli 2015 in seinem Haus in Los Angeles erreiche, sitzt er noch auf der Toilette. „Kannst du noch mal in fünf Minuten zurückrufen?“, sagt seine deutsche Frau Nora Forster. Mit ihr ist er seit den Sex Pistols-Zeiten liiert. Der erste Lacher liegt in der Luft, als ich John nach zwei weiteren Versuchen endlich am Hörer habe. Danach folgt ein Gespräch über künstlerische Freiheit, gesellschaftliche Verantwortlichkeit und seine musikalischen Vorlieben.

Hallo John. Wenn du dich selbst betrachtest, hältst du dich eher für einen Pionier oder einen Spätentwickler?

„Hm, ich hab’ keine bekackte Ahnung, das liegt immer an der Situation selber. Dann muss ich entscheiden, ob ich es mit einem schnellen Gedankensprung hinbekomme – oder ins Schleudern gerate und anfange zu schwimmen. Es gibt ein Buch mit dem Titel: „Das Leben ist kontinuierlich eines der größten Probleme“ – das musst du immer wissen, dass du daran nicht scheiterst, sondern immer nach vorne schaust und überlegst, wie du die Probleme aus dem Weg räumen kannst. Gerade in erheblichen Druck-Situationen betrachte ich mich selbst, reflektiere und treffe dann eine Entscheidung. Damit habe ich mich eigentlich immer ganz gut über dem Wasser gehalten.“

Wie ist dein prinzipieller Blick auf das Wesen der Dinge? Unsere Welt ist durchsetzt von Problemen. Unser Finanzsystem ist mehr als fragwürdig, die ökologischen Probleme fressen uns auf und überall auf der Welt reiht sich ein Konflikt an den nächsten. Wo könnte diese Welt in vielleicht 20 Jahren stehen?

„Wenn wir nicht lernen, Ländern mit schwachen Wirtschaften zu helfen, und das wird sich irgendwann rächen. Es wird uns alle treffen. Mein Blick auf die Dinge ist sehr geprägt, mit welch fragwürdigem Gesundheitssystem ich in den 1960er und 1970er Jahren ich in Britannien groß geworden bin. Wenn das System nicht für jeden Bürger mit hinreichender Fürsorge da ist, ist irgendwo etwas faul. Kein Land und keine Zivilisation ist irgendetwas wert, wenn sie nicht gelernt haben, zu helfen und sich um den Schwächeren zu kümmern. Alles andere ist nicht akzeptabel. Du kannst niemand, der nicht auf die Beine kommt, verhungern lassen. Wenn ich merke, dass mein Nachbar Hilfe braucht, dann helfe ich ihm ja auch. Das ist die einzige Change für uns als menschliche Spezies zu überleben: wir müssen fürsorglich sein. Und du kannst nicht immer als erstes fragen: wann krieg ich jetzt mein Geld zurück, was ich dir geliehen habe, verdammt noch mal!“

Das erinnert an großmannssüchtige und egoistische Politik, wie sie nicht selten von westlichen Industrienationen betrieben wird. Siehst du das genauso?

„Ja, absolut. Aber die Welt ist leider kompliziert und du kannst nicht einfach da reingehen und mit zwei, drei Handgriffen ist alles getan. Wir sind alle ein Teil vom großen Ganzen. Wir können nicht so tun, als ginge es uns nicht an, wie es unseren Nachbarn geht. Die Lebensweisheiten, die von der politischen Elite geäußert werden, müssen weitreichender sein.“

Was hast du für einen speziellen Blick auf Deutschland? Wir sind schon mehr als eine Nation von dummen Ergebnis-Klischees, oder?

„Ich finde euch (er setzt einen distinguiert bis ironischen Tonfall auf) Deutsche akzeptabel bis perfekt, nur im Bankwesen könntet ihr euer Wissen noch weiter ausbauen. Deutschland ist ein großer und wichtiger Teil von Europa, ihr habt eine Vorreiterrolle und diese Verantwortung müsst ihr tragen. Für mich selbst betreffend möchte ich noch sagen, dass ich leider nie so oft in Deutschland live spielen konnte, wie ich eigentlich immer wollte. Die Tour-Agenten sind sehr „schüchtern“ mit uns umgegangen. Die vorletzte Tour mit Public Image Limited liegt nun 28 Jahre zurück und ich weiß nicht so recht, ob sich bei euch noch jemand an uns erinnert. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die DJ-Kultur bei euch eine sehr große Schubkraft erlebt und die handgemachte Musik ein Stück in den Hintergrund geraten ist. Und die Leute, die diese Kultur forcieren sind oftmals sehr schmierige Typen.“

Schon in frühen Jahren warst du großer Verehrer von der Krautrock-Band Can und besonders ihrem Album „Tago Mago“. Es gibt ein hartnäckiges Gerücht, dass du in den späten 1970er Jahren Damo Suziki als Sänger ersetzen solltest. Stimmt das?

„Nein, das ist absoluter Nonsens, obwohl ich Can natürlich sehr bewundere. Dieser Sound! Diese Vision! Der Drum-Groove von Jaki Liebezeit ist absolut verwegen und reine Magie. Ich habe in meinem Leben alle möglichen Musik-Genres aus den verschiedensten Gegenden bewundert und respektiert. Meine Befangenheit läuft dabei nach einer simplen Rezeptur: ich mag es, wenn etwas originell und einen eigenen Charakter hat. Da gibt es wenige Ausnahmen, zum Beispiel traditioneller Jazz aus New Orleans kann ziemlich nervtötend sein. Das klingt wie der Soundtrack, wenn du in Frankreich im Stau stehst und keinen Millimeter weiterkommst.“

 

 

Es ist kaum vorstellbar, aber Ginger Baker von Cream spielte mal in deiner Band. Er trommelte 1986 „Album“ für Public Image Limited ein – das ist nie so richtig bekannt gewesen. War er der beste Drummer, mit dem du je zusammen gearbeitet hast?

„Ginger ist ein sehr guter Freund von mir. Ob er der Beste war? Ich weiß es nicht, denn so was ist immer eine Frage der Sichtweise. Als wir uns Mitte der 1980er Jahre trafen, fühlte es sich innerhalb dieser Periode einfach exzellent an. Er ist ein komplett bekloppter Mensch, viel mehr als ich. Aber es ist immer gut, mit wahnwitzigen Menschen ins Studio zu gehen. Denn wenn am Ende etwas wirklich Bahnbrechendes heraus kommen soll, muss das ja auch irgendwo herkommen und mit Fanatismus und Leidenschaft gespeist werden.“

In Los Angeles lebst du in einem Haus, was in den 1930er Jahren von der Hollywood-Schauspielerin Mae West bewohnt wurde. Vor rund 40 Jahren ist es von einem österreichischen Einwanderer renoviert worden….

„Ja, absolut unglaublich, es war niemand geringerer als Arnold Schwarzenegger. Es war einer der ersten Jobs, die Arnold in Amerika bekam. Irgendwann hat er mit seiner Familie mal eine Radtour gemacht und schellte dann bei mir. Ich mache ahnungslos die Tür auf und konnte das nicht glauben, wer vor mir steht. Er hat hier in meinem Haus mit Mörtel, Beton und Steinen gearbeitet? Und, das ist eigentlich noch unglaublicher: diese Mauer steht immer noch! Auch wenn sie eher mit durchschnittlichen Fähigkeiten hochgezogen wurde. Aber ich liebe sie, ich bin froh, dass ich diese Steinwand habe.“

Bist du manchmal auch von der Scheinwelt des Show-Business abgetörnt?

„Diese Welt ist groß und oftmals sehr substanzlos. Dieser Wirkungsbereich mit dem Glitzer und den Scheinwerfern erfindet sich ständig neu und will schrill sein, aber diese sogenannte Vielfältigkeit kann sehr schnell eintönig sein. Mir ist eine „echte“ Vielseitigkeit im Leben lieber, weißt du, ich interessiere mich ja nicht nur für eine kleine Sparte innerhalb der Musik – sondern ich will nach Möglichkeit alles hören und erleben.“

Das ist verständlich. Dein Musikgeschmack ist sehr weitreichend und fängt bei Dr. Feelgood an und hört vielleicht bei fernöstlicher Weltmusik auf, oder?

„Ja, und alles was dazwischen liegt. Ich bin ein offener Mensch und von Haus aus habe ich erst mal keine Vorurteile gegen irgendetwas, was ich nicht kenne. Die wunderbarsten Menschen machen schöne Musik – und das höre ich mir dann auch gerne an. Eigentlich sollte man auch jeden, der eine Platte macht, dafür bewundern. Denn ich weiß sehr genau wie sich die Schattenseiten von einer Produktion anfühlen können. Du musst ab einem Zeitpunkt etwas aus deinem Leben hergeben, was dann archiviert wird. Dann wartest du auf die Veröffentlichung und plötzlich beurteilen andere über dich. Das kann fürchterlich sein. Denn jeder Musiker kann mit ein paar Worten kaputt geschrieben werden, was in seinem Innenleben selbstmörderische Tendenzen lostreten kann. Aber noch schlimmer ist der Horror, wenn du plötzlich gute Kritiken bekommst…“

Könntest du aus dem Stegreif deine liebsten fünf Platten auflisten, oder ist das völlig unmöglich?

„Ich weiß nicht, ob ich die so genannten fünf liebsten Platten überhaupt habe. Denn wenn ich gestern für irgendetwas Feuer und Flamme war, weiß ich nicht, ob ich das heute auch noch so sehr mag. Momentan gehört „Zuma“ von Neil Young zu meinen Lieblingen. Dieses Album gehört zu meinem Leben, weil es einfach unglaublich wunderbar ist. Dann „Greetings from L.A.“ von Tim Buckley weil diese Platte so etwas unbeschreiblich Liebliches überliefert. „Trout Mask Replica“ von Captain Beefheart darf nicht fehlen und erst gestern abend habe ich noch „Soon Over Babaluna“ von Can aufgelegt, das ist eher ein unbekanntes Album von Ihnen. Und „Funhouse“ von den Stooges möchte ich auch noch nennen.“

 Was ist hier das Besondere?

„Die Aggression, die diese Platte ausstrahlt, sie kennt einfach keine Altersgrenze. Sie wird auch noch Generationen in der weiten Zukunft ereichen. Natürlich dürfen auch Roxy Music nicht fehlen, die ich schon immer sehr geliebt habe. Ich habe eine besondere Beziehung zu Brian Ferry. Ich liebe seinen Gesang, finde ihn aber auch gleichzeitig seltsam. Aber in welcher Atmosphäre er seinen Songs Raum gibt, das ist faszinierend. Es ist für mich immer sehr anziehend gewesen, wenn irgendwo auf der Welt Musiker eine Sound-Atmosphäre herstellen, die du dir dann erschließen kannst. Egal, welches Genres, welcher Style, welcher Geschmack. Es liegt an meiner Stimmung, an was ich mich gerade annähern will – oder an was eher nicht.“

Hast du auch ein Händchen für neue und aktuelle Bands?

„Wir proben derzeit für die kommende Tour – und in solchen Momenten tue ich mich immer schwer mit aktueller Musik, weil ich mich nicht zu sehr davon beeinflussen lassen will. Musik soll eine heilige Komfort-Zone sein, die sich in gewissen Abständen neu justiert. Ein bisschen frisches Blut kann da nicht schaden, aber so ein Wall-of-Sound kann dich auch in den Schwitzkasten nehmen und dich stark verführen. Generell gesagt: ich liebe es schon sehr, was menschliche Wesen sich an kreativen Leistungen ausdenken und produzieren. Das ist ein unfassbar großer Schatz. Ich habe mich eigentlich nie besonders um klassische Country-Musik gekümmert, bis ich mich mal mit einigen Texten auseinandergesetzt habe. Wie Garth Brooks zum Beispiel mit Worten umgeht, das ist schon toll. Seine Lyrics haben sehr spezielle Sichtweisen, viele Eigenarten und das kann schon inspirierend sein. Zumindest für mich.“

Wenn Plattenläden deine Kirche sind, was ist mit Buchläden?

„Zu allen Künsten habe ich die gleiche Beziehung, egal ob das jetzt Musik, Schriftstellerei, Mode, Film, Architektur oder bildende Kunst ist. Es ist schon irre, was die Menschheit in guten Momenten auf die Beine stellen kann.“

Haben vielleicht zu viele Männer die Kulturgeschichte geprägt? Gerade die Musikgeschichte ist ja durchsetzt von männlichen Alphatieren, wie Elvis Presley, Michael Jackson oder Ozzy Osbourne…

„Oh, in dieser Aufzählung darf Robert Plant von Led Zeppelin nicht fehlen. Denn „Physical Graffiti“ ist eine der besten Platten überhaupt, zumindest für mich. Dieses Album hat solch ein Volumen, ein exquisites Innenleben und eine rigorose Kraft.“

 Ja, aber fast immer sind es Männer, die die Musik-Szene dominieren. Nur wenige Frauen haben es vergleichsweise geschafft, sich hier durchzusetzen. Schon trostlos, oder?

„Nein, das finde ich absolut nicht. Es gibt so viele Frauen, die wunderbare Sängerinnen sind. Auch in meiner Platten-Sammlung habe ich unzählige. Ich mag alte Soul-Sängerinnen wie Diana Ross zum Beispiel sehr.

Ein Song mit dem Titel „Turkey Tits“ befindet sich auf dem letzten PIL-Album „What The World Needs Now…“ – welches weibliche Wesen wolltest du damit ärgern?

„Der Song ist jetzt kein Aufschrei, der sich gegen die orientalische Welt richtet, nein. Es ist eine ironische Anspielung auf Vivienne Westwood. Den Song haben wir im Studio komplett improvisiert und wir haben es sehr genossen, wie er dann plötzlich einfach da war. Er ist ein bisschen chaotisch. Er bezieht sich auf die Frühzeit der Sex Pistols im Jahr 1976 bevor wir das erste mal live auftreten sind. Unsere ersten Proben hatten einen ähnlich gelagerten Vibe, wie dieser Song. Schon komisch, was dein Gewissen manchmal gefangen hält und plötzlich wieder frei lässt.“

Mit „Big Blue Sky“ habt ihr sogar einen richtigen Pop-Song geschrieben…

„Dieses Lied soll ein bisschen die Funktion von einem Film-Soundtrack haben. Denn irgendwo lieben wir doch alle die Wüste, oder etwa nicht? Das heiße Klima, der Sand und die unendliche Weite können dich schon sehr verführen. Die Landstriche in New Mexico, Arizona und Utah können mit ihrer Form von karger Natur eine ganz spezielle Energie herstellen. Ich habe einfach mal probiert, dieses bestimmte Gefühl einzufangen.“

 Welche Geschichte verbirgt sich hinter „I’m Not Satisfied“, einem Song, der mit satten Post-Punk-Gitarren an die PIL der mittleren 1980er Jahre erinnert?

„Im Alter von acht Jahren erkrankte ich an einer Gehirnhautentzündung und musste drei Monate lang in einem Krankenhaus stationär behandelt werden. Danach hatte ich mein Erinnerungsvermögen komplett verloren. Meine Eltern wollten mich abholen und ich wusste nicht wer diese Personen waren, die mich ins Auto luden. Alles musste ich neu erlernen, was sich über ganze vier Jahre hinzog. Ein ganz harter Lebensabschnitt war das. In meiner Biographie „Anger Is An Enemy“ spreche ich eigentlich zum ersten mal öffentlich darüber, weil mir diese Sache nie besonders leicht gefallen ist. Denn ich bin es ja, der beschädigt war – und da die richtige Form zu finden und allen zugänglich zu machen, das ist nicht einfach.“

 

Deine Biographie ist ein atemberaubendes Meisterwerk. Deine Erlebnisse reichen eigentlich aus, mehrere Leben damit zu füllen. Du hast sehr viele Persönlichkeiten getroffen, trotzdem habe ich zwei Namen vermisst. Nick Cave zum Beispiel…

„Ich bin ihm nie wirklich gefolgt, das muss ich zugeben. Das liegt vielleicht auch an seiner ehemaligen Beziehung zu harten Drogen. Ich bin nicht wirklich interessiert der Co-Partner von Drogen-Süchtigen zu sein, dass hat mich zu oft schon in meinem Leben abgetörnt. Wer ist der andere, den du vermisst hast?“

Henry Rollins. Als Straight-Edge-Anhänger ist er eine ganz andere Figur innerhalb der Punkszene. Bist du ihm je begegnet?

„Oh no! Ich finde, er ist ein absoluter Wichser. Was soll ich von dem lernen? Er sitzt da und denkt in seinen kategorisierten Schablonen, das törnt mich echt ab. Bei so einem Einfallspinsel findest du wirklich nichts Kreatives, was dein Leben bereichern könnte. Da würde ich mir lieber ein surrendes Akkordeon anhören, was gerade die Treppe herunter gefallen ist. Damit kann ich echt mehr anfangen.“

Danke John, es war ein Vergnügen mit dir zu plaudern…

„Pass auf die Dämonen auf, die hinter dir stehen. Sie streuen den teuflischen Samen und lassen alles zerspringen.“

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