50 Jahre improvisierte Musik in Moers

Die Gitarristin Wendy Eisenberg, Strictly Missionary Foto: André Symann Lizenz: Copyright

„I am gonna show you now, what this festival is all about.“ Jamaladeen Tacuma lobt die Bedeutung des Moers Festivals für die Jazzwelt mit deutlichen Worten, ehe er sich in ein fünfzehnminütiges Basssolo versenkt, das gleichermassen virtuos und schlicht, eingängig und verschroben, vor allem aber ein äußerst vitales Statement für die Spontaneität und bewusstseinserweiternde Kraft seiner Musik ist. Von unserem Gastautor Matthias Hesse.
Dass sich zeitgleich im Youtube-Chat ein paar Experten mit Klugscheißereien und Name-Dropping überbieten, ist eine ironische Fußnote des Ganzen. Festivalleiter Tim Isfort hat sich auch im zweiten Coronajahr gegen eine Absage entschieden und damit das Risiko in Kauf genommen, dass vieles online stattfinden, der Jubiläumsglamour insgesamt etwas spärlicher ausfallen muss.

So analog wie möglich sein. Das Festivalteam kommuniziert ohne Umschweife, dass dieses Unterfangen ein Kampf mit Verlusten war. Viele spannende Künstlerinnen und Künstler mussten absagen, Projekte und Grossformationen kamen nicht zustande. Visaprobleme, Einreisestopps, Bundesnotbremse und erst Mitte des Monats die Hiobsbotschaft aus Düsseldorf, dass zwar einzelne Konzerte, aber vorerst keine Festivals vor Publikum stattfinden dürfen. Statt den Anschein von professioneller Distanz zu wahren, hielten die Macherinnen und Macher ihr Publikum via Social Media über alle Siege und Rückschläge auf dem Laufenden, zeigten ihre Wunden und gaben dem Festivalmotto „Kampf um die Zukunft“ Dringlichkeit und Wahrhaftigkeit. „Kampf um die Zukunft“, das klingt nicht gerade hippie-esk. Doch nicht nur die avantgardistische Musik als solche raus aus der Bubble unters Volk zu bringen, sondern auch die Motorhaube auf- und den gesellschaftlichen Antrieb dieser Kunst weithin sichtbar zu machen, ist Isforts Intention, seit er vor fünf Jahren „das Jazz“ übernahm. Da riecht es dann halt auch mal nach Schweiß und Benzin. Zum einen stellt er sich damit ohnehin in den Geist der ersten Ausgabe von Burkard Hennens „New Jazz Festival Moers“ 1972, zweitens präsentiert sich das Jubiläum dezidiert politisch. Kampf um die Zukunft, das meint nicht nur Klimawandel, globale Ungeleichheit und Co., sondern auch die Marginalisierung von Kultur unter den Sachzwängen der Coronakrise.

Wie im Vorjahr ist das Streamingangebot üppig, optisch ansprechend und performativ angedickt. Neophobe Pyrills und digitalaffine Moerphs tauchen als eine Art Jazz-Mainzelmännchen allerorten auf, kabbeln und bekämpfen sich, schneiden Prilblumen aus dem Bühnenteppich und stochern gemeinsam im Lagerfeuer herum. Die Parkwiese wird, etwa während des beglückenden Gigs von The Resonators, zum gigantischen Greenscreen. Ein wenig Nostalgie gibt es auch, vor allem im virtuellen Raum, wo sich das nicht angereiste Publikum im Riesenhirn eines Elefanten mit 3D-Brille tummeln, Konzerte hören, Fotos gucken und austauschen kann.

Die Qualität der eingeladenen Acts ist durchgehend erstklassig, wie etwa der ergreifende musikalische Dialog zwischen der Bassistin Joëlle Léandre und dem Drummer Gerald Cleaver. Ebenso die tanzbaren, bluesigen Impros vón Decoy mit dem Saxophonisten Joe McPhee. Unbedingt erwähnenswert ist auch die Kollaboration des Niederländers Han Bennink, der schon 1972 mit seinem Schlagzeug in Moers auf der Bühne stand, mit dem Ensemble Fendika aus Addis Abeba. Beeindruckend, wenn auch ziemlich abgezockt, präsentiert sich der polyphone Wahnsinn der New Yorker Durchstarter von „Strictly Missionary“ – dermaßen cool, dass das Sonnenbrillentragen auf der Bühne folgerichtig erscheint und nur wenig nervt.

Eröffnet wurde die fünfzigste Ausgabe des Pfingstevents von La Tène aus der Schweiz, deren hypnotischer Dudelsack-Harmonium-Trance eine bezeichnende Szenerie untermalt: Auf dem Rasen vor der Open-Air-Bühne stehen ein bisschen Team und Technik herum, doch am Rand des Geländes am Rodelberg, mit ganzen 30 Metern über dem Meeresspielgel immerhin der höchste Punkt der niederrheinisch flachen Landschaft, haben sich bereits die Zaungäste versammelt. Zufällige Spaziergänger und hartgesottene Moersfreaks wollen sich gleichermaßen die erste Livemusik seit dem Wellenbrecher-Lockdown im vergangenen November nicht entgehen lassen, sogar ein paar Althippies latschen trotz beschissenen Wetters mit Dosenbier und Dschembe durch den Stadtpark. Nach einem zähem Kampf mit den Behörden hat es Geschäftsführerin Helena Lischka kurzfristig geschafft, immerhin ein Konzert pro Tag vor physisch vorhandenem Publikum zu stemmen. Da es etwas dauert, bis sich das rumspricht, ist erst das dritte ausverkauft, Gitarrist John Scofield solo. Am Ende werden aber immerhin mehr als 1000 Zuschauerinnen und Zuschauer die vier Konzerte verfolgt haben – wenn Back to Basics (Fred Frith, Ava Mendoza, Oren Ambarchi) den Leuten ein energetisches, manchmal verstörend zartes Gitarrengeballer-Finale kredenzt. „What this festival is all about.“

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