Aachen rüstet sich zum GAU – mit Atomkraft in den Wahlkampf

 

„Atomic Theater“ by Joel Kramer, flickr.com
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Der Wahlkampf tritt in die heiße Phase, kurz vor der Bundestagswahl ziehen alle Parteien kreuz und quer durch’s Land und gehen nochmal auf Stimmenfang. Und weil im Krieg und der Liebe bekanntlich alles erlaubt ist, wird auch unnötige Panikmache zum Mittel der Wahl.

Aachen ist eine Stadt, die es regelmäßig in die Nachrichten schafft. Sei es aufgrund der jährlich stattfindenden CHIO, des hauseigenen Vereins Alemannia Aachen oder aufgrund des viel zu frühen Todes von THA-Campus-Kater King Loui dem Ersten. Abgesehen von Sportlichkeit und Tierliebe hat Aachen allerdings noch etwas zu bieten. Ein Atomkraftwerk nahe der belgisch-deutschen Grenze. Tihange ist der Name dieses Kraftwerkes, gegen dessen Betrieb sich in Aachen ein enormer Bürgerprotest gebildet hat.

Hintergrund der Proteste sind eine Reihe von Sicherheitsmängeln, die bei Routinekontrollen des Kraftwerks im Jahre 2012 gefunden wurden. Unter anderem fand man in den Reaktordruckbehältern feine Risse, die bei der Herstellung selbiger durch Einschlüsse von Wasserstoff in Flockenform entstanden sind. Im Januar 2013 veröffentlichte die belgische Föderalagentur für Nuklearkontrolle (FANK) einen Bericht, der die Betreiber des Kraftwerks dazu angewiesen hat, eine begrenzte Zahl von Auflagen zu erfüllen, um den weiteren Betrieb der Anlage zu gewährleisten. Im April desselben Jahres reichte die Betreiberfirma Electrabel einen Bericht ein, indem sie erklärte, die Auflagen erfüllt zu haben.

Im Februar 2014 stellte sich bei weiteren Untersuchungen dann heraus, dass in den Druckbehältern mehr Risse existierten, als zu Beginn angenommen. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse entschloss sich Electrabel im Mai 2014 dazu, die geplante Betriebsunterbrechung der betroffenen Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 vorzuziehen, um sowohl eine neue Untersuchung zu beginnen, als auch die verbliebenen Auflagen zum weiteren Betrieb der Anlage umsetzen zu können.

Obwohl Electrabel erneut Sicherheitsberichte einreichte um die Behebung der Mängel zu dokumentieren, hat das FANK weitere Experten konsultiert, so unter anderem auch das Oak Ridge National Laboratory in den USA, welche eine eigenständige Untersuchung der Materialeigenschaften, sowie der strukturellen Integrität der Druckbehälter durchführten. In ihrem Abschlussbericht heißt es, dass die Sicherheit der Reaktoren trotz der gefundenen Risse noch immer gewährleistet ist. Aufgrund des Berichts des Oak Ridge National Laboratorys, eigener Untersuchungen, der Berichte von Electrabel und der Expertise von weiteren Expertengruppen, kam FANK im November 2014 zu dem Ergebnis, dass die Betriebssicherheit der Reaktoren gewährleistet ist, bis diese eine Lebensdauer von 40 Jahren erreicht haben.

Bei dieser Bewertung stützt sich das FANK insbesondere auf folgende Ergebnisse:

Die Risse im Material stammen aus dem Fertigungsprozess, traten also nicht im laufenden Betrieb durch die Einwirkungen des Drucks, bzw. der hohen Temperaturen oder der Strahlung auf. Zwar wurden bei den Messungen im Jahre 2014 mehr Risse festgestellt, als noch im Jahre 2012, dies ist allerdings in erster Linie auf eine verbesserte Messmethode, sowie auf eine Herabsetzung der Nachweisgrenze zurückzuführen. Man fand außerdem keinerlei Wachstum der Risse, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass diese Druckbehälter ohnehin auf viel stärkere Kräfte ausgelegt sind, als sie im Normalbetrieb eines Kraftwerks auftreten.
Um weiterhin die Sicherheit der Druckbehälter zu gewährleisten, wurde dem Betreiber Electrabel auferlegt, diese alle drei Jahre einer erneuten Prüfung zu unterziehen.

 

„Radiation Suit Minifigure“ by Nathan, flickr.com
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Sicherheit in Tihagen? Nicht mit deutschen Medien!

Im Jahr 2016 wurde im Zusammenhang mit der Berichterstattung rund um Tihange ein neues, erschütterndes Detail bekannt: Deutsche Journalisten verstehen absolut nichts von Physik. Mit dem gebührenden Maß an lobbyistischer Neutralität schreibt die Tagesschaut zum Beispiel einen Artikel mit dem Titel „Zu marode für’s Kühlwasser“, indem kritisiert wird, dass man das Notkühlwasser für die Reaktoren auf 40° Celsius vorwärmt und baut folgenden, phänomenalen Satz ein:

„Mit dieser Maßnahme gestehen Atomaufsicht und Betreiberfirma ein, dass es um die Festigkeit der Reaktordruckbehälter in Doel und Tihange offenbar noch schlechter bestellt ist, als bislang öffentlich zugegeben.“

Vielleicht hat der ein oder andere geneigte Leser im Winter mal versucht, seine gefrorene Autoscheibe mit einem großen Topf heißem Wasser zu enteisen. Eine himmelschreiend blöde Idee, da die auftretenden Spannungen selbst in einem Neuwagen die Scheibe platzen lassen können. Und genauso verhält es sich in jedem Kraftwerk. Um in einem NOTFALL die Betriebssicherheit des Reaktors gewährleisten zu können, wird das Notkühlwasser erwärmt, um so die Belastung auf den Druckbehälter zu reduzieren. Dieses materialschonende Verhalten trifft man übrigens überall in der Industrie an. Niemand käme auf die Idee, einem Neuwagen das Prädikat „Marode“, bzw. „Unzuverlässig“ zu verpassen, nur weil der Händler beim Kauf noch erklärt, dass das Auto die ersten 100 Kilometer eingefahren werden muss, bevor man das Gaspedal durchtritt.

Es wäre auch großartig gewesen, wenn die Journalisten mal die Temperaturen angegeben hätten, die in so einem Reaktor herrschen. Vielleicht hätten sie bemerkt, dass „Kühlwasser“ mit einer Temperatur von 40° noch immer perfekt geeignet ist, um einen Reaktor zu kühlen, dessen Temperatur im Normalbetrieb locker im Bereich von 300°- 400° liegt. Aber dann wäre dem interessierten Leser mit rudimentären Physikkenntnissen am Ende noch der Gedanke gekommen, dass an der Berichterstattung nicht viel dran ist. Sowas wäre ja nicht auszudenken.
Stattdessen wird auf Grundlage dieser Falschinformationen großflächig Wahlkampf gemacht, während man die Ängste der Bevölkerung natürlich nur zu gerne anstachelt. Wer in diesem Land eine schnell Karriere machen möchte, muss eben eine möglichst große Bedrohung erfinden und dann medienwirksam vor ihr schützen. Und genau aus diesem Grund werden jetzt für 600.000 Aachener Jodtabletten vorrätig gehalten, die sie sich zum Schutz vor einem möglichen GAU zulegen sollen.

Warum überhaupt Iod einnehmen?

Iod spielt im menschlichen Körper eine wichtige Rolle. In der Schilddrüse wird es zur Produktion zahlreicher Hormone verwendet. Diese haben essentielle Auswirkungen auf den ganzen Körper. Unter anderem sind in der Entwicklung eines Kindes diese Hormone für die Entwicklung des zentralen Nervensystems und das Wachstum des Kindes verantwortlich, sie können den Blutdruck, sowie die Herzfrequenz steuern und zu viele Hormone im Körper führen zu Hyperaktivität und vermehrtem Schweißausbruch. Außerdem steigern sie die Insulinfreisetzung und erfüllen noch unzählige weitere Aufgaben im Körper. Um genügend Hormone bilden zu können, sammelt unser Körper Iod aus jeder verfügbaren Quelle und lagert einen gewissen Bestand in der Schilddrüse ein.
Wenn in einem Kraftwerk nun radioaktive Materialien frei werden, findet sich meistens auch radioaktives Iod-131 unter den verbreiteten Stoffen. Da der Schilddrüse reichlich egal ist, ob das Iod radioaktiv ist oder nicht, verbleibt auch dieses Iod in ihr und kann dort – mit einer Halbwertszeit von 8 Tagen – Betastrahlung (also Elektronenstrahlung) aussenden was die Schilddrüse schädigt. Aus diesem Grund wird nach einem Reaktorunfall provisorisch Iod an die Bevölkerung verteilt. Durch dieses Iod wird die Schilddrüse gesättigt, sodass kein weiteres Iod mehr aufgenommen werden kann. Diese Maßnahme sollte allerdings nur durchgeführt werden, wenn man handfeste Hinweise auf einen bevorstehenden Unfall hat, da Iod kein Stoff ist, den man leichtfertig einnehmen sollte.

Nur eine gesunde Schilddrüse verträgt Iod

Wie jedes andere Organ im Körper, kann auch die Schilddrüse bei vielen Menschen nicht richtig funktionieren. Meist äußert sich das entweder in einer Über- oder einer Unterfunktion der Schilddrüse. Bei der Schilddrüsenunterfunktion werden zu wenige Hormone gebildet, was aufgrund des umfassenden Wirkungsspektrums der Hormone ein breit gefächertes Krankheitsbild mit sich bringt. Von Müdigkeit über Gewichtszunahme bis hin zu Gedächtnisstörungen ist alles dabei. Diese Unterfunktion beruht allerdings fast nie auf einem Mangel an Iod sondern auf einer verminderten Hormonproduktion der Schilddrüse. Deshalb wird meist auch die Einnahme von Schilddrüsenhormonen, anstelle von Iod verordnet.

Bei einer Überfunktion der Schilddrüse kann eine unkontrollierte Mehrzufuhr von Iod allerdings tödlich enden. Die Überfunktion äußert sich ähnlich unspezifisch wie die Unterfunktion. So können ein Gewichtsverlust trotz normaler Nahrungszufuhr, Ruhelosigkeit, vermehrter Schweißausbruch oder auch Herzrasen, sowie Herzrhythmusstörungen auftreten. Aufgrund dieser Symptomvielfalt wird nicht jede Überfunktion diagnostiziert.

Wer nun an einer unentdeckten Überfunktion der Schilddrüse leidet und eine höhere Dosis Iod (zum Beispiel in Tablettenform) zu sich nimmt, der riskiert eine thyreotoxische Krise. Diese äußert sich neben Herzrasen und Herzrythmusstörungen unter anderem auch durch Fieber, Bewusstseinsstörungen, Zittern, Psychosen, aber auch Koma, Herz- und Leberschäden, sowie der Tod stehen auf der Liste der akuten Krankheitssymptome. Die Letalität der thyreotoxischen Krise liegt unbehandelt bei 90%.

Deutschlandweit kommen auf 100.000 Menschen rund 25 mit einer Schilddrüsenüberfunktion. Da alleine in Aachen 600.000 Menschen berechtigt sind, Iodtabletten für den Notfall zu beziehen, bedeutet das rein rechnerisch, dass 150 Menschen mit dieser Überfunktion in den Besitz der Tabletten zu kommen. Und dank der regelmäßigen, faktenbefreiten Berichterstattung in deutschen Medien dürfte sich vielleicht eine Handvoll dieser Leute dazu ermutigt fühlen, sicherheitshalber mal eine Tablette zu schlucken. Damit wären diese Menschen dann die ersten Opfer im Zusammenhang mit dem Kraftwerk Tihange, allerdings nicht dank der Strahlung, sondern dank bescheuerter Politik, die sich dem Wahlkampf unter dem Deckmantel der „Bürgersicherheit“ verschrieben hat.

Versteht mich nicht falsch, es ist nicht verkehrt, für den Notfall vorzusorgen. Aber es besteht kein Grund, diese Tabletten bereits einzunehmen, da im Moment keinerlei Gefahr von Tihange ausgeht. Wer wissen will, wie die momentane Strahlenbelastung rund um Aachen durch Tihange aussieht, der darf sich hier ein wenig genauer umsehen.

Und ganz allgemein kann ich Leuten, die sich einen Notvorrat an Iodtabletten anlegen wollen nur raten, vorher einen Mediziner zu konsultieren, wenn sie nicht riskieren wollen, von einer eventuellen Überfunktion der Schilddrüse auf die harte Tour zu erfahren.


Sämtliche medizinischen Aussagen wurden von einem medizinischen Laien verfasst und ersetzen natürlich nicht die Konsultation eines richtigen Mediziners.

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Oppenheimer
Oppenheimer
7 Jahre zuvor

"Sämtliche medizinischen Aussagen wurden von einem medizinischen Laien verfasst und ersetzen natürlich nicht die Konsultation eines richtigen Mediziners."

aber der Verfasser ist natürlich "Kernphysiker" bzw. "Experte für Reaktorsicherheit" …

trackback

[…] „Aachen rüstet sich zum GAU – mit Atomkraft in den Wahlkampf“ liefert euch hoffentlich eine zufriedenstellende Antwort […]

ke
ke
7 Jahre zuvor

Wurde der Hype um die alten Reaktoren in direkter Grenznähe nicht schon wieder durch die Radon Diskussionen ersetzt.

Es ist schon blöd, dass Leben mit Risiken verbunden ist. Dazu passt auch die Hysterie im Bereich Brandschutz. Ich bin wirklich froh, dass Dortmund, wenn ich mich richtig erinnere, überall außerhalb der 100km AKW Sicherheits-Zonen liegt. Damit bin ich dann sicher bzw. genauso gefährdet wie Restdeutschland.

Zum Vergleich möchte ich nochmals auf die Krankenhauskeime verweisen, die es immer noch nicht in die aktuellen Panikberichte geschafft haben. In diesem Bereich gibt es viel Potenzial und wenig interessierte Betreiber, Behörden und Politiker.

thomas weigle
thomas weigle
7 Jahre zuvor

@ke Die Krankenhauskeime interessieren auch bei Ruhrbarone wenig bis gar nicht, wenn`s um die Heilpraktiker geht. Jeder pflegt halt seine Lieblingsparanoia so gut er kann. Da stören Wahrheiten nur.

Klaus Lohmann
Klaus Lohmann
7 Jahre zuvor

@thomas weigle: Jeder pflegt sein Plaisirchen und beschwert sich, dass nicht genügend darüber berichtet wird. Für mich aber geht z.B. von Krankenhauskeimen *aktuell* keinerlei Gefahr aus;-)

Robin Patzwaldt
Editor
7 Jahre zuvor

@Klaus: Krankenhauskeime wurden kürzlich in Datteln für meine Mutter zu einer ganz konkreten und ernsthaften Gefahr. Das ist aktueller als man denkt….

Bernd Strunk
Bernd Strunk
7 Jahre zuvor

Ein Artikel über ein Kraftwerk!
Ein komentar zum Thema und den hast Du kernig beantwortet.
Der Rest über Krankenhauskeime ??
Muss ein Superzeug gewesen sein das da jemand geraucht hat. Kurzzeitgedächtis war weg. 🙂
Und jetzt, super geschrieben, alles ist Nachprüf-und vollziehbar. Das hab sogar ich alls "nur" Künstler verstanden.
Frage: meine Schilddrüse ist raus (überfunktion)
ich denke das ich n diesem u. nächsten Leben nicht übermäsig mit raioaktiven strahlungen in berührung komme
aber wenn doch, jod ja oder nein? 😉

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