Kolja Zydatiss und Mark Felton verabschieden sich in ihrem Buch „Interregnum“ vom liberalen Westen.
“Liberal” ist eines dieser Wörter, unter denen fast jeder etwas anderes versteht. Die Grünen halten sich ebenso für liberal wie die FDP, und auch die Union reklamiert den Liberalismus als eine ihrer ideellen Grundhaltungen. Was in den USA als liberal gilt, wird in Deutschland als links angesehen. Es gibt Liberale, die auf den Freihandel setzen, und Nationalliberale, die Zölle und Einfuhrbeschränkungen befürworten. Zu Anfang ihres Buches „Interregnum“ führen Kolja Zydatiss und Mark Felton in den Begriff ein, zeigen seine vielfältigen Bedeutungen und über Jahrhunderte zurückreichende Begriffsgeschichte. Alles vergangen. Der Liberalismus, seine Ideen von Freiheit, Individualismus, dem Streben nach Glück und Selbstverantwortung, ist für die beiden Autoren eine untergegangene Idee. Ihnen nach war sie zugleich mitverantwortlich für die Befreiung des Menschen und den Schrecken der Guillotine nach der Französischen Revolution, rechtfertigte Sklaverei und Kolonialismus ebenso wie das Allgemeine Wahlrecht und entwickelte sich dann im Laufe des 20. Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg mit zunehmender Geschwindigkeit zum „Hyperliberalismus“ der Gegenwart. Nach den Autoren leben wir einer Zeit des Interregnums: Das Alte ist vergangen, was kommt noch nicht sichtbar.
Präzise und detailliert beschreiben Zydatiss und Felton, wie unter dem Banner von Freiheit und Gerechtigkeit, zwar ohne Plan, aber von einer inneren Logik getrieben, die Freiheiten der Bürger nach und nach zurückgestutzt wurden und sich der Staat immer mehr dem Social Engineering verschrieb, um eine Gesellschaft zu schaffen, die den Vorstellungen von Gerechtigkeit einer immer größer werdenden Kaste von staatlich Beschäftigten, großen Stiftungen und NGOs entsprach und der sich schließlich auch immer mehr Tech-Unternehmen der Westküste anschlossen.
Das Buch zeigt die Felder, in denen die Gesellschaften nach Ansicht der Autoren durch den Hyperliberalismus zunehmend unter Druck geraten: Das „Vielfalts-Regime“, unter das Wokeness und Identitätspolitik fallen. Immer stärker würden Minderheiten in das Zentrum linker Politik rücken, wobei es in erster Linie nicht darum gehe, ihre Lebensumstände zu verbessern, sondern sie in den Auseinandersetzungen mit der Mehrheitsgesellschaft zu instrumentalisieren. Ein Unterfangen, das sich für viele Aktivisten mittlerweile auch wirtschaftlich lohnen würde, denn Diversity-, Equity- und Inclusion- (DEI-) Programme, in denen zum Beispiel antirassistische Trainings angeboten würden, seien längst Standard: „Laut Harvard Business Review gibt es kein einziges Fortune-500-Unternehmen mehr, das keine DEI-Programme eingeführt hat. Coca-Cola forderte seine Angestellten während eines Antirassismus-Trainings dazu auf, »weniger weiß«, mit anderen Worten »weniger unterdrückerisch, weniger arrogant, weniger vertrauensvoll, weniger abwehrend, weniger ignorant« zu sein. All diese Eigenschaften seien laut der Seminarleiterin Robin DiAngelo, der geistigen Erbin Sherover-Marcuses, typisch weiß und jede Kritik an solchen rassistischen Zuschreibungen ein eindeutiger Beweis für weißen Rassismus.“ Die Stadt Seattle nötigte ihre weißen Angestellten in einem Seminar mit dem Titel »Internalisierte rassische Überlegenheit und Weißsein überwinden« dazu, ihre »Komplizenschaft in einem System der weißen Vorherrschaft« anzuerkennen und Nichtweißen den Vortritt zu lassen. Disney teilte seinen Angestellten in einem dreiwöchigen Seminar mit dem Titel »Racial Equity and Social Justice Challenge« mit, sie dürften die »gelebte Erfahrung« ihrer schwarzen Kollegen »weder diskutieren noch hinterfragen“. Das alles sei auch längst in Europa angekommen – und habe vor allem das Ziel, die westlichen Gesellschaften zu denunzieren: Die EU finanziert Projekte gegen »gegenderte Islamophobie« oder für die »Freiheit im Hidschab«, während Frauen im Iran von der islamischen Tugendpolizei totgeprügelt werden, weil sie zu westlich aussehen. Kürzlich stellte Familienministerin Lisa Paus den sogenannten »Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor« (Leitung: Naika Foroutan) vor. »Rassismus gibt es überall, er ist mitten unter uns«, ist dort zu lesen. Dabei ist Rassismus laut World Values Survey, der umfangreichsten globalen Umfrage zu Werten, nirgends weniger verbreitet als im Westen. In islamischen Staaten ist die Diskriminierung von Minderheiten hingegen die Norm. Ungeachtet der Empirie werden die Millionen von »Demokratie leben!« und anderen Programmen auch weiterhin in den wissenschaftlichen Arm des Vielfalts-Regimes fließen.
Das „Öko-Regime“ wiederum versucht, die kapitalistischen Gesellschaften des Westens durch Postwachstumsökonomie zu schwächen. Auch wenn wissenschaftliche Erkenntnisse und die Praxis dagegen sprechen, werden Gentechnik verteufelt und ökologische Landwirtschaft propagiert. Und wo es nicht um Postwachstum geht, sind auch die Investoren mit an Bord und setzen die woke-grünen Maßstäbe: In seinem Jahresbericht 2020 beschrieb der weltgrößte Vermögensverwalter BlackRock, wie er Unternehmen unter Druck setzt, die sich nicht ausreichend für »Vielfalt« oder Klimaschutz engagieren. Konkurrent State Street stimmte in vierhundert Fällen gegen Vorstände, denen es nicht gelungen war, ausreichend Frauen einzustellen. Das Finanzdienstleistungsunternehmen State Street setzt sich auch für ethnische Vielfaltsquoten in Chefetagen ein. In einem Brief aus dem gleichen Jahr forderte Larry Fink, Vorstandsvorsitzender von BlackRock, alle US-Unternehmen dazu auf, sich die Pariser Klimaziele zu eigen zu machen. Dadurch sollen solche Unternehmen benachteiligt werden, die in der Schwerindustrie tätig sind oder fossile Energieträger extrahieren. ESG nannte sich das: Unternehmen müssten sich „Environmental Social Governance“, Umwelt, Soziales und nachhaltiger Unternehmensführung orientieren, um langfristig auf den Märkten bestehen zu können und für Blackrock ein interessantes Unternehmen für Investitionen zu sein.
Ausführlich gehen die Autoren auch auf die Antipoden des westlichen Hyperliberalismus ein. Sie analysieren Staaten wie Polen unter der PIS-Regierung und Ungarn, die als NATO- und EU-Mitglieder zwar zum Westen gehören, aber den aktuellen Liberalismus ablehnen. So nimmt Polen Flüchtlinge auf und hat seinen Arbeitsmarkt für Afrikaner und Asiaten geöffnet, sieht aber nicht ein, viele Muslime ins Land zu lassen, was dazu führen würde, dass Homosexuelle in Budapest und Warschau trotz aller Anti-LGBTQ-Kampagnen sicherer wären als in Berlin, London oder Paris. Sowohl Ungarn als auch Polen würden auf eine offensive Familienpolitik setzen und auf nationale Eigenständigkeit Wert legen. Auch Singapur, autoritär regiert, westlich mit starken Eingriffen sowohl in das Leben der Bürger als auch in die Wirtschaft, haben sich Zydatiss und Felton angeschaut. Und auch radikale Gegenentwürfe wie Putins Regime, das betont als Antipode des Westens auftritt und Liberalismus in jeder Form radikal ablehnt. Das Urteil über Russland fällt eindeutig aus: „In Putins Russland sind fast alle Elemente vorhanden, die wir von den Faschismen des 20. Jahrhunderts kennen. Zum einen Revanchismus, mystischer Ultranationalismus und militärischer Expansionismus, ein Personenkult um die aktuelle Führung und ein Totenkult um die Gefallenen, insbesondere des »Großen Vaterländischen Krieges« von 1941–45.“
Auch im Westen stößt die Politik der radikalen Veränderung unter dem Banner von Wokeness und Ökoreligion zusehends auf Widerstand. Ein Beispiel dafür sind in den Augen der Autoren die Bauernproteste der vergangenen Jahre und die zunehmend restriktive Migrationspolitik in Skandinavien. Die Reaktionen in vielen westlichen Staaten auf die Massaker der Hamas und ihrer Verbündeten am 7. Oktober in Israel nehmen die Autoren hingegen als Beleg dafür, wie weit die postmodernen Ideologien in die Gesellschaften eingedrungen sind: Die Solidarität vieler Studenten, aber auch von großen Teilen von Fridays for Future und der Kulturszene mit der Hamas, der immer offener auftretende Antisemitismus, sehen sie mit voller Berechtigung als Zeichen des Niedergangs der liberalen Gesellschaften. Der hyperliberale Staat, schreiben Zydatiss und Felton, sei im Kern zutiefst autoritär: „So geht der hyperliberale Staat in der Umsetzung seiner Ziele, die selten von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden, immer rücksichtsloser und autoritärer vor. Zum »Selbstbestimmungsgesetz« gehört die Kriminalisierung ideologischer Gegner. Zu Quotenregelungen gehört die quotierte Diskriminierung. Zum »Demokratiefördergesetz« gehört die Diskreditierung von Positionen als antidemokratisch, die bis vor Kurzem noch zum Mainstream gehörten. Zur Durchsetzung der multikulturellen Gesellschaft gehört die Abwertung von Staatsbürgerschaft und kultureller Kontinuität.“ Man kann nicht sagen, dass „Interregnum“ ein optimistisches Buch ist. Seite um Seite wird dem Leser der Wahnsinn woker und grüner Politik vor Augen gehalten, die Raumnahme von Antisemitismus und Islamismus und der Aufbau immer autoritärer Strukturen. Eine stabile Psyche ist bei der Lektüre von Vorteil.
Aber ganz am Ende des Buches wird es ein kleines bisschen hell in der Geisterbahn des postmodernen Irrsinns, auf der die Leser die Autoren begleitet haben: „Wenn es einen Lichtblick gibt, dann diesen: Während die Kritik liberaler Fiktionen noch vor kurzem schnell zu Verbannung, Schmähung, beruflichen Konsequenzen oder Repression führte, hat sie es jetzt dorthin geschafft, wo sie hingehört: in die Öffentlichkeit.“
Und auch Larry Fink, der Vorstandsvorsitzender von BlackRock, ist wieder zu Sinnen gekommen. Lorenz Honegger schrieb schon im Oktober vergangenen Jahres in der Neuen Zürcher Zeitung: „Es ist unsinnig und riskant, wenn man als Unternehmen dem Druck nachgibt und sich auf übertriebene Weise als Weltenretter in Szene setzt. Aus diesem Grund verwendet Larry Fink den Begriff ESG nicht mehr. Aus diesem Grund ist eine Mitbewerberin von Blackrock, Vanguard, Ende vergangenen Jahres aus einer Netto-Null-Klima-Allianz ausgestiegen, die der CEO des Vermögensverwalters noch 2021 als «Win-win-Lösung» für die Aktionäre und das Klima bezeichnet hatte.“
In der Wirtschaft wurde der „Peak Woke“, der Höhepunkt des postmodernen Wahnsinns, offensichtlich bereits überschritten.
Die Fenster öffnen sich, Luft und Licht dringen in die Zimmer. Julie Burchill wusste es schon 2021 als sie am Ende ihres Buches „Welcome to the Woke Trials: How #Identity Killed Progressive Politics“ schrieb: „wir müssen nicht in einer atomisierten Welt leben, in der jeder Gedanke ein „ism“ und jeder Mensch ein „ist“ ist, in der wir uns alle gegenseitig wütend anhupen, während wir unsere Zeit in der Sackgasse der Identitätspolitik totschlagen. Der menschliche Geist (ja, das alte Ding) könnte sich in letzter Minute erheben und wir könnten aus unserem Schlafwandeln erwachen. Und dann werden wir denken: „Es war alles nur ein schrecklicher Traum“, während wir uns benommen umschauen, Fremde und gute Kameraden auf einem Stück Felsen, das durch den Weltraum rast, um gemeinsam irgendwo hinzukommen.“
Interregnum
Was kommt nach der liberalen Demokratie?
Zydatiss, Kolja Felton, Mark
24,00 EURO