
Er hat ein Mädchen brutal ermordet. Er hat geweint, als er hierhergebracht wurde. Er sitzt im Verhörzimmer. Darum geht es in Adolescence, einer vierteiligen Netflix-Miniserie. Ist es richtig, mit Tätern Anteil zu nehmen? Sind Eltern nicht ohnehin hilflos?
In einem Podcast diskutierte ich genau dies mit der Sozialpädagogin Ruth Habeland, gemeinsam mit der Familienrechtlerin Aline Strutz – und habe mir anschließend weitere Gedanken gemacht.
Spoiler: Im folgenden Artikel geht es um Kinder und Jugendliche. Wen schon der Spielplatz bei sich um die Ecke stört, sollte lieber nicht weiterlesen – es könnte seinen faktenfreien Kinderhass stören.
„Einsperren und den Schlüssel wegwerfen“ – das wünschen sich viele. Vor allem jene, denen an rechtsstaatlichen Prinzipien wenig liegt. Oder die einfach nicht wissen, dass die Idee der Menschenwürde zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört.
Und auch Kinder haben eine Menschenwürde. Sogar Kinder, die Straftaten begehen.
Auch wenn beides gerade in Deutschland nich leicht zu vermitteln ist.
Täterarbeit hat nichts mit Mitleid zu tun. Und auch nichts mit Entschuldigung. Sie ist das, was bleibt, wenn man sich ehrlich fragt: Wie verhindern wir, dass es nochmal passiert? Der Junge in Adolescence ist nicht das Böse in Person. Er ist ein Kind mit Schuld. Und ein Kind mit Geschichte. Und in Deutschland nicht einmal strafmündig. Aber das bedeutet nicht, dass man nichts tun müsste. Denn wer nicht strafrechtlich belangt werden kann, kann dennoch gefährlich sein. Und wer nichts verarbeitet, wird kaum verändern.
Rache ist kein Konzept, auf dem ein Rechtsstaat aufbauen kann. Ganz egal, wie antidemokratische Kräfte das sehen.
Gerechtigkeit ist kein Gefühl. Sie ist Arbeit. Langfristig. Mühsam.
Kinder, die zu Tätern werden, haben in aller Regel vorher aufgehört, Kinder zu sein. Und das passiert meistens nicht aus eigenem Antrieb. Es passiert – so sagt man – weil Eltern sich ohnmächtig fühlen, weil Schule überfordert ist, weil Social Media längst das Leben regieren. Sind das Ausreden? Eigentlich sind es selbstgewählte Kapitulationen der Erwachsenen.
Social Media-Konzerne werden die Lösungen nicht übernehmen. Sie haben schlicht derzeit kein Interesse daran, weil der Verbraucher es nicht einfordert. Man kann hier natürlich auf einen starken Staat hoffen. Man kann aber auch als Verbraucher tätig werden. In einer Gesellschaft, in der TikTok, Instagram und Reddit ihren Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben,
kann man das ignorieren – oder man kann es informiert und kompetent ernst nehmen.
Einzelne Lehrkräfte tun das. Schule tut es zu selten. Ihre gesamte Struktur stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist schon mit der Gegenwart überfordert. Über die Frage, welche Rolle Zukunft an Schule hat, schweigt man besser komplett. Und ja, die Struktur verstärkt sich in Wechselwirkung mit Lehrkräfte die mit einem Lächeln auf den Lippen sagen, dass sie keine Ahnung von Social Media haben, aber empört wären, würde man genauso dreist Grinsen wenn man angibt, nicht lesen oder schreiben zu können. Kulturtechniken. Das ist der Schlüsselbegriff, der lebenden Kultur.
Am Ende von Adolescence steht ein Kind, das getötet hat. Es wäre sehr einfach zu sagen, dass es böse ist. Das sind Täter so gut wie nie. Zimbardo hat viel dazu geschrieben. Und auch Hannah Arendt. Aber am virtuellen Stammtisch interessiert das meist niemanden.
Immer wieder wird geschrien, wer alles gecancelt wird. Neben den psychisch Kranken sind es Kinder und Jugendliche die, die gar nicht vorkommen. Ihre Stimmen sind nicht laut genug, um überhaupt auch nur „Cancel Culture“ zu rufen – geschweige denn, um anschließend in Talkshows eingeladen zu werden. Und letztlich sind die Erwachsenen froh, sie nicht hören zu müssen. Kinder und Jugendliche haben nur Serien wie Adolescence und vereinzelte Straftaten, um ins gesellschaftliche Bewusstsein zu dringen.
Man mag solch eine Sicht zynisch nennen – das bedeutet nicht, dass sie nicht zutrifft.
Adolescence ist keine pädagogische Serie und erst recht keine Serie, die die einfachen Lösungen anbietet. Sie beschreibt – und nimmt den Zuschauer in die Verpflichtung. Das mag der Zuschauer an sich nicht und erst recht nicht bei dem gegenständlichen Thema.
Adolescence erzählt einen männlichen Täter und auch ein überfordertes Männersystem. Man kann natürlich kritisieren, was bei dieser Betrachtung alles fehlt.
Man kann sich aber verdammt noch mal einfach hinsetzen und sich überlegen, was man schon alles in der Serie gesehen hat. Man kann aber auch einfach wegschauen – so wie es in der Serie viele gemacht haben und den Mord nicht verhindert haben.
Sollte man doch hinschauen wollen, sollte man sich fragen, welchen Platz eigentlich Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft haben – und welchen sie haben sollten. Und wieso Erwachsene so häufig keinerlei Ahnung von Kindern und Jugendlichen, von Social Media und von anderen Lebenswelten als ihrer eigenen kleinen haben.
Adolescence ist eine gute Serie, weil sie weh tut. Und vielleicht ist es ja gar nicht schlecht, wenn auch die Erwachsenen zumindest für ein kurzes Zeitfenster den Schmerz spüren, den sie ansonsten gerne einer ganzen Altersschicht leben lassen –
solange es die ritualisierten Debatten nicht betrifft.
(Der eingangs erwähnte Podcast zum Thema ist hier zu finden.)