Afghanistan: Die Torheit der Abziehenden

Taliban peitscht Frauen aus Foto: RAWA Lizenz: CC BY 3.0

Den Abzug aus Afghanistan hätte die Historikerin Barbara Tuchmann sicher als eine weitere „Torheit der Regierenden“ bezeichnet. Er ist es auch und wird nicht nur für die Menschen vor Ort fatale Folgen haben. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.

„Leidenschaft und Parteigeist machen unsere Augen blind, und das Licht, das die Erfahrung spendet, ist eine Laterne am Heck, die nur die Wellen hinter uns erleuchtet.“

Mit diesem Zitat von Samuel Coleridge endet Barbara Tuchmann ihr Buch „Die Torheit der Regierenden“, dessen Lektüre jedem nur ans Herz zu legen ist und das, auch wenn es vor vier Jahrzehnten erschienen ist, an Aktualität nichts eingebüßt hat. Würde Tuchmann heute noch leben und eine Neuauflage planen, ganz sicher fügte sie die verschiedenen westlichen Interventionen in Afghanistan und den ihnen im Jahr 2021 folgenden Abzug aller internationaler Schutztruppen als Beispiel hinzu.

Für dieses Kapitel bräuchte man nicht einmal Experte der Region zu sein oder viel lesen zu müssen. Eigentlich reichen ein paar ganz einfache Fragen aus, von denen die erste ganz simpel lautet: Warum ziehen diese Truppen nun eigentlich so überhastet ab? Ist das vorgegebene politische Ziel des Einsatzes erreicht worden oder sind die Truppen militärisch geschlagen? Gab es also entweder einen Sieg oder eine militärische Niederlage?

Offenbar ist weder das eine noch das andere der Fall, da reicht ein Blick auf ein paar Schlagzeilen irgendwelcher Zeitungen dieser Tage.

Waren die Kosten am Ende zu hoch, sowohl an Menschen wie Material? Nun, in den letzten zehn Jahren sank die Zahl von in Afghanistan getöteten Soldaten der internationalen Truppen kontinuierlich, in den letzten fünf Jahre starben insgesamt 88 bei ihrem Einsatz. Das entspricht in etwa der Anzahl von Toten, die Armeen auch in Friedenszeiten zu beklagen haben.

Die Taliban haben diesen Krieg nicht verloren – und damit letztens Endes gewonnen, weil sie sich so treu geblieben sind.

Auch wenn sie bis zuletzt astronomisch hoch waren, sanken auch die Kosten des Einsatzes in den letzten Jahren. Bevor man allerdings mit den ausgegeben Billionen zu argumentieren anfängt, sollte klar sein, dass bei diesen Auslandseinsätzen das meiste Geld in westliche Industrieländer zurückfließt und nur ein geringer Teil im Land selbst bleibt.

War es den Einsatz nicht wert?

Fraglos wird es wohl niemanden geben, der den Einsatz als Erfolg bezeichnen würde, Legion sind inzwischen Untersuchungen über Korruption, Missmanagement, Fehleinschätzungen und -entscheidungen, und es tut fast physisch weh, zu lesen, wie inkompetent und ignorant da oft gehandelt wurde.

Aber – und nun entzünden wir die Laterne am Heck von der Coleridge sprach – war das trotzdem Erreichte nicht wert, weiter verteidigt zu werden? Ein paar tausend internationale Truppen, die meisten ohne Mandat – außer zur Selbstverteidigung – zu kämpfen, sicherten bis ins Frühjahr 2021 offenbar, dass viele Provinzen NICHT von den Taliban kontrolliert waren. Wie sonst lassen sich solche Meldungen erklären?

„Seit Anfang Mai, dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen, haben die Taliban mehr als 150 Bezirke neu erobert.“

Heißen diese Meldungen nicht, dass ohne Abzug der internationalen Truppen diese Provinzen aller Wahrscheinlichkeit nicht erobert worden wären?

Mediale Abgesänge

Man muss wiederum kein Experte sein, denn jeder afghanische Fünftklässler hätte voraussagen können, dass dies passieren würde. Kurzum: Die USA und Europa haben sehenden Auges und ohne irgendein politisches oder Kriegsziel erreicht zu haben, dem Feind das Feld überlassen – ohne dass sie militärisch geschlagen worden wären. Sie überließen dabei einem Feind das Feld, von dem ebenfalls jeder afghanische Fünftklässler vor allem aber die Fünftklässlerinnen wissen, was von ihm zu erwarten ist:

„Wenn die Taliban hier an die Regierung kommen, dann waren die 20 Jahre komplett umsonst und wir kehren dorthin zurück, wo wir waren, bevor die internationalen Truppen kamen.“

Dies sagt in einem Interview eine der vielen afghanischen Frauen, die in den letzten zwanzig Jahren immerhin die Chance hatten, zu studieren, zu arbeiten oder sich gesellschaftlich zu engagieren. Wie viele andere auch, hatte sie vermutlich all den Versprechungen aus Washington, Berlin, Paris und Brüssel geglaubt, dass der internationale Einsatz wirklich jenes Ziel verfolge, das etwa in einer Hochglanzbroschüre des Auswärtigen Amtes beworben wurde und, so heißt es dort, darin bestehe, „dass Afghanistan sich mittelfristig selbst helfen kann. Wir müssen es in die Lage versetzen, seine junge Demokratie aus eigener Kraft gegen die Angriffe seiner Gegner zu verteidigen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Land wieder in extremistische Hände fällt.“

Und viele dieser Frauen taten auch alles, damit dieses Ziel irgendwann erreicht werden könnte. Wie viel, das liest man vermehrt dieser Tage in Artikeln, die alle geschrieben sind, als seien es schon Abgesänge:

„Frauen haben in den letzten zwei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht, wobei immer mehr Frauen ihre Ausbildung abschließen und in ehemals männlichen Bastionen arbeiten, darunter Politik, Medien, Justiz, Gastgewerbe und IT. In Städten wie Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif sieht man junge Frauen auf der Straße ihre Smartphones benutzen, westliche Kleidung tragen und sich in Cafés und Einkaufszentren unter Männer mischen.

Präsident Ashraf Ghani hat in allen Provinzen Frauen zu stellvertretenden Gouverneuren ernannt und ihnen Ministerposten übertragen. Frauen haben dank einer Quote 27 % der Sitze im Unterhaus des Parlaments – über dem weltweiten Durchschnitt von 25 %, so die Interparlamentarische Union. Laut der afghanischen Handels- und Industriekammer besitzen Frauen fast 60.000 Geschäfte, hauptsächlich in Kabul, darunter Restaurants, Salons und Kunsthandwerksläden.“

Auch liest man über Frauen, die erklären, notfalls mit der Waffe in der Hand das Erreichte verteidigen zu wollen; über andere, die erklären, auch wenn sie wüssten, dass ihnen bald nichts weiter als die Flucht bliebe, wollten sie so lange wie irgend möglich trotz der Bedrohung bleiben.

Krieg nicht verloren – und damit gewonnen

Derweil informieren amerikanische Sicherheitsdienste ihren Präsidenten, und diejenigen, die es sonst noch wissen wollen, dass sie der Regierung in Kabul noch sechs Monate geben, dann wird sie vermutlich kollabieren. Einer der vielen Gründe dafür sei, dass, wie schon zuvor der Islamische Staat im Irak, die Taliban viel des zurückgelassenen westlichen Militärgerätes erbeuten würden.

Niemand kann voraussagen, was geschehen wird, aber Krieg gewinnt man nicht zuletzt in den Köpfen. Und wenn selbst amerikanische Sicherheitsdienste inzwischen den Sieg der Gotteskrieger als fait accompli behandeln, scheint Widerstand ohnehin zwecklos; sollten diese Frauen also doch besser, statt zur Waffe zu greifen, sich mit dem Unvermeidlichen abfinden.

Wie dies dann aussieht, kann man schon jetzt in den von ihnen neu eroberten Provinzen studieren: da machen die Taliban nämlich genau so weiter, wie sie es bis 2001 im ganzen Land taten. In Afghanistan weiß jeder, dass Meinungsartikel der PR-Abteilung der Gotteskrieger in der New York Times, in denen sie erklären, wie sehr sie sich doch geändert hätten, genau für ein gutgläubiges Publikum verfasst werden; taktisches und folgenloses Geschwätz, um den Ungläubigen, Honig um ihre nicht existenten Bärte zu schmieren.

Sie haben ja gewonnen und werden weltweit auch die Sieger betrachtet. Nicht der dämliche, dekadente Westen hat die Maximen zur Kriegskunst des antiken chinesischen Generals Sun Tzu befolgt, sondern sie, die Krieger Allahs: „Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“

Und außerdem wussten sie von Anfang an, dass in asymmetrischen Kriegen eine weitere Maxime gilt: man selbst braucht den Krieg nur nicht zu verlieren, der Gegner muss ihn auch gewinnen. Auch das wusste Sun Tzu und fasste es in einen Aphorismus: „Wer lange genug am selben Fluss sitzt, wird die Leichen seiner Feinde vorbei schwimmen sehen.“

Anders ausgedrückt, die Taliban haben diesen Krieg nicht verloren – und damit letztens Endes gewonnen, weil sie sich so treu geblieben sind. Heather Barr von Human Rights Watch fasst dies so zusammen: „Die Politik der Taliban unterscheidet sich nicht sehr vor der, die sie vor 2001 verfolgten.”

Auf Silbertablett serviert

Kurzum: Von den Taliban über amerikanische Sicherheitsdienste bis hin zu führenden Menschenrechtsorganisationen wissen es alle: Afghanistan wird den Taliban gerade auf einer Art Silbertablett serviert. Verraten werden dabei alle, die den vollmundigen Versprechungen von Rechtsetzung, Demokratie, Frauenrechten und Frieden Glauben geschenkt und im Land geblieben sind.

Einen irgendwie nachvollziehbaren Grund für diesen Verrat gibt es nicht. Die Folgen für Afghanistan sind aber klar: Entweder schaffen es Regierungstruppen und Milizen den Vormarsch der Taliban zu stoppen, dann kommt es zum Bürgerkrieg; oder die Taliban erobern das ganze Land, dann folgt Scharia-Terror und eine neue Fluchtwelle all jener, die nicht bereits sind unter der Knute der Gotteskrieger zu leben.

Nichts aber fürchtet Europa mehr als mehr Flüchtlinge, weshalb man wohlwollend beobachtet, dass die türkische Regierung gerade ihre Grenzzäune zum Iran verstärkt. Schließlich hat die Zahl der Millionen Binnenvertriebenen innerhalb Afghanistans sich seit Beginn des Jahres um 270.000 erhöht; vermehrt versucht ein Bruchteil von ihnen ins Ausland zu fliehen und laut türkischen Medien versuchten in den letzten Wochen täglich mindestens 500 von ihnen die iranisch-türkische Grenze zu überqueren.

Offenbar scheinen sie nicht bereit, auf die deutsche Bundeskanzlering zu hören, die sich gerade „skeptisch äußerte (…) zur Aufnahme weiterer Menschen aus Afghanistan, die das Land angesichts der drohenden Machtübernahme durch die radikalislamischen Taliban verlassen möchten oder sich in Lebensgefahr sehen. Nicht alles, was dort oder auch in anderen Ländern passiere, könne Deutschland kompensieren.“

Diesen Satz von Angela Merkel hätte Barbara Tuchmann vermutlich ihrem Kapitel über Afghanistan vorangestellt; sein Zynismus erinnert stark an ein Zitat, das man fälschlicherweise Marie Antoinette zuschreibt: Wenn sie kein Brot hätten, sollten die Armen doch Kuchen essenn. Nur: Die Gattin des französischen Königs hat so etwas nie gesagt, derart zynisch waren selbst absolutistische Herrscherinnen nicht.

Gigantischer Fehler

Merkels Äußerung lässt erahnen, wie es weiter gehen wird mit der deutschen und europäische Afghanistanpolitik nach 9/11/2021. Denn mit dem Verrat – und nichts weiter ist dieser Abzug – endet das Fiasko in Afghanistan nicht. Eingetreten ist vielmehr, was 2001 einer prophezeite, der, man muss es ihm im Nachhinein zugestehen, sowohl den Feind als auch sich selbst sehr gut kannte:

„Euer Schicksal wird das der Sowjets sein, die aus Afghanistan geflohen sind, um ihre militärische Niederlage, ihren politischen Zusammenbruch, ihren ideologischen Untergang und ihren Bankrott zu bewältigen.“

Wer das war? Osama bin Laden, der es liebte, solche Briefe an das amerikanische Volk zu schreiben. Würde er heute noch leben, ziemlich sicher adressierte er einen weiteren Brief, in dem er sich vermutlich selbst zitieren würde und sagen: „Seht, ich habe es vor zwanzig Jahren schon angekündigt“. Er kann zum Glück den Erfolg nicht mehr feiern, seine unzähligen Nachfolger allerdings tun es ausgiebig – und ziehen alle die entsprechenden Schlüsse.

Den Preis für dieses Debakel werden also nicht nur Millionen von Afghaninnen und Afghanen zu zahlen haben. Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte, geben zwei Überschriften aus den letzten Wochen:

Der Abzug aus Afghanistan soll bis zum 31. August abgeschlossen sein. Die Laterne ist also noch nicht einmal am ganz am Heck angebracht, und schon ist klar, was in spätestens einem Jahr gängige Meinung sein wird: Der Abzug der wenigen Truppen aus Afghanistan, denen es, bei äußerst geringen eigenen Verlusten, möglich war, die Taliban in Schach zu halten, sei ein gigantischer historischer Fehler gewesen.

Der Beitrag erschien bereits in der Jungle World und Mena-Watch.

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Bochumer
Bochumer
3 Jahre zuvor

Vieles scheint mir richtig, eines aber nicht. Es haben deswegen so wenig Truppen gereicht, weil die Taliban sich zurückgehalten haben, um den von Trump angekündigten Rückzug nicht zu gefährden. Sonst hätte es mehr Truppen gebraucht.

Es war natürlich falsch, in Afghanistan einzumarschieren. Da kein Ziel erreicht wurde, ist das offensichtlich.

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