Alles Absteiger

Industrieruine im Ruhrgebiet Foto: Laurin


Als jemand, der die meiste Zeit seines Lebens im Ruhrgebiet gelebt hat, in Gelsenkirchen geboren wurde, in Gladbeck aufgewachsen und nun in Bochum wohnhaft ist, bin ich ein Experte für Abstiege. Seitdem ich mich erinnern kann, steigt meine Umgebung ab, werden meine Nachbarn ärmer, nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu und verfallen die Städte. Mittlerweile bekommen wir hier von Besuchern aus Ostdeutschland Kaffee, Stollen und Zigaretten geschenkt. Wenn ich in ihre Augen blicke, sehe ich Tränen und Mitleid.

Als Abstiegsexperte habe ich vor vier Jahren bereits einen Vortrag in Stuttgart gehalten. Ich begrüßte angesichts der sich schon damals abzeichnenden Auswirkungen von Energie- und Verkehrswende auf die noch reiche Region die Zuhörer mit den aufmunternden Worten „Hallo Stuttgart, ich komme aus ihrer der Zukunft, ich komme aus dem Ruhrgebiet.“

Damals hatte der VfB-Stuttgart schon lange die Form eines Ruhrgebietsvereins: Zwei Abstiegen. Ende der laufenden Saison könnte der dritte folgen. Stuttgart ist auch sportlich auf dem Weg das Wanne-Eickel Schwabens zu werden.

Was keine Schande ist. Alle Vereine, die beim Start der Bundesliga 1963 dabei waren, sind mindestens einmal abgestiegen. Zuletzt erwischte es 2018 den Hamburger Sportverein. Lange hatte sich der dahinsiechende „Dino“ der Liga gegen seinen Niedergang gewehrt. Zu verhindern war er nicht. Und immerhin spielt der HSV seitdem in der zweiten Liga. Das ist nicht schlecht. Die meisten der über 24.000, abzüglich der 18 Mitglieder der 1. Liga, im Deutschen Fußballbund organisierten Vereine würden sofort mit Hamburg tauschen.

Der 1. FC Saarbrücken zum Beispiel: Der war lange fünftklassig und spielt in dieser Saison in der 3. Liga. Oder Preußen Münster, die zurzeit in der Regionalliga West hinter Titanen wie dem 1.FC Kaan-Marienborn, 1. FC Düren und SV Lippstadt stehen.

Bei anderen Vereinen gehört der Wechsel zwischen Ab- und Aufstieg längst zur DNA: Der VfL Bochum ist eine bekennende Fahrstuhlmannschaft. Kaum jemand würde den Verein der zwischen Schalke 04 aus Gelsenkirchen und der Borussia aus Dortmund eingeklemmt ist kennen, würde er nicht ständig auf- und absteigen: Noch nie hat man irgendwas gewonnen, als der Verein kurzzeitig im UEFA-Cup spielte musste sich der damalige Trainer Peter Neururer höchstselbst ins Kartenhäuschen setzen, damit zumindest ein paar Menschen Karten aus Mitleid kauften und Parkplätze gibt es selbst während der Spiele in den Straßen rund um das Ruhrstadion spätestens 20 Minuten nach Spielbeginn in Hülle und Fülle.

Anders sieht das natürlich beim bereits erwähnten Nachbarn Schalke 04 aus. Der Verein ist Rekord-Ambitionsmeister und seine Anhänger sehen ihn gefühlt auf Augenhöhe mit Bayern München, Real Madrid oder Manchester United. Die schlichte Tatsache, dass man die letzte Meisterschaft 1958, dem Jahr, in dem sich auch der oft übersehene Deutsche Ponyclub gründete, gewann, stört das Selbstbild nur in überschaubarem Maße. Jeder Abstieg, und von denen gab es bereits vier, hat die Schalker Seele schwerst geschmerzt. Was untypisch für das Ruhrgebiet ist: Hier hat man sich längst mit dem Abstieg damit abgefunden. Ambitionen sind den Menschen wie der Politik fremd und man freut sich auf die Päckchen von drüben. Bei Schalke und seinen Anhängern ist das anders: Man will nach oben und kämpft gegen den Niedergang, den die Region und ihre Menschen längst schulterzuckend akzeptiert haben. Der Spruch des Bochumer Schriftstellers Frank Goosen „Woanders is auch scheiße“ bringt diese Mentalität auf den Punkt.

Mit vier Abstiegen liegt Schalke allerdings nur im Mittelfeld: Der mit dem Verein eng befreundete 1. FC Nürnberg gelangen schon neun Abstiege. Damit sind die Franken Rekordhalter.

Wenn es soweit ist und einem Verein das Ende in der ersten Liga droht nutzen Trainer gerne mit dem Floskelmator ein Gerät, das sicher bald auch durch ChatGPT ersetzt wird, um sich und den Fans Mut zu machen: In den Kabinen gibt es kaum noch Platz zu, denn man „muss enger zusammenrücken“. Manche entdecken oft nach Jahrzenten ihre Liebe zur Mathematik, denn „Solange rechnerisch noch etwas möglich ist“, wird nicht aufgegeben  und man weiß ja auch, dass es reicht „ein Tor mehr zu schießen als der Gegner“. Viele werden auch religiös und bauen darauf, dass der Glaube Berge versetzen kann. Wer über medizinisches Fachwissen verfügt ist beruhigt wenn er feststellen kann, dass das Herz noch schlägt, was ja immer eine gute Nachricht ist, wie einem jeder erfahrene Arzt bestätigen kann, denn klar ist: Die Hoffnung stirbt zuletzt“.

Abstieg ist wie alles auf der Welt nie nur schlecht. Erinnert sich noch jemand an all die Autos, die bei Turnieren der Nationalmannschaft mit Deutschlandfähnchen durch die Städte fuhren? Das ist lange her. Der Deutsche Fußballbund hat sich der Bekämpfung des Nationalismus auch in der Version des Fußballpatriotismus verschrieben. Eine Aufgabe, die nicht nur ernst genommen, sondern auch konsequent umgesetzt wurde. Heute drohen Trainern Kindern, die in der F-Jugend spielen damit, dass sie für Nationalmannschaft aufgestellt werden, wenn sie sich weiter beim Training keine Mühe geben. Bei der Weltmeisterschaft 2018 trat „Die Mannschaft“ erstmals mit einer klaren Anti-fußballpatriotischen Agenda an und schied schon in der Gruppenphase aus. Bei der Europameisterschaft kam die deutsche Mannschaft peinlicherweise ins Achtelfinale, scheiterte dann aber zum Glück gegen England. In Katar war man dann wieder auf Kurs und konnte nach drei Spielen den Rückflug antreten. Nie waren deutsche Nationalmannschaften so sympathisch, nie machte es so viel Spaß, ihre Spiele zu verfolgen und nie waren die Nächte ohne hupende Fans von so angenehmer Ruhe.

Abstieg ist aber auch ein Thema mit dem einzelne Spieler unterschiedlich umgehen. Nicht alle besitzen die Würde, nach ihrer Karriere einfach ein Leben als zufriedene Alkoholiker am Beckenrand des Swimmingpools ihrer Villa zu führen. Mario Basler stemmte sich nach seiner Zeit beim 1. FC Kaiserslautern noch als Spieler von Al-Rayyan, einem Verein der katarischen Operettenliga, dem ATSV Wattenheim, BCA Oberhausen, TuS Rüssingen und dem TSG Eisenberg gegen die drohende Bedeutungslosigkeit. Wie viel Leid wäre dem Mann erspart geblieben, wenn er sich stattdessen Bier aus dem Keller geholt hätte?

Auch Kevin Großkreutz ist so ein bedauerlicher Fall: Nachdem ihn der Oberligist TuS Bövinghausen als Trainer abserviert hat, will der ehemalige Welt- und Doppeldeutschermeister in der kommenden Saison für Wacker Obercastrop (Motto:  „Wir sind Wacker! 100% Herzblut“) in der 6. Liga spielen.

Als Besitzer von zwei sich etwas großspurig Restaurants nennenden Ballerbuden in Dortmund könnte er sich sein Bier sogar gezapft an den eigenen Tisch bringen lassen.

Der Text erschien in ähnlicher Form bereits in der Jungle World

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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