Alles außer Koalas


Vergessen Sie den Titel im Rosamunde-Pilcher-Style und freuen Sie sich auf ein großartigen Roman für alle Leser ab 14 Jahre.

Die Handlung: Ein Austauschjahr in Australien. Alles soll sich ändern, findet Jannik, als er auf die andere Seite der Welt reist. Vor allem er selbst. Wenn er sich neu erfinden könnte, wäre Jannik gerne so rätselhaft wie Sienna, die das Meer und ihre Freiheit liebt, die Jannik nahekommt und ihn dann doch immer wieder voller Fragen im Regen stehen lässt. Oder wenigstens halb so lässig wie sein Gastbruder Neil, der scheinbar alles kann. Neil Maden ist ein guter Typ, aber verdammt verschlossen. Die ganze Familie – allen voran der depressive Vater – hütet ihre Probleme wie geheimnisvolle Schätze – bis Ruby wegläuft, die jüngste Tochter der Madens. Als Jannik erfährt, dass Sienna die Ex-Freundin seines Gastbruders ist und sie nach der Beerdigung ihrer Oma spurlos verschwindet erkennt Jannik, dass das Erwachsenwerden auf der anderen Seite des Globus mindestens genauso kompliziert ist, wie in Berlin.

Die Autorin Nora Joana Hoch, geboren 1983 in Bochum, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis‹ in Hildesheim und arbeitet als Dramaturgin und Theaterpädagogin am GRIPS Theater in Berlin. »Das Salzwasserjahr« ist ihr Debütroman.

Das Salzwasserjahr“ ist vom Genre her eine typische „Coming-of-Age“-Story; Jannik muss aus der Sicherheit des heimischen Nests heraus, um in der fremden Umgebung das andere Ende der Welt und damit sich selbst neu kennenzulernen. Doch der scheinbare Sehnsuchtsort Australien entpuppt sich im subjektiven Erleben Yanniks als mindestens genauso kompliziert, wie die Heimat. Das betrifft insbesondere Sienna, der er das erste Mal begegnet, als sie Nachts am Strand von ihrem Surfbrett steigt:

Und dann konnte ich deutlich sehen, dass sie nicht nur aus Gesicht, Händen und Füßen bestand. Sie hatte wesentlich mehr Körper. Ein Körper so nass, dass sich das Mondlicht darauf spiegelte. Im Ernst. So verhält sich das nun mal mit Wasser und Licht und es ist dem Licht auch scheißegal, ob das kitschig klingt. Aber darüber hinaus war ihr Körper nicht nur nass, sondern auch schön.
So schön, dass ich einerseits das Gefühl hatte, ich dürfte nicht hinsehen, und so, als könnte ich andererseits überhaupt nie wieder irgendwo anders hinsehen.
„Kannst du drehen?“, fragte sie mich, ohne sich umzudrehen.
Konnte ich natürlich nicht. Aber ich hätte so gerne Ja gesagt. Das hätte bedeutet, dass wir einen lockeren Start gehabt hätten – drehen, quatschen, bitte schön, kein Ding. Aber so laufen diese Dinge nie, jedenfalls nicht bei mir. Ich schüttelte also den Kopf und weil sie immer noch mit dem Rücken zu mir stand und das nicht sehen konnte, drehte sie sich endlich zu mir um.
Ich versuche gerade, mir das Rauchen anzugewöhnen. Ich finde, ich sollte mehr schlechte Angewohnheiten haben. Aber ich drehe einfach miserabel.“, sagte sie und sah mich dabei fest und unverstellt an.
Ohne zu lächeln. Welches wären wohl meine schlechten Angewohnheiten?, fragte ich mich. Bräuchte ich hier andere als zu Hause? Dann machte sie einen Schritt nach vorn, um ihr Handtuch anzuheben und verzog das Gesicht, als hätte sie plötzlich Schmerzen.
„Was ist?“, fragte ich.
„Mein Knie…“, sagte sie. „Ich glaube, es steckt was drin.“
Mit dieser Ansage stemmte sie sich zu mir auf die Mauer. Ohne zu zögern legte sie ihr Bein quer über meine Beine. „Würdest du mal nachsehen?“
Wenn ich sage, dass mich diese Frage überraschte, dann ist das lächerlich untertrieben.
„Im Dunkeln?“, fragte ich etwas hilflos. Ich konnte nicht fassen, dass dies die ersten Worte waren, die ich an sie gerichtet hatte.
„Du sollst nicht mit den Augen suchen. Da findest nichts. Mit der Zungenspitze am besten. Ich komme selbst nicht dran. Mit der Zunge fühlst du, wenn was drinsteckt, viel besser als mit den Fingerspitzen. Aber das kann ich nicht selbst machen.“
Aber ich…“ Ich war absolut sprachlos.
„Du weißt doch noch nicht einmal, wie ich heiße.“ war das Einzige, was mir dazu einfiel.
Sie seufzte. „In Byron wohnen keine 5000 Menschen. Die kennen sich alle mindestens flüchtig oder über Umwege. Dich habe ich hier noch nie gesehen. Du bist also nur vorübergehend hier, auf Reisen oder so. Insofern kann es mir egal sein, was du von mir und meinem Knie hältst. In ein paar Tagen bist du weg und keiner von uns erinnert sich danach an diese Unterhaltung.“
Ich sah sie an und legte vorsichtig meine Hände um ihr Bein.
„Ist das okay so?“ fragte ich.
„Sie nickte langsam. Ihr Knie blutete noch, aber nur ganz leicht.
„Die große Scherbe habe ich schon rausgezogen, aber irgendwas ist da noch.“, sagte sie.
„Wie sieht es denn aus?“, fragte ich.
„Ganz ehrlich? Ich habe mir das Ding nicht angesehen, bevor ich es da reingesteckt habe. Ich bin vom Brett gefallen und unter Wasser mit dem Knie im Sand gelandet. Da muss was im Sand gelegen haben. Würdest du jetzt bitte?“
Sie hob ihr Bein ein Stück an und ich wäre fast nach hinten über die Mauer gekippt, weill sich ihr Handtuch dabei bewegte und sich auch ihre Beine bewegten, und zwar in meine Richtung und das war erstaunlich viel Bewegung für einen Abend.
Ich beugte mich über ihr Knie und schloss die Augen.
Mit der Zungenspitze tastete ich vorsichtig die Haut ab und musste plötzlich daran denken, wie meine Eltern das früher bei mir gemacht hatten, wenn ich als kleines Kind einen winzigen Splitter in der Haut hatte oder einen Insektenstachel. Ich schmeckte Eisen und meine Zunge fühlte etwas Spitzes. Ich begann, sachte zu saugen, und spuckte Blut und das kleine Etwas neben mich in den Sand.
„Siehst du, war doch gar nicht so schwer.“, sagte sie und da sah ich sie zum ersten Mal lächeln. Ich ließ meine Hände noch einen winzigen Moment länger auf ihrem Bein liegen, als es nötig gewesen wäre und wunderte mich, wie warm sie war, obwohl sie doch gerade aus dem Wasser kam.

Diese Boy-meets-Girl-Szene bringt einige literarische Qualitäten der Autorin auf den Punkt: Hohe Sensibilität für die poetische Beschreibung der körperlichen Anziehungskraft, die Sienna auf Yannik ausübt, die Unsicherheit des Heranwachsenden Yannik, der nämlich nicht drehen kann, die Einführung der weiblichen Protagonistin in ihrer Unangepasstheit, spricht sie doch davon, dass sie an ihren schlechten Angewohnheiten – wie sich das Rauchen anzugewöhnen – arbeitet, ein Gespür für einerseits komische Situationen, in der der Protagonist sich plötzlich wiederfindet, soll er doch als Notarzt der Stunde ein ihm wildfremdes Mädchen auf durchaus intime Art und Weise berühren, ebenso komisch ist die unsentimentale Art, wie Sienna die Situation herunterspielt, indem sie ihn lapidar zum Touristen auf der Durchreise degradiert und eine sprachliche Balance, welche die Situation zwischen den beiden trotzdem knistern lässt.

Man merkt dem Roman in jedem Satz an, dass die Autorin aus der Praxis des Jugendtheaters kommt, Thematik, Situationen und Sprachlichkeit sind immer hart an der Realität und getragen vom Verständnis für die Situation des Lebensalters der Ich- und Sinnsuche. Flankiert wird die Story durch die liebevollen Kapiteltitel und Illustrationen von Annika Heine, die das Schriftbild maximal auflockern – der gesamte Typohintergrund ist von der ersten bis zur letzten Seite als Schulheft dezent mit Schreiblinien und Tintenklecksen gestaltet, so dass der Eindruck eines Tagebuchs entsteht. Die Illustrationen kommentieren dort präzise, wo das Bild der Sprache eine weitere Ebene verleiht. Eine hervorragende Zusammenarbeit von Autorin und Illustratorin, die beide um die richtige Mischung von Text und Zeichnungen für die Leser wissen.
Die Leser begleiten Jannik durch sein Austauschjahr mit einigen emotionalen Höhen und Tiefen, vielen Einwort-Nachrichten, die Jannik und Sienna sich gegenseitig auf kleinen Zettelchen zustecken und der Entwicklung Janniks, der weitab der Heimat erkennt, warum sein Berliner Schulfreund Levin nicht wie geplant mit ihm gemeinsam das Austauschjahr absolvieren konnte, nachdem diesem seine iranisch-afghanische Freundin Shirin plötzlich abhanden kam. Dass diese wichtige Hintergrundproblematik erst im letzten Teil des Romans urplötzlich anklingt, überrumpelt den Leser und ist die einzige dramaturgische Schwachstelle: Schlecht vorstellbar, dass der selbst schwerverliebte Jannik nicht bereits in der besorgniserregten Situation von Siennas Verschwinden die Parallelen zu Levins Situation des Verlusts vor seiner Abreise erkannt hätte. Gehen wir als Leser davon aus, dass er es tatsächlich in der Flut der neuen Eindrücke verdrängt hat:

Ich konnte das Haus atmen hören – mit all seinen Bewohnern. Ich hörte die Wanzen darin, die sich durch das Haus fraßen. Ich hörte Cory schwer atmen. Ich hörte seinen Atem, der so unglücklich klang, als würden die Lungen vor lauter Frust über den Boden schleifen. Schwer und laut. Ich hörte Ruby toben, basteln, trampeln und summen. Sogar das Kritzeln ihrer Buntstifte auf Papier und auf dem Fußboden konnte ich hören. Ich hörte Neil in seine Computertastatur hacken. Ich hörte seine Chipstüten rascheln. Ich hörte Analeigh spülen, saugen, wischen, fegen und kochen. Ich hörte Sams Abwesenheit. Ich hörte die Madens husten. Ich hlrte sie duschen, ich hörte ihre Klospülung und ich hlrte sie schnarchen. Alle. Dieses Haus wollte kein einziges Geheimnis für sich behalten. Alle Fenster waren immer geöffnet. Ich hörte die Giftkröten im Garten. Ich hörte fremde Vögel über das Dach fliegen. Und natürlich hörte ich das Meer.

Das ist die präzise Beschreibung des Jugendlichen, der sich zum ersten mal außerhalb der Berliner Backsteinbautenwelt wiederfindet und das sehr sensibel reflektiert, wie oben erwähnte Abwesenheit der älteren Gastschwester Sam. Diese Reflexion des Protagonisten macht „Das Salzwasserjahr“ zu einem gelungenen Romandebüt, die Illustrationen machen es zu einem kleinen Buchkunstwerk Die Autorin Nora Hoch hat gemeinsam mit ihrer Illustratorin Annika Heine ein großartiges Jugendbuch geschrieben, das sie auf Anhieb in die literarische Liga von Autoren wie Wolfgang Herrndorf katapultiert. Uneingeschränkte Leseempfehlung für Leser ab 14 Jahre.

Nora Hoch: Das Salzwasserjahr
Mit Illustrationen von Annika Heine
Roman, 224 Seiten broschiert
DTV Verlagsgesellschaft 24. Juli 2020
ISBN 13 978-3423740616 13,95 € (Paperback)
ASIN B086XDG14F 10,99 € (Kindle)

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