Es ist einer der faszinierenden Aspekte des Jazz, dass sich wie in keiner anderen Musik die Persönlichkeit des Künstlers in seiner Musik wiederfindet. Je näher man sich mit einem Musiker beschäftigt, desto mehr scheint man seinen Charakter in seinen Stücken zu erkennen und je mehr von seiner Musik man hört, desto besser scheint man den Menschen dahinter kennenzulernen.
Natürlich ist vieles davon Spekulation. Doch ich glaube nicht, dass ich mich irre, wenn ich sage, dass McCoy Tyner ein bescheidener und liebenswerter Mensch war, ein loyaler, ruhiger und doch von tiefer Leidenschaft und gewaltiger Liebe erfüllter Mensch. Liebe zur Musik, vermutlich auch Liebe zu den Menschen.
Es wäre ein großer Fehler, in McCoy Tyner nur „Coltranes Pianisten“ zu sehen. Coltrane selbst hat oft betont, wie wichtig Tyner für seine eigene musikalische Entwicklung war. Nur durch dessen harmonischen Überfluss, durch diese schiere Masse an Klängen, die wie der Ausbruch der Natur im Frühling überreich und zugleich wunderschön war, gewann Coltrane die Freiheit für seine eigenen melodischen Expeditionen. Beide haben sich gegenseitig befruchtet, ein Pollenflug der Ideen, ein Humus für Musik.
Wenn man die späteren Alben von Coltranes klassischem Quartett hört, dann zeigt sich, wie frei, wie weit „out there“ Tyner mitspielen konnte, aber das Unfassbare ist, dass er dabei stets und ausnahmslos wunderschön und lyrisch klingt. Er malt gewaltige Bilder voller Details, fast schon brachial, aber dieser Bilder sind immer in feinen, warmen Farben gehalten. Coltrane selbst kann auch wütend klingen (wobei das wirklich wütende auf seinen späteren Alben von Pharoah Sanders kommt), aber Tyner erdet das immer mit lyrischer Schönheit. Auch wenn diese Schönheit so mächtig sein kann wie die aufbrechenden Himmel auf manchen religiösen Gemälden.
McCoy Tyner ersetzte ein ganzes Orchester. Der Mann schient mindestens vier Hände zu haben. Und er hat in seiner Zeit mit Coltrane nicht nur seinen individuellen Weg gefunden, sondern er hat einen Stil erfunden. Bis heute hört man ein „tyner-artiges“-Spiel überall. Don Pullen oder Joanne Brackeen können (und wollen sicherlich) nicht verbergen, wer sie beeinflusst hat.
Gewissermaßen war Tyner das Gegenteil von Cecil Taylor, aber beide einte eine unerschöpfliche Energie, eine niemals endende Fantasie. Beide wurden alt, als würde diese fast schon übernatürliche Audruckskraft sie am Leben erhalten. Beide hoffte ich, eines Tages noch live erleben zu können. Bei beiden war es mir nicht vergönnt. Taylor war wohl ein schräger Vogel. Es sind auch Situationen überliefert, in denen er nicht sehr sympathisch rüberkommt. Von McCoy Tyner kenne ich keine solche Anekdote. Ich glaube, der war immer sanft zu seinen Mitmenschen. Und warum auch nicht, wenn man diese große Liebe kennt, diese Leidenschaft, auch Traurigkeit. Warum bitter sein oder eitel oder neidisch, wenn man eine solche Macht in den Fingern hat, wie er.
Mit McCoy Tyner ist einer der größten Pianisten aller Zeiten von uns gegangen.
Der Autor schreibt hier regelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.