Na klar. Platten sind Individuen, mit einer Geschichte, einem Charakter, Stärken und Schwächen. Das gilt ganz besonders für gebrauchte Platten. Ich habe zwei große Strömungen in meiner Sammlung: Neues Vinyl mit Gitarrenmusik und gebrauchte Jazz-Platten. Natürlich gibt es auch Ausreißer. Aber zumeist kaufe ich Musik aus dem Metal-, Hardcore- und Etcetera-Bereich frisch beim Mailorder. Ich bin sowieso kein systematischer Sammler, der unbedingt alte Lücken füllen muss und dafür bei Discogs und Ebay Archäologe spielt. Aber neben den neuen Gitarrenalben kaufe ich Jazzplatten und da am liebsten Second-Hand. Das müssen keine Erstpressungen sein (auch wenn ich die natürlich nicht verschmähe, sofern erschwinglich).
Wenn ich die Wahl zwischen einer dreißig Jahre alten Nachpressung und einer neuwertigen Nachpressung habe, nehme ich lieber die alte. Ich liebe es, wenn die Platte eine Geschichte erzählt, ein Vorleben hat. Man sieht schon an der Pappe des Covers, aus welchem Zeitalter sie stammt. Man sieht an den Abriebspuren, ob sie zwischen vielen anderen eingepresst x-fach umgezogen ist oder ob sie vielmehr im Dauergebrauch rotierte und dem Vorbesitzer ständig durch die Finger ging. Manchmal hat jemand was draufgeschrieben. Meistens stört mich das nicht. Ja, es ist ein Makel. Aber es gibt ihr auch Leben. Manche Vorbesitzer schreiben die Dauer der Stücke daneben (mit Kuli). Warum? Vielleicht für Mixtapes. Manche notieren das Aufnahmedatum. Das interessiert mich dann auch. Manche schreiben fett ihren Namen drauf, in schwungvoller Unterschrift. Narzissten, die jeden Besitz markieren müssen. In einer David Murray-Platte fand ich eine Widmung und die verdammte Unterschrift des Meisters!
Manche der Platten stammen aus ganz komischen Zeiten, Anfang der 80er, als das Artwork seltsam lieblos und steril war. Andere sind geradezu pompös ausgestattet, mit tollen Bildern und viel Information. Manche sind so bunt wie die LSD-Trips der Hippies, die ihre Zeit prägten. Andere sind aus den 50ern, als Dinge noch wertvoll waren und die Massenproduktion noch keine digitalen Billigklone ausspieh. Man sieht das, dass so eine Platte irgendwie mehr Wert hat, dass da noch ein bisschen mehr Handarbeit drinsteckt als in einem heutigen Produkt.
So eine Second-Hand-LP, die nimmt im Äther mehr Raum ein, die ist ein Lebewesen.
Der Autor schreibt hier alle zwei Wochen über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.
Bzgl. der Nachhaltigkeit ist es sicherlich klasse, dass der Autor Platten mit "Macken" mag.
Ich ziehe dann doch digitale Musik vor. Kein Qualitätsverlust, Kein Raumbedarf, kein Papier und Plastikmüll.
Irgendwie ist unsere Zeit komisch:
Platten mit Macken sind wie "Lebewesen".
Dann gibt es für die ökologisch korrekte Gesellschschaft folgende Widersprüche:
Das Hemd wird aber beim ersten Mini-Loch ausgemustert, der Schuh darf keinen Flecken haben und die Möbel fliegen alle 5 Jahre raus. Das Hemd muss auch 1a sitzen und ultramodern sein….
Was spricht eigentlich gegen die längere Nutzung von vielen Gebrauchsgegenständen, die dann auch Zeichen eines Lebens hatten. Früher hielten Schuhe auch mehrere Leben.
Wobei ich meine, in Bezug auf Kleidung gilt das Gleiche: Hochwertige (und damit zumeist solche aus früheren Jahrzehnten) altert sehr viel besser und verträgt es durchaus, mal geflickt zu werden oder etwas abgetragen zu sein. Der Ramsch von heute hingegen sieht nach einmal Waschen schon aus wie Müll. Ja, ich kaufe auch gerne Second-Hand-Klamotten.