Alltagssplitter (17): Schwarmdummheit – systemisch, sibyllinisch

Blinde Seherin
Der Name ‚Sibylle‘ steht bekanntlich für ‚Prophetin‘, ‚Seherin‘ – und am 27.2. habe ich auf meiner Facebook-Seite über Meldungen zu Sibylle Lewitscharoffs Auftritt bei einer Festveranstaltung des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands in Leipzig geschrieben:
„O Gottogott: Dass auch kluge Leute beim Thema ‚Religion‘ und (fiktiver) ‚Gott‘ so hurtig ihren Geist aufgeben. Nun schwätzt Sibylle Lewitscharoff dumpfes Zeug: ‚Zwar sei die Lehre, dass der Mensch Sünder ist, aggressiv, aber auch zutreffend…‘ usw. usf.
Eine Büchner-Preisträgerin!
Und die ‚Kulturbeauftragte‘ (Jesses!) der EKD, Bahr, setzte laut www.idea.de noch einen drauf: „Die Sprache im Gottesdienst sei häufig ‚kolossale Wortverschwendung‘. Nötig sei mehr Furcht und Erschrecken im Gottesdienst. Bahr: ‚Furcht ist der Anfang der Liturgie.’‘“
Ach was, meine Damen! Furcht ist vor allem der Anfang großer Dummheit.“

Gottloser Hitler und all die anderen Teufel
Am 2. März hat Sibylle Lewitscharoff in ihrer Dresdner Rede dann nachgelegt (und selbst der Vorbehalt gegen kontextloses Stellenlesen kann die folgenden Sätze nicht retten):

Über ihre Großmutter:
„Eine Frau mit nur notdürftiger Bildung, die aber im Gegensatz zu vielen Personen aus den gebildeten Ständen rasch begriff, dass Adolf Hitler ein gottloser Teufel war, der Deutschland in den Abgrund riss.“
So erklärt sich natürlich alles! Ein „gottloser Teufel“ hat Deutschland „in den Abgrund gerissen“. Super-Analyse. Das nenne ich mal Weisheit: Komplexe Zusammenhänge erkennen, verstehen und auch darstellen können.

Sibylle völlig berauscht von Gottes Gnade. Stimmt schon, „Religion ist das Opium des Volkes
O-Ton Lewitscharoff: „Mir kommt eher die Vorstellung, dass ich Herrin über mein Schicksal wäre, reichlich absurd vor. Ganz einfach, mein Schicksal liegt in Gottes Hand und nicht in meinen Händen.“
(…)
„In den seltenen Momenten der Glückseligkeit, die mir vergönnt sind, wenn mich angesichts des blauen Himmels ein kleiner Rausch befällt, dass Gottes Gnade vielleicht auch über meinem Scheitel waltet, ja, sogar die Gewissheit in mich fährt, dass dem so sei, denke ich: Lass die Ängste, lass die Sorgen fahren, es wird gut gehen, du wirst Einsichten erlangen, die du dir niemals hast ausmalen können.“
Chapeau! Scheint ja ausgezeichnet geklappt zu haben.

Sind die Nazis flott relativiert, schwadroniert sich’s ungeniert
Über Reproduktionsmedizin: „Mit Verlaub, angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor. Ich übertreibe, das ist klar, übertreibe, weil mir das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“

Welche Vernunft? Fragt man sich.
Gut, dass Thomas Diez auf SPIEGEL ONLINE über eine solche „Herrenreiterin des Kleingeists“ das Nötige gesagt hat.

Provinz ist da, wo man sie zulässt
Ob es immer hülfe, wenn sich Sturzbetroffene zusammentäten? Esoterische Schwestern im Geiste Lewitscharoffs findet man nämlich überall, sie sind halt nur nicht so eloquent.
Vorgestern im lokalen Anzeigenblättchen unter „Mietgesuche“:
„Ich möchte in G. eine FrauenWG gründen. Dazu suche ich Mitbewohnerinnen. Ich bin 48 Jahre alt, sehr ruhig und zurückhaltend. Nach mehreren Schicksalsschlägen suche ich Mitbewohnerinnen (,) denen es ähnlich geht. Zuschr. u. ….“
Wie? Ähnlich? Sollten die künftigen Mitbewohnerinnen auch mehrfach vom Schicksal geschlagen worden sein oder bloß „sehr ruhig und zurückhaltend“? Aber wenn sie Letzteres wären, würden sie sich dann auf diese Anzeige hin melden? Das will ich doch nicht hoffen.

Mir fehlt dem Vertrauen
Im selben Blättchen: „Rückenprobleme mit sanfte Chiropraktik behandeln. (…) Naturheilpraxis (…)“.
Ne, glaube ich nicht, dass sich da noch was einrenken lässt.

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Heilsteinen werfen!
„Esoterik & Naturheiltage ‚Spirit und Life‘, Herten, Glashaus …“.
Die in dieser Anzeige abgedruckte Webadresse führt auf die Homepage von „Spirit und Life“ mit Angeboten wie:
– „Aurafotografie & -interpretation“
– „Schamanin Uma Uschi Omland – Beratung, Behandlung, Seminare,
www.uschi-omland.de“, und tatsächlich auch zum …
– „Kaffeesatzlesen“!

Womit wir wieder bei Sibylle Lewitscharoff wären
Ihr empfehle ich bei „Spirit und Life“ das Angebot: „Räucherwerk & Zubehör – www.heiliger-duft.de“. Gott befohlen, adieu, adios, adjö, ade.

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Lichtwesen
10 Jahre zuvor

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Lichtewesen
10 Jahre zuvor

„…könnte man sie getrost vergessen…“

genau. Kann man vergessen.

Aber Frau Lewitscharoff hatte doch wohl keine „mystische Krise“, die aus ihr plötzlich einen ganz anderen Menschen machte:

wem hat die „Kulturwelt“ also vorher applaudiert? Wofür gab’s die Preise?

Thomas Wessel
Admin
10 Jahre zuvor

@ Gerd Herholz | Die Rede der Lewitscharoff ist weniger ein esoterischer als literarischer Fall und eigentlich eine Gelegenheit, daran zu erinnern, dass sich die Qualität von Literatur an literarischer Qualität misst und nicht daran, ob einem gefällt, was sie erzählt. Die Paradebeispiele kennen Sie: Ezra Pound und Louis-Ferdinand Céline, der eine ein bekennender Faschist, der andere überzeugter Antisemit, beide als Schriftsteller anerkannte Größen.

Ob Frau L. fromm ist oder nicht, esoterisch, reaktionär oder piefig, ob man einen „Bekenntniszwang“ vermutet oder „Mission“ heraufziehen sieht – literarische Kriterien scheinen mir das alles nicht zu sein. Sie zitieren eine Agentur-Meldung über eine kirchliche Tagung zur Liturgie, aber nicht einen Satz aus den vielen Laudationes der vielen Preise, die über L. verhängt wurden. Waren die denn alle ein Versehen, ein literaturwissenschaftliches? Und wenn, worin besteht dieses Versehen, lässt sich da was erkennen?

Für „religiöses Geschwurbel“; wie Sie schreiben, wurde L. jedenfalls nicht geehrt. Als sie den Büchner-Preis bekam, die allerhöchste Weihe, hieß es in der Laudatio auf sie: „Eine einzige Prosaseite genügt, um in Sibylle Lewitscharoff eine beinharte Verteidigerin jener Literatur zu erkennen, die sich in erster Linie als Kunst versteht, als Form ästhetischer und sprachlicher Pracht.“

Sollte man nicht um der Literatur willen eine Ehrenrettung der Literatin versuchen? Es zumindest versuchen?

Helmut Junge
Helmut Junge
10 Jahre zuvor

Gerd, wenn sich zwei Literaturgebildete trauen zu fragen, wofür diese Frau ihre Preise und für was sie viel Lob bekam, wage ich, der schöngeistige Literatur nur als Randphänomen kennt, und eigentlich so etwas auch nur mühsam, wenn überhaupt versteht, auch mal zu fragen, warum sie jemals Preise bekam. Ist denn solch ein Denken, also all das, was jetzt deutlich zum Vorschein kommt, nicht tief angelegt? Ist „Literatur“ so was abstrakt Freies, und ohne Beeinflussung durch das Denken Machbares? Oder hat man es nicht bemerkt, daß da etwas merkwürdiges in ihren Bildern war, wollte es aber gar nicht sehen, weil man fasziniert war von den schön aneinadergereihten Worten?

Lichtewesen
10 Jahre zuvor

PONG

Einem Verrückten gefällt die Welt wie sie ist, weil er in ihrer Mitte wohnt. Nicht irgendwo in irgendeiner Mitte, sondern in der gefährlich inschüssigen Mittemitte, im Zwing-Ei. Ein unbedacht aus diesem Heikelraum weggerücktes Haar brächte die Welt ins Wanken und dann auf Schlingerkurs Mond Sonne Milchstraße ade systemwärts e´- e´. Das alles weiß der Verrückte genau und hütet sich, zum Beispiel seinen Arm in eine zu hohe Grußstellung zu heben, damit nicht Unglücke geschehen, Felsbrocken herabstürzen, große Brocken auf kleine, noch größere auf schon stattliche, und die zarten Angeln zerbrechen, in denen die Welt hängt. Ihm, das versteht man ja leicht, sind nur winzige Bewegungen erlaubt, und es schmerzt ihn, wenn man ihn von einem Bett ins andre trägt oder in ein schiefes Zimmer stellt, denn er liebt die Welt wie sie ist, er liebt sie, er liebt sie. Und sonst? Noch irgendwelche Sorgen? Ja. Leider Sorgen die Menge.

Die Sorge, daß ein Knopf abspringt.

Die Sorge, daß man ihn bloß hingekritzelt hat.

Die Sorge, daß seine himmlischen Verbindungen verlorengehen.

Die Sorge, daß man durch seinen Nabel Frost einbläst.

Die Sorge, daß falsche Gemahlinnen ihn bei Gericht verklagen.

Der Mann besteht aber nicht nur aus lauter Sorgen und Vorsicht. Plötzlich bekommt er einen gewaltigen Appetit. Obendrein einen Durst, der ihn befähigt, den Pazifischen Ozean auszusaufen. Wieder was weggemacht, beglückwünscht er sich nach jedem Schluck und Bissen. Bald ist sein Leib geschwollen, weil schon die ganze Welt darin Platz genommen hat und ein vielfäustiges Herrenleben in ihm führt. Fliegt da noch irgendwo ein Mauersegler und stößt einen kleinen Mauerseglerschrei aus, tut der Mann den Mund auf, und damit gut. Warum also sollte er die Welt nicht lieben. Es gibt keinen Grund.

(…)

https://bachmannpreis.orf.at/bp98/s_lewitscharoff_txt.html

Lichtewesen
10 Jahre zuvor

„Warum sie die Preise erhielt?“

Holden would say: „She‘s a phony“

Oscar and Truman would say: She‘s „a Sphinx without a secret“

und Henrik sowas wie: der Bourgeois braucht seine Lebenslügen

Helmut Junge
Helmut Junge
10 Jahre zuvor

Andreas, ich hab es jetzt gelesen. Jeden Satz, den du aus „Pong“ zitiert hast. Nach dem ersten Satz war ich neugierig, aber schon beim am Ende des zweiten Satzes wurde ich unruhig, weil die Sprache holprig und der Inhalt intellektuell unbefriedigend ist. Und die Auszeichnungen für diese, zugegeben attraktive Frau, hat in meinem Kopf folgenden Gedanken reifen lassen.
Alle meine Vorurteile dieser Literaturgattung gegenüber, die frecherweise als „Literatur“ gilt, als gäbe es nichts Geschriebenes von Bedeutung außer ihr, sind mal wieder voll bestätigt. So etwas brauche ich wirklich nicht lesen. Ich habe all die Jahrzehnte, in denen ich andere Sachen gelesen hatte, Recht gehabt! Basta.
Gerd, Laudationes zu lesen ermüdet mich ebenso schnell, wie die Konzentration auf Sonntagsreden. Mach ich nicht in diesem Fall. Aber gut sieht sie aus, die Frau.
Vielleicht ist das auch die Antwort auf meine oben gestellte Frage, warum sie Preise bekommt. Mein Vorurteil steht unwiderruflich fest.
Daß Herr Wessel weg von der Esoterik, hin zur literarischen Dimension von Lewitscharoffs Texten möchte, engt den Kreis der kompetenten Diskursteilnehmer stark ein, weil ich dann aus diesem und seinem eigenen Diskurs aussteigen muß. Dazu habe ich einfach nichts mehr zu sagen.

Thomas Wessel
Admin
10 Jahre zuvor

@ Gerd Herholz | „Sie als …“ … gut, fange ich damit an: Lewitscharoff hat u.a. den „Preis der Literaturhäuser“ erhalten, der wird verliehen für, Zitat: „die ‚Rückübertragung’ von Literatur in das gesprochene Wort. Lesung und Vortrag ermöglichen nicht nur ein Live-Erlebnis – sie öffnen die Literatur auch für Diskussion und Diskurs. Der individuelle Vorgang des Schreibens bzw. Lesens gewinnt einen dialogischen, Öffentlichkeit stiftenden Charakter.“

Der Preis wird verliehen für literarische FORMEN, er ist ohne inhaltliche Bindung, es geht nicht um Gesinnungsliteratur. Passt insofern ganz gut zu L.s Auftritt in Dresden. Und jetzt das „Sie als“:

Sie als jemand, der sich dafür engagiert, dass auch das Ruhrgebiet ein Literaturhaus erhält, scheinen sich nicht dafür zu interessieren, warum L. den Preis der Literaturhäuser erhalten hat: „Müsste ich nachlesen.“

Tun Sie’s: „Sibylle Lewitscharoff ist eine große Autorin – scharfsinnig, kunstvoll, berauschend“, lautet die Begründung. L. habe – das war 2007 – „fünf Bücher geschrieben, die, so verschieden sie sind, ein unverwechselbares, eigenwilliges Gesamtwerk bilden. Sibylle Lewitscharoff ist eine Autorin, der man gerne zuhört. Das gilt, wenn sie liest und ihr Schwäbisch den schneeumwirbelten Chimären des Ralph Zimmermann leiht oder den Geisteserschütterungen des römischen Filmproduzenten aus Degerloch Montgomery Cassini-Stahl. Das gilt ebenso, wenn sie über Literatur spricht, über die eigene wie über fremde – in Gesprächen mit Schriftstellerkollegen, in Ausstellungseröffnungen, in Vorträgen und Diskussionen über Robert Walser, Arno Schmidt, Christian Friedrich Daniel Schubart, über Religion, Fußball, Geschichte oder Politik. Immer schlagen Sibylle Lewitscharoffs Auftritte das Publikum durch eine pointierte Liebe zum Detail und einen Hauch Anarchie in den Bann.“

Haben Ihre Kollegen in Basel, Berlin, Graz, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Rostock, Salzburg, Stuttgart und Zürich, haben Sie alle übersehen, dass es sich, wenn L. über „Religion, Fußball, Geschichte, Politik“ redet, um Geschwurbel handelt, um Esoterik, um ein vernebeltes Hirn? Haben sie überlesen, dass L.s Perspektiven auf die Welt unterkomplex sind? Sollten sie darüber hinweg gegangen sein, dass, wie Sie analysieren, L.s „Fundamentalismus“ einen „integralen Anteil“ habe an ihrer Literatur?

Jetzt lässt Ihre Branche eine ihrer Galionsfiguren fallen, druckst rum, duckt sich weg oder legt – wie Sie es tun – schnell eine Fährte, von der Sie dann, wenn man ihr folgt, erklären, Sie würden jetzt aber nicht über Stöckchen springen.

Ich erwarte von Literatur nicht unbedingt das Übliche – also „das Unerwartete, Unerhörte, Unwirkliche“ usw. – aber vom Literaturbetrieb denn doch, dass er die Literatur verteidigt.

Helmut Junge
Helmut Junge
10 Jahre zuvor

Wie der Rhabarber zuletzt doch im Sperrmüll landete. Traktat über das Oxalat in geheimnisvollen Metaphern und Gesängen. Erster Teil.

Lichtewesen
10 Jahre zuvor

@ Helmut Junge #12

im Prinzip ja. Aber du bist nicht unverschämt genug.

Frau Lewitscharoff ist irgendwie durch – sag mir doch mal, wie du die folgende Passage aus einem Buch findest, das ganz sicher nicht den Ingeborg Bachmann Preis gewonnen hätte:

„Der Brenner hat mir eine Kette aufgezogen aus Holzperlen. Es sind rote und herrliche und grüne Farben und zusammengestellt mit einem Sinn. Und er ist doch blind. Ich bin ja kein Idiot und habe meinen Ehrgeiz, aber ich habe geweint vor Freude, weil es nämlich selten vorkommt, daß einem einer hinterher noch was schenkt.“

Der „Brenner“ ist der kriegsblinde Nachbar von „Doris“, die in dem Buch ihr Leben erzählt:

„Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben, und wird noch mehr so sein.“

“Und habe mir ein schwarzes, dickes Heft gekauft und ausgeschnittne weiße Tauben draufgeklebt und möchte einen Anfang schreiben: ich heiße somit Doris und bin getauft und christlich und geboren.”

Helmut Junge
Helmut Junge
10 Jahre zuvor

@Lichtewesen, du hast das Buch von Irmgard Keun mindestens schon einmal erwähnt und ich konnte mich spontan daran erinnern. Das kann eigentlich nur bedeuten, daß es gut geschriebene Passagen sind.
Sind sie auch. Die Sprache ist evokativ, voller Bilder und die Wörte sind selbst wie eine Perlenkette aneinandergereiht.
Andreas, ich lese deshalb so selten Belletristik, weil ich zwar bei schlecht geschriebenen Texten einen faden Geschmack auf der Zunge spüre, wie vielleicht bei Synästhetikern, aber umgekehrt, wenn es gut geschrieben ist, nicht das gleiche Maß an Freude spüre, das andere Menschen antreibt, weiterzulesen. Aber erkennen kann ich das schon, wenn ein Text gut ist. Und bei meinem Urteil habe ich auch deshalb immer Recht, weil ich nie darüber diskutiere, wie Ignoranten so sind.

Lichtewesen
10 Jahre zuvor

@ Helmut Junge #14

„… die Wörter sind selbst wie eine Perlenkette aneinandergereiht …“

freue mich über deine Beschreibung! Und hier ist Doris so überwältigt, daß sie die Worte in falscher Reihenfolge aufzieht:

„Es sind rote und herrliche und grüne Farben und zusammengestellt mit einem Sinn.“

Lichtewesen
10 Jahre zuvor

… falsche Reihenfolge auch hier, aber ganz anderer Sinn:

„ich heiße somit Doris und bin getauft und christlich und geboren.“

(und falls irgendwer klugscheissern möchte: https://de.wikipedia.org/wiki/Hysteron-Proteron_(rhetorische_Figur))

Arnold Voss
Arnold Voss
10 Jahre zuvor

Man kann halt auch mit Worten onanieren. 🙂

Thomas Wessel
Thomas Wessel
10 Jahre zuvor

@ Gerd Herholz | Auf dass Ihr Witz gedeihe. „Stellvertreter Gottes! Auf Erden!“ Einfach köstlich und, ja, es ist mutig. Büchnerpreis?

@ all | Ich hatte gedacht, dass hier, wo man die Freiheit der eigenen Meinung schätzt, sich jemand findet, für die Freiheit der Kunst zu streiten. Dafür, dass Kunst das Recht hat, Dinge zu sagen, die andere nicht mal zu denken trauen. Und zwar unabhängig davon, ob man diese Gedankendinge – bei anderen oder bei sich selber – toll findet oder nicht.

Dass Lewitscharoff keine Ahnung hat von der Bibel, die sie reklamiert, hatte ich hier auf Ruhrbarone vorgerechnet – @Gerd Herholz: https://www.ruhrbarone.de/lewitscharoff-der-unterschied-zwischen-halbwesen-und-halbwissen/75190. – Die Dame ist aber nun mal hochdekorierte Literatin, warum diese Stille der Branche?

Weil L. es nicht kann, zumindest die Redekunst – also just das, wofür die Literaturhäuser der Republik sie gewürdigt haben – ist ihr nur totes Holz. Sie ist nicht in der Lage, ihren Impulsen, Gedanken, Gefühlen eine erkennbar künstlerische Form zu geben, eine, die es erlauben würde, das Gesagte wie ein Sujet zu betrachten, es zu umkurven und „komplexen Perspektiven“ auszusetzen usw.

Sie formuliert nicht, sie räsoniert. Welchen Sinn es hat, über sowas zu diskutieren? Es wäre, was Martin Niewendick oben auf diesem Blog gerade gemacht hat: https://www.ruhrbarone.de/snaga-und-fard-mit-jihadismus-und-deutschtuemelei-in-den-widerstand/75305 Heftige Debatte, aber gut. Ich hab von Rap zu wenig Ahnung, aber in den Kommentaren dort blitzt dieselbe Frage auf, die klassische Frage der Kunst nach dem Verhältnis von Form & Inhalt:

Korrespondieren sie einander oder ist das egal? Kann Retro-Moral gute Literatur sein, Faschomusik gute Musik? Wenn nicht, warum nicht, wenn doch, was dann.

Arnold Voss
Arnold Voss
10 Jahre zuvor

Die Kunst kann nicht freier sein als der Künstler der sie kreiert. Kunst muss also nicht klug sein, kann aber trotzdem Kunst sein. Kunst kann deswegen auch faschistisch sein, oder rassistisch, oder antisemitisch oder was auch immer. Sie kann gläubig sein oder ungläubig, rational oder irrational, politisch oder unpolitisch, oder was auch immer.

Kunst muss sich allerdings der Debatte stellen. Damit wird auch der Künstler oder die Künstlerin selbst Gegenstand der Auseinandersetzung. Erst recht wenn er/sie sich selbst explizit in die gesellschaftliche Diskussion einmischt. Damit lässt sich auch die Güte der Kunst nicht jenseits ihrer Aussagen betrachten, wobei das natürlich immer eine Sache der Interpretation ist.

Aber auch eine begründet als schlecht beurteilte Kunst ist Kunst. Form und Imhalt sind dabei nicht zu trennen. Stuss kann man man zwar auch in wohl geformten und/oder überraschen kombinierten Worten und Sätzen verbreiten, aber es bleibt Stuss.

Thomas Wessel
Admin
10 Jahre zuvor

@ Arnold Voss | „Kunst muss sich der Debatte stellen.“ Ja. So es eine gibt. Bei der L. war die Debatte schnell und eindeutig und gut. Fehlten nur die Stimmen der Künstler. Ein paar, die gesagt hätten, was für eine hässliche und schon deshalb dumme Rede. Zumindest von Grass hätte man doch ein „Was nicht gesagt werden muss“-Epos erwarten können, oder?

Auf mich wirkt diese Stille, als würde hingenommen, dass die Kunst selber mit abgründigen Inhalten durchaus zusammen gehen kann. DASS sowas tatsächlich geht, haben Figuren wie Céline oder auch Le Corbusier vorgeführt, aber diese Größen erschienen doch immer wie Ausnahmen von der Regel, und die Regel hieß: Kunst ist wahr, Wahrheit befreit, die Menschen werden besser usw., das humanistische Credo.

Das Credo blieb wahr, weil die Nazis tatsächlich geschrieben haben wie Hans Grimm oder Oi-Musik machten wie in den 90ern. Das Credo bleibt heute wahr, solange man denkt, Nazis & Co würden die wahre Kunst & Kultur allenfalls entern und irgendwie zweckentfremden.

Nun aber scheint, ganz postmodern, alles mit allem zusammen zu gehen. Vom Rap wird gesagt, dass er beides ausdrücken kann – Empathie und Hass – und dass er beides transportieren kann – den Wunsch zu lieben wie den zu vernichten. Der Literatin L. wird zugute gehalten, dass auch ihre Kunst beides ausdrückt: Verachtung der Menschenwürde und Büchnerpreiswürde. Mir wäre wohler, es gäbe mehr Leute [#10], die auch der Form vertrauten.

Andreas Lichte
10 Jahre zuvor

@ Thomas Wessel #19

Zitat T.W.: „Ich hatte gedacht, dass hier, wo man die Freiheit der eigenen Meinung schätzt, sich jemand findet, für die Freiheit der Kunst zu streiten.“

sorry, an der U.d.K. gab es zu meiner Zeit keine Selbstverteidigungskurse

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