Alltagssplitter (3)

Der Knacks
Heute genieße ich die Sonne, bevor sie wieder für Tage verschwindet, setze mich auf dem Gladbecker Goetheplatz in der Mittagspause auf einen Stuhl vor das „Casa Marbella bei Johnny“. Johnny ist Tamile aus Sri Lanka. Oder vom indischen Subkontinent? Seine Frau sieht chinesisch aus, ist aus Indonesien, chinesische Minderheit, hat Johnny mal erzählt, aber er hat schon viel erzählt.
Eine alte Dame kommt aus der Tür des Ristorante auf den Platz, schaut suchend umher: „Wo hat er denn die Pizza hingestellt?“ Nirgendwohin. Der Laden drinnen ist gerappelt voll, das wird dauern. „Wo hat er die Pizza denn hingestellt.“ Ich werde direkt angeschaut, sie nähert sich unweigerlich meinem Tisch. „Darf ich mich zu Ihnen setzen, ich würde so gern in der Sonne sitzen.“
Stimmt, alle anderen freien Plätze liegen im Schatten. Mein zu freundliches Gesicht wird mich noch einmal richtig in die Scheiße reiten (einen Teller Metaphernsalat bitte).
„Ja, gerne, setzen Sie sich.“
“Ist heute Mittwoch?“
“Ja“, sage ich und lege ‚Der Knacks‘, Roger Willemsens spannenden Lang-Essay voller kleiner Geschichten, aus der Hand. Ich werde Anfang Mai ein Bühnengespräch mit Roger führen, er ist nicht nur warmherzig, sondern auch klug, ich sollte vorbereitet sein. Im Mülheimer Theater habe ich gemeinsam mit Roberto Ciulli bereits einmal  ein Bühnengespräch mit ihm geführt, das als Dreiecksgespräch beinahe daran scheiterte, dass Ciulli lieber über Ödön von Horváth und seine eigene Arbeit gesprochen hätte, obwohl wir Roger Willemsen zu seinen Neuerscheinungen „Hier spricht Guantánamo“ und „Afghanische Reise“ eingeladen hatten. Vor Roger aber muss man sich nicht fürchten, er nimmt als Befragter sogar Rücksicht auf schlecht vorbereitete Frager und achtet auch so auf das Gelingen des öffentlichen Gespräches.
“Ich bin heute morgen aufgestanden. Aber ich war so kolone … Ich wollte schon alles für Ostern einkaufen, dabei ist das erst nächste Woche. Eine Nachbarin hat mich Gott sei Dank aufgeklärt, furchtbar.“

Nudelpizza
Die Dame ist sichtlich wohlhabend, einiges Gold hängt an ihr, etwas viel, aber noch nicht protzig.
Es kommt, was kommen muss. „Ich …“, viele ihrer Sätze beginnen mit diesem Ich, „… war gerade bei der Knappschaft wegen der Kur. Die behandeln ältere Menschen da wie Deppen. ‚Was wollen Sie denn hier?’, so richtig unfreundlich. Ich bin dann laut geworden: ‚Wie sprechen Sie denn mit mir?’ Na, jedenfalls wollte die einen rosa Schein, den hatte ich aber schon bei der Ärztin abgegeben. Und heute, es ist ja Mittwoch, hat die Ärztin nachmittags zu und ich komme nicht mehr an den Schein. Egal, nächste Woche fahre ich in Kur! An die Nordsee! Jeden Tag ein Matjesbrötchen!“

Johnny kommt raus und bringt Penne mit Tomatensauce und Rindfleisch.
„Ich hatte aber Pizza bestellt.“
“Ja? Sie hatten gesagt ‚Etwas Würziges’, da habe ich Ihnen die Nudeln empfohlen.“
“Ich hatte aber Ihrem Kollegen gesagt, ich möchte Pizza.“
“Oh, das hat er mir nicht weitergesagt.“
Johnny, der alte Padrone-Darsteller, bleibt immer freundlich. Ich schaue ihn auffordernd an, er versteht: „Soll ich die Nudeln wieder mitnehmen?“ (Zwei Männer im Kampf gegen Frauen- und Altersdiskriminierung!)
“Nein, die sehen auch lecker aus.“

Zivicourage (sic!)
Auch meine Nudeln sind serviert worden. Wir essen in der prallen Sonne, fast zu warm wird’s einem. Ab und zu wechseln wir ein paar freundliche Worte.
„Wirklich lecker, das hätte meinem Mann auch geschmeckt. Gut, dass Sie sich eine Serviette in den Kragen gesteckt haben. Mein Mann hat auch immer mit den Nudeln gekleckert.“
„So etwas sagt meine Frau auch immer über mich“, gebe ich der kleinen Äffin Zucker, „dabei lebe ich noch“.
Irgendwo Kinderlachen.
„Immer dieses Geschrei.“
“Ach …“
“Ich wohne da auf der Grenze Gladbeck-Gelsenkirchen. Da ist es auch immer so laut, von der Hauptschule gegenüber, besonders in den Pausen. Das halten Sie nicht aus. Und die vielen Türken.“
“Das sollten Sie nicht sagen.“
“Ist aber so.“
“Dieses Land hat viel zu wenig Kinder. Und schreien tun sie alle – auch die deutschen.“
“Ja, aber nicht auf türkisch.“

Vor Minuten hatte ich für einen Moment ernsthaft überlegt, die Rechnung der alten Dame zu übernehmen, ich Kavalier. Acht Euro, getrunken hatte sie nichts: „Ich muss ja noch mit dem Bus nach Hause und dann trample ich da von einem Bein aufs andere.“
Ich verabschiede mich formvollendet, zahle drinnen bei Johnny nur für mich.
So schnell kann’s gehen: Mutig für unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund eingetreten und noch was gespart dabei.

Mutters Söhnchen
“Ich konnte nie pubertär sein, denn das war meine Mutter schon.“ (Roger Willemsen in „Der Knacks“, S. 48)

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Mir
Mir
12 years ago

Die Hand eines Efendis aus Almanya ist kumaş für seine Freunde und çelik für seine Feinde. Aus Kara Ben Nemsi, Durch die Wüste, Karl May.

efendi = Herr
almanya = Deutschland
kumaş = Samt
çelik = Stahl

Helmut Junge
Helmut Junge
12 years ago

@Mir, ????
völlig unverständlich. Paßt jedenfalls nicht zum Artikel.

Helmut Junge
Helmut Junge
12 years ago

Gerd, wenn du Dich gefreut hast, ist es doch gut.
Dann bleibt aber mir die Erkenntnis, dass ich mal wieder zu blöd bin.
Es ist zum Verzweifeln.

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