Heute vor 75 Jahren begann der sowjetische Angriff, der die deutsche Ostfront zusammenbrechen ließ. Erdacht und gegen den Widerstand Stalins durchgesetzt hat ihn der polnisch-sowjetische Marschall Konstantin Rokossowski, der noch wenige Jahre zuvor in Stalins Foltergefängnissen gequält wurde. Von unserem Gastautor Manfred Barnekow.
Rokossowski
Konstantin Rokossowski stand seinem Herrn am 20. Mai 1944 gegenüber. Stalin hatte die Marschälle und Generäle zur Besprechung geladen, das Thema war nichts weniger, als der Wehrmacht einen Todesstoß zu geben. Rokossowski legte seine Planung vor, die Heeresgruppe Mitte, den Kern der Ostfront zu vernichten.
Schon bis dahin hatte er ein höchst bemerkenswertes Leben vorzuweisen. Seine Ahnen entstammten dem polnischen Uradel, die Vorfahren waren nach Aufständen im 19. Jahrhundert nach Russland gezogen, sie fingen mittellos ein neues Leben an. Als Vater und Mutter 1910 starben, musste er die höhere Schule verlassen, verdiente sein Geld als Arbeiter und meldete sich zu Beginn des ersten Weltkriegs freiwillig in die zaristische Armee, brachte es zum Korporal. Nach der Revolution schloss er sich den Roten an, stieg schnell auf, beendete den Bürgerkrieg als Regimentskommandeur. Generalstabslehrgänge machten aus ihm einen führenden General, dessen Karriere abrupt 1937 in den Folterkellern der GPU endete. Jeschows Schergen folterten, schlugen ihm die Zähne aus, Scheinhinrichtungen sollten ihn brechen, bevor er zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Im sibirischen Norilsk schien sein Leben der Zerstörung preisgegeben.
Nach der sowjetischen Katastrophe im finnischen Krieg aber wurde er ohne jede Begründung in ein Erholungsheim nach Sotschi verbracht. Einigermaßen zu Kräften gekommen, tat er im alten Rang erneut Dienst in der Armee, als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben. Er hatte die Allmacht des Woschd in seiner ganzen Brutalität erfahren. Nach dem deutschen Überfall verzögerte Rokossowski den Fall von Smolensk, in der alles entscheidenden Schlacht um Moskau befehligte er eine wichtige Verteidigungslinie, auch in den schweren Zeiten der Sowjetarmee gehörte er zu den erfolgreichen Offizieren. Seine Stunde aber kam ein Jahr danach. Er kommandierte als Oberbefehlshaber der Don-Front die Einschließung der 6. Armee bei Stalingrad. Der Feldmarschall Paulus wurde sein Gefangener, den er der Presse vorführte und verhörte. Von da an war er prominent.
Der Plan
Rokossowski war von der eigenen Stärke und der Schwäche der Deutschen überzeugt, er glaubte fest daran, mit mehreren Einbrüchen zugleich den Einsturz der deutschen Front bewerkstelligen zu können, ihre Armeen nacheinander aufzusplittern, in immer neuen Umschließungen zu vernichten, in der Lage zu sein, den gesamten Mittelabschnitt der deutschen Ostfront auszulöschen. Ein skeptischer Stalin schlug nur einen Stoß von Süden hinter die deutschen Linien vor, in der Hoffnung, so viel wie möglich abzuschneiden. Der Mann, der wusste, wie eine Laune seines Gegenübers, der Widerspruch nicht schätzte, Leben beenden konnte, widersprach. Rokossowski bestand auf seinem Doppelangriff. Der Diktator begann ein Spiel mit ihm. Er wurde hinausgeschickt, wiedergeholt, brachte dasselbe vor, musste erneut gehen, sich von Malenkow und Molotow bedrohen lassen und sagte Stalin ein drittes Mal, was er dachte. Das rote Monster muss Vergnügen daran gehabt haben, denn nun stimmte der Vater der Völker seinem General, der bald Marschall werden sollte, zu aller Überraschung zu. Der Plan stand.
Die Heeresgruppe Mitte
Die Heeresgruppe Mitte, das Bollwerk der Wehrmacht, das zwischen der Roten Armee und dem Reich stand, war einmal die Speerspitze des Russlandfeldzuges gewesen. Sie schlug die gewaltigen Kesselschlachten von 1941, blieb vor Moskau im Schlamm liegen, erhob sich bei Frost, um vor der Hauptstadt auszubrennen. Sie wurde nicht durchbrochen, aber die hohen Verluste nahmen die Offensivkraft. Mit dem ersten Kriegstag begann in ihrem Rückraum die Ermordung der russischen Juden durch die Einsatzgruppen, ohne dass ihre Führer auch nur protestierten. Der Kommissarbefehl wurde umgesetzt, ebenso der völkermörderische Gerichtsbarkeitserlass, der die Zivilbevölkerung für vogelfrei erklärte. Der Partisanenkrieg erfasste Weißrussland, die Methode der Nazis war das wahllose Töten seiner Menschen, das Auslöschen der Dörfer ganzer Landstriche als Repression. Wer sich Oradour erklären will, muss nur wissen, dass die SS Division „Das Reich“ zuvor in Russland war, sie verfuhr, wie sie es mit Hunderten russischer Ortschaften, deren Namen niemand mehr kennt, gemacht hatte. Der Krieg im Osten war durch und durch verbrecherisch, nicht nur seine Kommandeure Täter. Seit der Feldmarschall von Kluge, der sich dem Widerstand zugehörig fühlte, ohne je etwas Widerständiges zu tun, lediglich Hitler das Leben rettete (“Sie können den Mann doch nicht einfach so beim Essen erschießen”), im Herbst 1943 nach einem Autounfall ausfiel, führte Ernst Busch die Heeresgruppe, ein überzeugter Nazi minderer militärischer Begabung. Die Soldaten waren unterernährt, obwohl man die Bevölkerung ausraubte, sie hungern ließ und Busch eine grauenvolle Aktion durchführte, in der Zehntausende, die man als “Esser” loswerden wollte, zusammengetrieben, in Hungerlager nahe der Front gepfercht wurden, bis niemand mehr hineinpasste. Hunderte, vielleicht Tausende kamen um, dann nahm die Wehrmacht die Hauptkampflinie zurück und überließ wie geplant die eingezäunten Sterbenden der Roten Armee. Ungefähr 750.000 Mann kommandierte Busch, nur 450.000 von ihnen waren Frontsoldaten. Die Löcher, die im Südabschnitt und im Westen zu stopfen waren, hatten die Truppe ausgezehrt, Panzerarmeen ohne Panzer, nur noch wenige Flugzeuge, kaum schwere Waffen, statt Frontlinien Stützpunkte. Rokossowski schätzte seinen Feind richtig ein.
Die Ausgangslage
Seit Sommer 1943 hatten die Deutschen im Südabschnitt eine Niederlage nach der anderen erlitten, die Verbände waren nahezu an jener Stelle zurück, wo sie 1941 zum Vernichtungskrieg aufgebrochen waren. Die Heeresgruppe Mitte aber hatte nur die Region um Smolensk verloren, wie ein riesiger Ballon ragte sie nach Russland hinein, jeder Laie konnte erkennen, ein Kessel, den man nur schließen musste. Busch begab sich mehrfach zu Hitler, um darum zu bitten, den Rückzug antreten zu dürfen, eine vielleicht verteidigungsfähige Linie auf Höhe der südlichen Heeresgruppen herstellen zu können. Hitler lehnte ab, der OB der 4. Armee, Heinrici, meldete sich krank, er wollte keine Verantwortung für das unvermeidliche Desaster tragen. Die deutschen Heerführer waren sich mit Stalin einig, sie vermuteten einen Angriff im Süden gegen die 2. Armee, der die Heeresgruppe abschneiden sollte. Ihre unzureichenden Verteidigungspläne beruhten darauf.
Dreifach ist der 22. Juni ein Schicksalspunkt im großen Sterben. Am 22. Juni 1940 kapitulierte Frankreich, der 22. Juni 1941, der 129. Jahrestag des Angriffs Napoleons, war der Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, der aus dem Krieg den Vernichtungskrieg machte und den Auftakt der Shoa bedeutete. Das Bedürfnis der Sowjets nach Rache, nach Selbstbefreiung von aller Last und allen Ängsten, wird es gewesen sein, den großen Angriff auf den 22. Juni 1944 zu legen. Mit mehr als 1,4 Millionen Soldaten; Tausenden von Panzern, Flugzeugen und Geschützen, über zehnmal mehr, als die Deutschen hatten, schlugen sie im Osten der deutschen Front zu, dort wo der Ballon am tiefsten ins russische Land hineinragte, nördlich und südlich der Stadt Witebsk, wie Rokossowski es vorgeschlagen hatte. Keine drei Wochen nach der Invasion in der Normandie, koordiniert mit der westlichen Kriegsführung.
Die Schlacht
Die jüdischen Bielski-Partisanen
Was sich darauf abspielte, war wie eine Spiegelung des Geschehens in Weißrussland drei Jahre zuvor. Den sowjetischen Blitzkrieg hat es jemand genannt. Schon in den ersten Tagen riss die deutsche Front Hunderte Kilometer auf, Armeen wurden abgeschnitten, eingeschlossen, versuchten als flüchtende Wanderkessel gen Westen zu gelangen, Busch wurde abgesetzt, sein Nachfolger Model vermochte nichts zu retten. An der Beresina wiederholte sich das Inferno, das einst Bonapartes Grande Armee untergehen ließ. In den Wäldern vor Minsk gingen die Besatzer zugrunde, erschossen, erschlagen, die Partisanen bildeten Linien, sie aufzuhalten, bis die regulären russischen Verbände sie vernichten konnten. Die Vergeltung schlug auf die Täter zurück. Die jüdischen Partisanen der Bielski-Brüder, die im Urwald von Naliboki Geflüchtete aus den Ghettos in Waldlagern geschützt und zu Kämpfern gemacht hatten, sie bildeten die Barriere, vor denen die Fliehenden der 4. Armee zugrunde gingen. Sie machten keine Gefangenen und hatten allen Grund dazu. In Wilna drangen jüdische Kämpfer ein, niemand soll sagen, sie hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Vor Minsk eroberte die Rote Armee die Reste des Lagers Maly Trostinez, des kaum bekannten Vernichtungslagers auf russischem Gebiet. Hier hatte man 1942 und 1943 Transporte deutscher Juden ermordet, mit Gaswagen oder erschossen, aus Köln, aus Wien, aus anderen Städten. Ihre Leichen lagen in Massengräbern, als die Mörder fürchteten, die Russen könnten zurückkehren, wurden jüdische Häftlinge gezwungen, die verwesenden Toten auszugraben und zu verbrennen, alle brachte die SS in den Tagen vor der Befreiung um.
Minsk war schon Anfang Juli genommen, jetzt konnten die Sowjets fast ungehindert weiter vorstoßen, hinein nach Polen, bei Lublin fiel ihnen ein intaktes Vernichtungslager in die Hände, Majdanek, Gaskammern und Krematorien konnten nicht mehr zerstört werden, die Welt bekam einen ersten Anblick der Wahrheit des Judenmordes zu Gesicht. Doch mühsam baute die 2. deutsche Armee, die intakt geblieben war und sich vorsichtig zurückzog, den Schleier einer neuen Front auf. Die Sieger, die Hunderte Kilometer in wenigen Wochen vorgedrungen waren, ermüdet, auch sie hatten entsetzliche Verluste erlitten. Während die Deutschen weit über 400.000 Mann an Toten, Vermissten, Verwundeten, Gefangenen verloren, waren es bei der Roten Armee sogar 750.000 gewesen. Eine neue Seite trat in den Kampf ein, die polnische Heimatarmee. Sobald die Russen auf der Ostseite der Weichsel angelangt waren, begann der Warschauer Aufstand. Stalin stoppte seine Offensive, er sah zu, wie die Deutschen ihm die Drecksarbeit der Vernichtung des polnischen Widerstandes abnahmen, er ließ dort, wo ihm Kämpfer der Heimatarmee in die Hände fielen, diese entwaffnen, oft festnehmen und gründete in Lublin eine kommunistische polnische Regierung. Die Nachkriegszeit zog auf, mit ihr der Eiserne Vorhang. Polen tauschte nur den Unterdrücker.
Die Bedeutung
Zhukov, Montgomery und Rokossowski in Berlin
Als der Sommer sich dem Ende neigte, hatte die Wehrmacht nichts mehr, was sie einer nächsten Offensive hätte entgegenwerfen können. Selbst das Abschneiden der Heeresgruppe Nord, deren Flanke nach dem Verschwinden der Heeresgruppe Mitte im Süden völlig offen war, gelang am Ende dank Hitlers neuerlicher Weigerung, auch sie zurück zu nehmen. Die deutschen Verluste waren nicht auszugleichen, die Sowjets hatten damit kein Problem. Stalin genoss seinen Triumph, in dem er 50.000 Gefangene durch Moskau treiben ließ. Die deutsche Propaganda konzentrierte sich auf die Invasionsschlacht, um den Blick der Menschen vom Osten wegzulenken. Selbst der Zusammenbruch dort schien erträglicher, als das, was sich gerade zwischen Witebsk und Warschau abgespielt hatte. Es war die größte Niederlage, die je deutsche Streitkräfte in der Geschichte erlitten. Sie hätten unverzüglich kapitulieren müssen. Nichts, gar nichts konnte die Liquidierung des germanischen Mordstaates noch abwenden, jeder Tote, den Deutsche bis zum Ende beklagten, in den Ardennen, in Ostpreußen, Pommern und Schlesien, in Dresden, in Berlin und anderswo, haben nur jene, die sinnlos weiterkämpften, zu verantworten, niemand anderer. So markiert der 22. Juni 1944 den Beginn des Schlusspunktes des 2. Weltkriegs. Goebbels Mantel des Schweigens wirkt in der deutschen Geschichtsbetrachtung indes bis heute fort. Es war angenehmer, sich von den Alliierten besiegt zu fühlen, als durch die Rote Armee den Blattschuss empfangen zu haben.
Vor alle dem jedoch steht Rokossowskis Mut, Stalin zu widersprechen. Er kommandierte die Siegesparade in Moskau.
Der Artikel erschien bereits am 22. Juni 2018