Gestern Abend fand in Bochum eine Kundgebung gegen Antisemitismus und für Solidarität mit Israel statt. Nur ein paar Meter weiter wurde dagegen demonstriert. Von Stefan Laurin, Thomas Wessel und Roland W. Waniek (Fotos) waren vor Ort.
Manchmal ist die Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation eine unscheinbare Straße. Die Hans-Böckler-Straße trennt für gewöhnlich nur das Rathaus der Stadt Bochum, weitere Verwaltungsgebäude und die Volkshochschule von der Innenstadt mit ihren Fußgängerzonen, Cafés und Geschäften. Sie zu überqueren dauert nur wenige Augenblicke. Am gestrigen Abend jedoch markierte sie die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei.
Auf dem Rathausplatz hatte sich das versammelt, was man die Zivilgesellschaft nennt, um gegen Terror in Israel und Antisemitismus ein Zeichen zu setzen. Die gehaltenen Reden waren vielleicht allzu differenziert. Man legte Wert, zwischen der Hamas und den Palästinensern zu unterscheiden, obwohl dazu viel guter Wille und wenig empirisches Wissen gehört. Die Kundgebung richte sich auf keinen Fall gegen die Palästinenser, betonte Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD) gleich zweimal.
Viele waren nicht gekommen, wenn man bedenkt, dass die Parteien, Kirchen und Gewerkschaften und Dutzende weitere Organisationen zur Teilnahme aufgerufen hatten, während die Bilder der von den palästinensischen Terroristen abgeschlachteten Juden noch nicht vergessen sein konnten. Keine 400 Menschen in einer Stadt mit 370.000 Einwohnern.
Auch wenige Juden. Warum? Die Angst, auf die Straße zu gehen, greift um sich. Grigory Rabinovich, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, hat es auf eindringliche Weise deutlich gemacht. Dass diese Vorsicht nicht neu sei, sondern so regelmäßig wiederkehre, wie Israel beschossen werde. Dass es dann immer wieder „diese Momente“ gebe, in denen Solidarität verlautbart werde und irgendwas mit „Nie wieder“. Und dann sei es das wieder. Und dann komme es wieder. Rabinovich Auftritt, eine spontan gehaltene Rede, brachte einen dazu, sich verstohlen umzuschauen und einmal die Reihen durchzuzählen, wie viele sind wir noch.
Und wie viele sind es auf der Straßenseite gegenüber. Auch in den Reden der studentischen Organisatoren der Demo tauchte immer wieder auf, wie bemerkenswert es doch sei, dass „so viele gekommen sind“. Als sei es noch immer wie vor 90 Jahren, dass man sich mit Juden nicht sehen lassen könne, nicht solidarisch. Möglicherweise ist es so, wenn man einen Blick über die Straße geworfen hat, einem brutal inszenierten Beieinander, behördlich – wie kann das sein? – genehmigt: Hier spielen sie das Kaddisch, das jüdische Totengebet, und spielen es tatsächlich „für alle Opfer“, also selbst für die aus den Reihen der Hamas, dort „Free free Palestine!“ Von was? Von Mitgefühl. Dort Hass, hier ein selbstbewusster Auftritt jüdischer Studenten: „Eure Flüche? Verwandeln wir in Segen.“
Wird schwer. Die Demonstranten auf der anderen Seite der Hans-Böckler-Straße heuchelten keinerlei Mitleid mit den abgeschlachteten Israelis. Deren Schicksal waren ihnen vollkommen gleichgültig. Über Stunden forderten die gut 200 hinter den von der Polizei aufgestellten Absperrgittern die Vernichtung Israels und schrien antisemitische Parolen: „Kindermörder Israel“,, Zionisten sind Faschisten“, „Free, free, Palestine!“ und immer wieder „Allahu akbar“. Auf Schildern wurde Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu als Nachkömmling Hitlers gezeigt, Vermummte schwenkten die Fahne des Fantasiestaates Palästina und OB Eiskirch wurde als Feigling bezeichnet, weil er sich nach seiner Rede vorm Rathaus zu einem anderen Termin aufgemacht hat. Was hätte er tun sollen? Sich im Straßenkampf dem Mob stellen?
Zur Zivilisation gehört das Vermögen, sich in die Leiden der anderen hineinversetzen zu können. Der Barbar ist zu einer solchen Leistung weder intellektuell noch emotional in der Lage. Er kennt nur seine eigenen Bedürfnisse und die seiner Horde. Die Umwelt besteht für ihn nicht aus Mitmenschen, sondern aus Feinden und Opfern. Das Erschreckende bei denen, die gegen Israel auf die Straße gehen, und zwar gleichgültig, ob sie wie die absolute Mehrzahl migrantischer oder deutscher Herkunft sind, ist das Fehlen jeglichen Mitleids mit den jüdischen Opfern des palästinensischen Terrors, ihr offenes Ausleben der Barbarei. Sie machen sich auch keine Gedanken darüber, wie sich Juden in Deutschland fühlen, deren Synagogen angezündet werden und die es nicht mehr wagen, mit einer Kippa auf die Straße zu gehen oder in der Öffentlichkeit hebräisch zu reden. Der Krieg in Israel, aber auch der gerade erst begonnene Konflikt auf den Straßen Deutschlands und Europas ist genau dies: ein Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei.