Analphabeten-Shitstorm gegen Cem Özdemir

Cem Özdemir Foto: Raimond Spekking Lizenz: CC BY-SA 4.0


Ab dem 18. Jahrhundert wurde nach und nach in Teilen des späteren Deutschlands die Schulpflicht eingeführt. Eines ihrer Ziele war die Bekämpfung des Analphabetismus. Der Shitstorm gegen Cem Özdemir zeigt, dass dieses Projekt noch lange nicht abgeschlossen ist und es um die Lesefähigkeit in Deutschland nicht gut bestellt ist.

In einem Gastbeitrag der Frankfurter Allgemeinen setzte sich Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) ausführlich und sehr differenziert mit dem Thema Migration auseinander. Özdemir wurde im schwäbischen Urach geboren, seine Eltern stammen aus der Türkei. Er gehört seit über 30 Jahren zum realpolitischen Flügel der Grünen.

Seine Tochter steht im Zentrum des FAZ-Artikels. Özdemir beschreibt, was die junge Frau in Deutschland erlebt hat. Zum Beispiel an der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern: „Vor einigen Jahren verbrachte meine Tochter mit einer Freundin ein paar Tage auf einem Campingplatz in Mecklenburg an der Ostsee. Ihre gleichaltrige Freundin hat einen aus Tansania stammenden Vater; man sieht ihrer Hautfarbe an, dass sie nicht von rotblonden Wikingern abstammt. Es wurde nur ein kurzer Urlaub. Nach 24 Stunden die Flucht, weil auf böse Blicke Schmähungen, Beleidigungen folgten; rassistische Flüche, die ich hier nicht wiederholen will. Es waren vor allem Jugendliche, auch Kinder, die ihr im Pulk so zusetzten. An die Ostsee will meine Tochter so schnell nicht wieder fahren.“ Trauriger Alltag in Deutschland, vor allem in der Ostzone.

Dieser Teil des sehr differenzierten und ausführlichen Textes sorgte nicht für Aufregung. Özdemir hingegen beschrieb auch, was seine Tochter, und auch das ist trauriger Alltag in Deutschland, in Berlin erlebt, wo sie wohnt: „In Berlin ist sie als junge Frau wiederum völlig anderen Zumutungen ausgesetzt. Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden. Und ja, der Einwand, das Risiko für sexuelle Belästigung sei in Partnerschaften und in der Familie ungleich höher, ist ebenso richtig wie der, man könne nicht nur an der Ostsee, sondern überall rassistisch beleidigt werden. Doch taugt Statistik nicht als Antwort auf Erlebtes. Belehrungen kommen gegen Erfahrungen nicht an. Es gibt keinen Grund, sich diese Behelligungen gefallen zu lassen, weder an der Ostsee noch in Berlin.“

Und das löste einen Shitstorm gegen den schwäbischen Grünen aus, der sich nur mit partiellem Analphabetismus erklären lässt:

Der postkoloniale Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer sieht ihn gewohnt wichtigtuerisch nun als Gesicht der „völkischen Wende“ und hält ihn für höhere Ämter nicht geeignet:

Der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Wattenscheid-Mitte/Westenfeld, Jan Bühlbecker, wegen seines permanenten Genderns von einigen seiner Parteifreunde auch Bühlbecker*in genannt, schreibt auf X von der „Entmenschlichung Asylsuchender“:

Auch zum Amoklauf eines Syrers in Essen fällt Bühlbecker pfiffiges ein:

 

Die Journalistin Annika Brockschmidt, für die Frauen, die im Biologieunterricht aufgepasst haben und wissen, dass es bei Primaten wie dem Menschen nur zwei Geschlechter gibt, „Faschisten“ sind, ist, was Özdemir über die Erfahrungen seiner Tochter schreibt, nicht mehr als „rassistische“ und „sexistische Klischees“:

Özdemir ist weiter als seine Kritiker, die sich in der Leugnung der Wirklichkeit gefallen: „Ich bin davon überzeugt, dass es der AfD am meisten nützt, wenn real existierende Probleme, die diese Rechtsextremisten politisch ausbeuten wollen, von uns aus Angst und falscher Rücksichtnahme gar nicht erst thematisiert werden. So wie es der SED früher genützt hat, dass sie von vielen westdeutschen Linken keine Gegnerschaft oder Kritik zu erwarten hatte.“

„Durch Einwanderung“, schreibt Özdemir, „treten neue ideologische Auseinandersetzungen auf den Plan, andere bestanden schon oder werden verstärkt.“ Wer Ideologie in ihren tödlichen Zuspitzungen wirksam und an der Wurzel bekämpfen wolle, für ihn gehören dazu Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus, müsse den Sozialstaat neu aufstellen: „Weniger Transferleistungen. Mehr gezielte Leistungsanreize und starke öffentliche Institutionen. Wer sein Kind auf eine gute Kita schicken kann, wer sicher ist, dass die Tochter oder der Sohn auf jeder öffentlichen Schule bestmöglich auf das Leben vorbereitet wird, wer sich im öffentlichen Raum zu jeder Zeit sicher fühlt, der wird aufgeschlossen gegenüber gesteuerter Einwanderung sein. Und wer als Migrant erlebt, dass Leistung anerkannt wird und zählt, Chancen ermöglicht werden und umgekehrt bewusste Integrationsverweigerung auch sanktioniert wird, wird verinnerlichen und akzeptieren, dass das Grundgesetz als Leitkultur die richtige und einzige Grundlage unseres Zusammenlebens ist.“

Nichts daran ist rassistisch. Für Özdemir zählt nicht die Herkunft, sondern Einstellungen und Überzeugungen. Und von denen sind nun einmal nicht alle kompatibel mit einer offenen, liberalen Gesellschaft. Wer Özdemir wegen seines FAZ-Artikels angreift, kann entweder nicht lesen – oder will es nicht.

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