Angst, Mut und Feigheit – oder wieso die Ukraine mit dem Rücken an der Wand steht

Zivilsten bereiten sich in Kiew auf den Kampf gegen den russische Armee vor Foto (Archiv): Yan Boechat/VOA Lizenz: Gemeinfrei


Der Mensch kommt schwach und hilflos zur Welt – das ist die Art und Weise, wie die Natur es für uns vorgesehen hat. Wir sind auf andere Menschen angewiesen, um zu wachsen und stärker zu werden. Eine Garantie dafür gibt es jedoch nicht.

Wer Glück hat, was den Zeitpunkt, den Ort und die Eltern seiner Geburt betrifft, und zudem von guten Genen profitiert, kann erfolgreich sein. Doch wenn diese Faktoren nicht stimmen, bleibt vielen dieses Glück verwehrt. Zwar mag jemand äußerlich stark wirken, innerlich bleibt er jedoch oft ein Feigling. Keine Therapie, kein höheres Wesen und keine esoterischen Ansätze können das ändern.

Diese Wahrheit fällt vielen schwer zu akzeptieren. Doch in riskanten Situationen, die früher oder später im Leben unvermeidlich werden, zeigt sich die Angst. Sie offenbart, dass wir von Natur aus risikoscheu sind. Diese Angst kann alle Vorstellungen von persönlicher oder kollektiver Stärke zerstören und das Selbstbild ins Wanken bringen. Ein Extremfall ist der Krieg. Aus diesem Grund haben so viele Menschen – zurecht – Angst davor.

Aber was passiert mit unserer Angst, wenn ein Krieg doch ausbricht, wie derzeit in der Ukraine? Wenn ein Aggressor ein Land mit brutaler Gewalt angreift, das selbst keinen Krieg wollte und militärisch kaum in der Lage ist, sich zu wehren? Warum kämpfen die Menschen dann trotzdem, obwohl sie wissen, dass sie verlieren könnten?

Der Grund ist, dass uns in Gefahrensituationen Mut erwächst. Neben Angst gehört auch Mut zur menschlichen Natur. Durch Erziehung und Erfahrung kann Mut zu einer individuellen und gemeinschaftlichen Kraft werden. Im Ernstfall kann der Mensch über seine Angst hinauswachsen und sogar das Risiko des eigenen Todes in Kauf nehmen, um das Leben zu verteidigen, das er als wertvoll empfindet. Nicht jeder hat diese Stärke, und niemand sollte diejenigen verurteilen, die es nicht schaffen, mutig zu sein. Übertriebener Mut kann genauso gefährlich sein wie lähmende Angst. Im Krieg bleibt jedoch kaum Zeit, beides abzuwägen.

Anders ist es für die Beobachter in sicheren Ländern. Viele von ihnen – besonders Politiker, Intellektuelle und Journalisten – bewerten den Mut der Kämpfenden entweder als heroisch oder als irrational und selbstzerstörerisch. Einige Pazifisten diffamieren ihn sogar als unmenschlich, da Krieg zunächst mehr Leid und Tod bringt als eine Kapitulation. Sie erklären Feigheit zur vernünftigeren Wahl und betrachten Mut als unlogisches Handeln. Zumindest so lange die Bedrohung sie nicht selbst betrifft.

Aber was geschieht, wenn die Kämpfenden militärische Unterstützung fordern? Wenn sie Hilfe brauchen, um ihren aussichtslosen Kampf in einen möglichen Sieg zu verwandeln? Viele Zuschauer tun nichts, weil sie selbst nicht in Verzweiflung leben und daher keinen Mut aufbringen müssen. Ohne entschlossene Führungspersönlichkeiten verstärkt sich diese Passivität und wird zum demagogischen Einfallstor für die, die aus Eigeninteressen den Sieg der Verteidiger gar nicht wollen. Am Ende verlieren die mutigen Kämpfer ihre Hoffnung – und oft auch den Krieg.

Putin hat diesen Mechanismus verstanden und von Anfang an auf die Angst vor einem Atomkrieg gesetzt. Diese Drohung macht Feigheit scheinbar rational, denn wer will schon für ein einzelnes Land einen dritten Weltkrieg riskieren? Doch diese Drohung funktioniert nur, weil niemand den Mut hat, sie zu hinterfragen. Warum sollte Putin diese totale Vernichtungsdrohung in die Tat umsetzen, wenn sein Vermögen, er selbst und seine Familie und das von ihm erstrebte großrussische Reiche bei einem unvermeidlichen Zweitschlag auch selber vernichtet werden.

Die perfide Logik von Putins Drohungen liegt darin, dass ihr Ernst nur durch den Mut widerlegt werden könnte, das Risiko einzugehen. Deshalb ist es wenig sinnvoll, denjenigen, die dazu zu ängstlich sind, moralische Vorwürfe zu machen. Stattdessen muss eine Koalition der Mutigen entstehen, die erkennt, dass die militärische Unterstützung der Ukraine nicht nur deren Freiheit, sondern auch die eigene sichert.

Andernfalls droht der Ukraine die Unterwerfung unter einen Aggressor, der in seinem Einflussbereich nachweislich keine Gnade gegenüber Oppositionellen und Kritikern zeigt. Ein Aggressor, der bereit ist, weitere Kriege zu führen, um eine beherrschende Großmacht in Europa zu werden. Ein Aggressor, der nur dann zu Verhandlungen bereit ist, wenn sie allein seinen Interessen dienen, und der keinerlei Skrupel hat, Angst und Schrecken zu verbreiten, um seine Gegner zu lähmen.

Auch der nächste Präsident der USA wird diese Herausforderung kaum lösen können, unabhängig von großen Worten oder Versprechungen. Es genügt nicht, die Ukraine durch Drohungen mit Waffenentzug an den Verhandlungstisch zu drängen, wenn Putin selbst nicht bereit ist, Platz zu nehmen, weil er sich auf der Siegerstraße sieht. Weil seine Angststrategie funktioniert und die europäischen Unterstützer kuschen lässt.

Ein großes Maul ersetzt weder Mut noch die notwendigen Waffenlieferungen, die allein Putin dazu zwingen könnten, ernsthaft auch nur über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Der wiederum könnte nur dadurch abgesichert werden, dass Putin durch das Waffenpotential der Ukraine genügend davon abgeschreckt wird, ihn zu brechen. Dieser strategischen Logik kann auch der mächtigste Präsident der Erde nicht entkommen. Es sei denn, er ist bereit, nicht nur die Ukraine sondern ganz Europa Russland zum Fraß zu überlassen.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung