Antisemitische Demonstrationen: „Die Welle ist abgeebbt – außer in Berlin“

Slogan „Free Palestine from German Guilt“ bei einer antisemitischen Demonstration am Berliner Kottbusser Tor (2023) Foto: Montecruz Lizenz: CC BY-SA 3.0


Seit 2008 beobachtet und filmt das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) antisemitische Demonstrationen in ganz Deutschland. Bevor es die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) gab, sammelte das JFDA auch Informationen über antisemitische Zwischenfälle. Die Zahl der Demonstrationen ist nach den Massakern der Hamas und ihrer Verbündeten am 7. Oktober in Israel in Deutschland explodiert. Levi Salomon ist der Sprecher, Geschäftsführer und Koordinator des JFDA.

Es jährt sich der Angriff der Hamas auf Israel. Was haben Sie seitdem auf den Straßen Deutschlands beobachtet?
Die Zahl der antisemitischen Demonstrationen und Kundgebungen ist nach dem 7. Oktober sprunghaft angestiegen. Insgesamt haben wir gut 200 Demonstrationen in ganz Deutschland beobachtet und dokumentiert. Die Videos kann man sich im Netz anschauen. Vor allem in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hamburg kam es zu zahlreichen Demonstrationen – antisemitische Zwischenfälle waren auf ihnen Standard. Mittlerweile ist die Welle im Großteil Deutschlands abgeebbt, aber in Berlin gibt es solche Demonstrationen immer noch fast täglich.

Hat sich der Charakter der Demonstrationen geändert?
Sie wurden im Laufe der Zeit radikaler und gewalttätiger. Es kommt immer häufiger zu Angriffen auf Journalisten, Gegendemonstranten und die Polizei. Auch unsere Mitarbeiter werden oft angegriffen.

Wie gehen die damit um?
Sie sind von ihrer Aufgabe überzeugt, kennen die Risiken und wissen, dass ihre Arbeit gefährlich ist. Und es gibt ja nicht nur Angriffe im Zusammenhang mit Demonstrationen und Kundgebungen. Auch jüdische und israelische Einrichtungen und alles, was dafür gehalten wird, werden attackiert, ebenso wie Juden in der Öffentlichkeit. Dazu kommen die Feindmarkierungen durch die roten Dreiecke, was von der Hamas übernommen wurde. Auf Social-Media-Kanälen wurden so auch Mitarbeiter von uns markiert. Das Schlimmste für mich war in jüngster Zeit der Angriff auf das Mahnmal in der Rosenstraße in Berlin, das an die Demonstrationen nichtjüdischer Frauen und Freunde von Juden während der Nazizeit gegen die Deportation Berliner Juden erinnert.

Das Mahnmal wurde mit der Parole »Jews are committing genocide« nebst einer auf den Boden gesprühten Palästina-Flagge beschmiert, gerahmt von »Free Palestine«. Warum ist die Lage in Berlin besonders schlimm?
In Berlin verfügt die antisemitische Szene über gut ausgebaute Strukturen. Hier gibt es Organisationen wie »Palästina spricht« und viele weitere, die eng mit der Hamas oder der Hizbollah verbunden sind. Hier mischen sich islamistische Milieus mit links­radikalen, antiimperialistischen. Die Abstimmung über Social Media ist nahezu perfekt: Als Israel im Oktober angeblich ein Krankenhaus in Gaza zerstört hatte – in Wahrheit war es eine Rakete einer palästinensischen Gruppe – gab es noch in der selben Nacht die erste Demonstration vor dem Brandenburger Tor.

Es ist legitim, für die Interessen von Palästinensern auf die Straße zu gehen. Wann werden für Sie die Grenzen des Zumutbaren überschritten?
Wenn auf Demonstrationen zur Gewalt aufgerufen wird, anti­semitische Parolen geschrien werden und zur Vernichtung Israels aufgerufen wird, darf das nicht geduldet werden. Wenn jüdische Menschen, und das ist im Moment der Fall, sich nicht mehr sicher in der Öffentlichkeit bewegen können oder Angst haben, die ­Universität oder Schule zu besuchen, muss der Staat reagieren.

Der Artikel erschien in ähnlicher Form bereits in der Jungle World

 

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