Im dritten Roman der österreichischen Autorin Isabella Straub lernen wir die Straßen der Stadt Wien aus der Perspektive des temporär obdachlosen Protagonisten kennen und erfahren, dass eine Metropole ein Kaleidoskop aus unzähligen sozialen Milieus ist.
Philipp Kuhn hat die Zelte hinter sich radikal abgebrochen; ein paar Kisten mit seinen persönlichen Sachen, sein Laptop und seine Kontobücher schon vor Tagen aus der Villa seiner Ex-Freundin in die Wohnung seiner neuen Freundin Myriam geschafft, noch eben Schluss mit der Ex gemacht und ist jetzt bereit für den neuen Lebensabschnitt und die neue Lebensabschnittsgefährtin. Irritierend ist dabei nur, dass diese von einem Tag auf den anderen gar nicht mehr in ihrer Wohnung wohnt und auch an ihrem Arbeitsplatz im Hotel, in dem sie arbeitet, nicht aufzufinden ist, sehr zum Leidwesen der Polizei, die sie genauso fieberhaft zu suchen scheint, wie Kuhn.
Und da die Kisten, das Laptop und die Kontobücher genauso unauffindbar sind, wie die mysteriöse Myriam, hat Kuhn jetzt ein gewaltiges Problem und ansonsten gar nichts, kein Geld, kein Dach über dem Kopf und keinen Job, den hat er nämlich auch noch verloren, weil er in der Firma seiner Ex Vera angestellt war. Lief schon mal besser bei ihm. Während Kuhn nun versucht herauszubekommen, wo Mystery Myriam abgeblieben ist, lebt er auf der Straße, schleppt dabei aber die ganze Zeit einen gerahmten Kunstdruck mit sich herum, der einen Mann mit einem Turban zeigt, den er „Adam“ getauft hat. In dem Maße, in dem Kuhn auf seiner Odyssee durch die moderne Großstadt Wien zunehmend die Apokalypse seines Lebens erlebt, in dem Sicherheiten, Rückzugsmöglichkeiten und Freundschaften in sich zusammenfallen wie Kartenhäuser, lernt er gleichzeitig neue Menschen und Horizonte kennen, er macht die Bekanntschaft des alten Herrn Solak und hat eine Liebschaft mit Tamara, die ihn in die Welt der SUHOs, der Suddenly Homeless einführt, einer Gruppe, die mit unorthodoxen Ideen und grenzwertigen Methoden versucht, ihrem Schicksal auf der Straße neue Formen der Überlebens- und Übernachtungskunst entgegenzusetzen. Ihnen schließt er sich zwischenzeitlich an und macht sich so seine Gedanken über sich, Myriam und seine merkwürdige Situation.
„Das Wesen der Erkenntnis ist ihre Unbarmherzigkeit. Sie befällt einen wie ein Parasit, ein Wurm, der durch die Blutbahn gespült wird und seine Eier in den Organen ablegt. Ist sie erst einmal da, kann man sich mehr zurück in den alten Zustand. Kuhn fühlte sich betrogen. Er hatte sich geirrt.
Er war immer der Meinung gewesen, dass Glück etwas war, das ihm zustand. Dass er ein Recht hatte auf loyale Freunde, auf einen besonderen Job, der seine Talente unterstrich, auf eine außergewöhnliche Frau, und er fragte sich jetzt, woher er diese Sicherheit genommen hatte. Er war der festen Überzeugung gewesen, in Myriam endlich eine Frau gefunden zu haben, die seinen Wert erkannt hatte. Die Belohnung für Jahrzehnte voller Kompromisse.
Nun lag er hier und hatte nichts. Glücklos war das falsche Wort. Er war unbegabt für das Leben.“
„Wer hier schlief“ verhandelt seine Themen auf verschiedenen Fiktionsebenen; Kuhns Suche nach Myriam wechselt sich ab mit seiner fast täglichen Suche nach Obdach. Während dieser Suchbewegungen macht er bereits erwähnte Bekanntschaften und wird darin unterbrochen durch seine dominante Schwester, die versucht, ihn aus den USA per Telefon fernzusteuern, sowie durch seine Mutter, die so desinteressiert an ihrem eigenen Sohn ist, dass Kuhn diese Tatsache aufgrund seiner eigenen prekären Situation scheinbar zum ersten Mal in seinem Leben sauer aufstößt und ihn zu der existentiellen Frage bringt, wer er denn überhaupt ist, was ihn mit Vera verband, was zu Myriam hinzog und vorläufig zu Tamara führte. Erzähltechnisch wechselt sich die realistische Fiktionsebene ab mit Erinnerungen und surrealen Situationen, in denen das Geschehen sich total absurd zuspitzt, wie bei Kuhns Skype-Telefonat mit seiner Mutter oder einer Situation auf einem Polizeirevier. Diese Ebene entspricht stilistisch der zweiten stummen Hauptfigur des Romans, dem Kunstdruck des Turbanmannes Adam, in dem Kuhns neuer Freund Solak sogleich einen Haussner erkennt, einen Vertreter des Phantastischen Realismus: Als solchen muss man die surrealen Situationen lesen, in die Kuhn immer wieder gerät. Eine weitere Ebene flicht die Autorin durch die Kunst ein. So wird Kuhn vor dem Hotel Krone auf die Installation ETERNAL CHECK IN aufmerksam: „Ein Dutzend Touristen blockierten den Hoteleingang. Sie standen zwischen ihren folierten Trolleys wie erstarrt (…). Figuren aus Kunststoff, denen man Kleider übergezogen hatte. Sie wirkten täuschend echt, weil die Gesichter, wie er jetzt sah, sämtliche Spuren von Alter, Frust und nachlässiger Kosmetik trugen. Falten, Pickel, Warzen waren deutlich zu sehen, sogar die Pupillen schienen sich zu bewegen.“ Spätestens, wenn Kuhn sich vor der Polizei in der Installation versteckt und temporär Teil davon wird, verschwimmen die Grenzen zwischen der Realitätsebene und der Kunstebene, sie zerfließen ineinander.
„Wer hier schlief“ liest sich als Coming of Age-Geschichte eines großkotzigen bürgerlichen Hosenscheißers, der in der Krise zum ersten Mal auf die existentiellen Fragen des Lebens gestoßen wird, denen er sich vorher freiwillig nicht zu stellen vermochte.
„Friedrich Solak hatte gesagt, dass er ein ganzes Leben benötigte, um zu verstehen, was man wirklich braucht. ‚Es ist nicht viel. Nie ist es viel.‘ hatte Solak gesagt. ‚Lass Sie los, Herr Philipp, lassen Sie alles los. Haben sie Vertrauen. Was sie brauchen wird ohne Ihr Zutun zu Ihnen kommen.‘“.
So lernt Kuhn Demut vor dem Schicksal und lernt die Existenzform des modernen Nomaden in einer ihrer Facetten kennen. Der Roman behandelt nicht das Thema der Obdachlosigkeit, dafür ist er zu sanft, zart und rücksichtsvoll geschrieben. Wer etwas über die brutale Realität der Obdachlosigkeit erfahren möchte, dem sei Richard Brox‘ Autobiographie: „Kein Dach über dem Leben: Biographie eines Obdachlosen“ (Rowohlt Taschenbuch 2017, ISBN 978-3499632945, 9,99€) ans Herz gelegt. Isabella Straub nimmt uns mit ihrem Protagonisten vielmehr mit auf eine nomadische Odyssee durch das heutige Wien, in deren Verlauf Kuhn an den Punkt kommt, an welchem er für einen Neustart herangereift ist. Die Szene der SuHos, in welche die Leser mit ihm eintauchen, machen deutlich, dass in Zeiten zunehmender Obdachlosigkeit nomadische Parallelgesellschaften entstehen, die, weil sie mit leichtem Gepäck reisen, ganz schlecht zu fassen sind, besonders, wenn sie zudem gut organisiert und untereinander vernetzt sind: Die Dystopie, die in ihrem Plan des Nestings zart angedeutet wird, würde eine zunächst heimliche Unterwanderung der Besitzenden durch die Obdachlosen bedeuten, die – wenn sie offenbar würde – zu einer kriegerischen Konfrontation der Besitzlosen gegen die Besitzenden eskalierte. Zusammen mit den surrealistischen Elementen macht diese gesellschaftliche Relevanz gemeinsam mit der individuellen Entwicklungsgeschichte des Protagonisten „Wer hier schlief“ zu einem sehr lesenswerten Roman und einem wichtigen Werk im Kanon über das urbane Prekariat der Gegenwart.
Isabella Straub: Wer hier schlief. Roman
Blumenbar, Aufbau-Verlag Berlin 2017
304 Seiten, gebunden, EUR 20,00
ISBN-10: 3351050429
ISBN-13: 978-3351050429