Berlin ist hip. Berlin ist angesagt. Berlin ist, wie mitunter auch zu hören, sexy. „Arm, aber sexy“, sagt Wowereit. Regierungschefs müssen irgendetwas so in dieser Art sagen, Wowereit kann und vor allem darf dies sogar auf seine Art sagen. Man stelle sich nur vor, Ministerpräsident Sellering (ebenfalls SPD) würde dies für das ebenfalls wählende Mecklenburg-Vorpommern (ebenfalls rot-rot regiert) ebenfalls so oder so ähnlich sagen! Oder Haseloff (CDU) für Sachsen-Anhalt (schwarz-rot).
Dabei sind auch diese Bundesländer richtig schön arm. Aber nur Berlin ist Berlin. Arm, aber hip. Gerade auch bei den Ruhrbaronen, und gerade jetzt. Gestern schrieben hier Tatjana Willms über die Situation der Kinderspielplätze in der Hauptstadt und Annina Luzie Schmid über die Aktion “Wahlrecht für alle!”, die sich für ein kommunales Wahlrecht auch für Nicht-EU-Ausländer einsetzt. Und vorgestern machte sich Stefan Laurin Gedanken über Risiken, die der Online-Wahlkampf der Grünen, der „der beste sei“, mit sich bringen könnte.
Berlin ist angesagt. Gewiss nicht nur in diesem auf eine andere arme, vielleicht nicht ganz so sexy wahrgenommene Region spezialisierten Blog. Nicht nur, aber bestimmt auch deshalb, weil hier – also in Berlin – in vier Wochen die Landtagswahlen anstehen, die objektiv spannender zu werden versprechen als die bereits in zwei Wochen in Mecklenburg-Vorpommern stattfindenden. An der Ostseeküste scheint nämlich die Wiederwahl der rot-roten Koalition eine ziemlich klare Angelegenheit zu sein.
Das sieht in Berlin allerdings für SPD und Linke deutlich schwieriger aus. Den letzten Umfragen zufolge ist die rot-rote Mehrheit futsch, allerdings nur knapp. Vier Institute stellen in Berlin regelmäßig die Sonntagsfrage, nämlich Emnid, Forsa, INFO GmbH und Infratest dimap. Ganz neu ist das Umfrageresultat von Emnid, habe ich online noch nicht, jedoch soeben in der heutigen Printausgabe der WAZ gesehen: SPD (36 %), CDU (23 %), Grüne (22 %), Linke (8 %), FDP (2 %), Sonstige (9 %). Die INFO-Zahlen kamen vorgestern, Infratest lieferte letzte Woche; alle drei Untersuchungen also jedoch relativ frisch. Allein Forsa liegt bei heutiger Betrachtung zeitlich etwas zurück; Güllners letzte Werte sind jetzt gut drei Wochen alt.
Ich habe das arithmetische Mittel aus den Ergebnissen der vier Meinungsforschungsinstitute gebildet; daraus ergibt sich das folgende Bild:
SPD 33 % (+ 3)
CDU 23 % (- 2)
Grüne 22 % (- 3)
Linke 10 % (- 3)
FDP 3 % (+/- 0)
Sonstige 9 % (+ 1)
Die in den Klammern angezeigten Veränderungen beziehen sich auf den 28. Juli, also ein Drei-Wochen-Vergleich, auf Basis der nach Veröffentlichung der letzten Forsa-Werte nach dem gleichen Verfahren erhobenen Werte.
Nach Erscheinen der INFO-Zahlen am späten Freitagabend schrieb Stefan Laurin hier: „Das sieht nach Rot-Grün aus. Die Grünen werden in Berlin nicht den Juniorpartner der CDU machen.“ Das ist richtig; aber wohlbemerkt: alles liegt in Berlin ziemlich knapp, noch sind es drei Wochen hin, und: in der Hauptstadt tut sich gegenwärtig eine ganze Menge. In obigen Zahlen erfasst ist, dass trotz des erwähnten guten Online-Wahlkampfes die Grünen – analog zum bundesweiten Trend – ihren Zenit offenbar überschritten haben, und dass im Gerangel in den Wahlkreisen die Kandidaten der Linken gegenüber den Sozialdemokraten an Boden verlieren.
Doch auch der jüngste Aufwärtstrend der SPD wird durch die aktuellen Ereignisse gestoppt. Die brennenden Autos schlagen nicht nur Grünen und Linken ins Kontor, sondern setzen auch Wowereit unter Druck. Die Serie von Brandanschlägen in Berlin spielen der CDU-Wahlkampagne direkt in die Hände und stellen, egal wie markig Künasts Verurteilungen auch ausfallen mögen, für die Grünen so etwas wie eine Katastrophe dar. Unter diesen Umständen ist nicht daran zu denken, dass die Grünen am 18. September vor der CDU ins Ziel einlaufen könnten. Noch vor drei Wochen schrieb ich: „Die CDU, die (noch) vier Prozentpunkte hinter den Grünen liegt, wird sich nach Lage der Dinge mit der Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die Grünen begnügen müssen.“ Schnee von gestern, die Lage der Dinge hat sich geändert, Künasts einzige Chance, Regierende Bürgermeistern werden zu können, ist im Grunde verbrannt.
Vermutlich wird auch Wowereit Abstriche an seinem Traumergebnis hinnehmen müssen, aber eben Regierender bleiben. Etwas arm, aber ziemlich sexy. Die Berliner Morgenpost kommentierte schon vor gut einer Woche: „Nach dem 18. September sind jetzt wieder mehrere Koalitionen möglich. Rot-Rot – möglicherweise, wenn die Linke noch ein bisschen zulegen kann. Rot-Grün sicherlich, denn die beiden Parteien kommen derzeit ja auf eine satte Mehrheit von 53 Prozent. Renate Künast müsste dann aber im Bundestag verbleiben. Aber auch eine rot-schwarze Koalition ist gut möglich, denn Wowereit hat Spaß daran, die Grünen zu ärgern, die Parteien gegeneinander auszuspielen und so das für ihn beste Ergebnis herauszuhandeln.“
Last but not least: aus den brennenden Autos können die Rechtsaußenparteien offenbar keinen Honig saugen. Die hohen Umfragewerte für die „sonstigen Parteien“ gehen nämlich weder auf das Konto der beiden rechtspopulistischen Parteien („Pro“ und „Freiheit“) noch auf das der völlig abgeschlagenen NPD, die ihren Führer auf einem Motorrad sitzend mit der Parole „Gas geben!“ plakatiert. Hinter den prognostizierten neun Prozent für die „Sonstigen“ steckt zum größten Teil die Piratenpartei, vielleicht sogar bis zur Hälfte. Bei der INFO GmbH kamen die Piraten jetzt auf 4,5 %, bei Infratest in der Woche zuvor auf 3 %, bei Emnid und Forsa gibt es dazu keine Angaben. Die aufkeimenden Hoffnungen auf einen Einzug ins Abgeordnetenhaus scheinen mir übertrieben, doch einige Sitze in den verschiedenen Bezirksverordnetenversammlungen sind wahrscheinlich.
„dass trotz des erwähnten guten Online-Wahlkampfes die Grünen – analog zum bundesweiten Trend – ihren Zenit offenbar überschritten haben“
– Fukushima? Erinnert sich noch jemand daran? Können die Grünen noch Wahlen gewinnen, ohne irgend etwas dafür tun zu müssen?
– und dann gibt es in Berlin noch dieses klitzekleine Problem namens Künast, die schon vorab erklärte, daß sie für Berlin nur als Regierende Bürgermeisterin arbeiten will: das findet der „normale Bürger“ natürlich mächtig sympathisch
In Hinterpommern regiert rot-schwarz. Sie wissen schon, die C-Partei.
@ Erdgeruch (#2):
Danke für den Hinweis! Ist mir – ehrlich gesagt – schon peinlich. Um meine politische Bilung war es auch schon einmal besser bestellt. Irgendwie war ich mir so sicher, sogar den Namen „Sellering“ hatte ich ohne jede Recherche gewusst. Und dann so ein Schnitzer. – Sie haben „natürlich“ Recht:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kabinett_Sellering
Die SPD stellt noch bis zur Wahl den Innensenator und die Verkehrssenatorin. Bei einer regierenden Partei schaue ich mir nicht das Wahlprogramm an, sondern was sie (sich) geleistet hat. Und da fällt mir so auf, dass die beiden Senatorin ihre Klassenziele nicht erreicht haben.
Die Berliner Verkehrspolitik ist ein einziges Desaster. Da stimmen alle mit ein, egal, wie sie sich in Berlin fortbewegen.
Und die brennenden Autos gibt es seit Jahren. Und keiner von den Betroffenen hat vermutlich vergessen, wie Körting und sein damaliger Polizeipräsident Glietsch damals das Thema angingen: Nicht die Täter, sondern die Opfer -bzw. die, die keines werden wollen- hätten ihr Verhalten zu ändern. Nämlich „nicht so provozierend zu parken.“ Die jetzige Polizeipräsidentin für zwischendurch, Koppers, bemüht sich derzeit nach Kräften, den Eindruck zu verschleiern, es handle sich bei den Brandstiftern um linksextreme Terroristen. Legte man die Logik von Koppers und Körting an, würde es sich auch bei Al Quaida um keine terroristische Vereinigung handeln, sondern um lose Einzeltäter.
Die SPD muss deshalb zittern. Die CDU wird noch kräftig zulegen.
@ Frank (#4):
Okay, Du bist Berliner, ich nicht. Glaube aber, mich ein wenig in die „Mechanismen“ hineindenken zu können. Ja, „die brennenden Autos gibt es seit Jahren“. In der ersten Überraschung wurde von den Ratlosen etwas herumgesülzt. Doch inzwischen hat sich die Haltung – zumindest die Rhetorik, aber wie ich höre, nicht nur die – doch deutlich geändert. Die Rhetorik von SPD, Linken und Grünen, die Haltung der Behörden; nur: gegen das Abfackeln von Autos wird es keine polizeiliche Lösung geben können.
Du unterschlägst, dass seit einigen Wochen – „England“ und der Wahlkampf – das Konjunkturprogramm für die Autoindustrie völlig neue Ausmaße angenommen hat. Und nun? Du bist doch ein liberaler Mensch, ich doch nicht. Was jetzt? Und: Du bist wahlberechtigt. Wenn ich fragen darf: welche Partei darf denn jetzt auf Deine Stimme hoffen?
„Die CDU wird noch kräftig zulegen“, schreibst Du. „Kräftig“ – weiß ich nicht; „zulegen“ bestimmt. Schade für Künast. Warum sollte die SPD deshalb zittern? Erstens wird dieser CDU-Nobody nicht in die Nähe von Wowereit kommen, und zweitens – ein reines Konstrukt – selbst wenn die CDU die SPD ein- oder gar überholen würde …
Wird sie nicht. Die Berliner sind wütend, logisch. Eine Wechselstimmung sei nicht auszumachen, sagen die Meinungsforscher und alle. Wowereit wird in Berlin eine komfortable Position erhalten. In Bezug auf die Gesamt-SPD ist es allerdings von Interesse, ob er einen „Pflichtsieg“ liefern wird oder einen triumphalen Triumph. Danach – da gebe ich Dir Recht – sieht es m.E. zur Stunde nicht aus. Gut für Steinbrück.
@Werner
Wowereit ist wohl gelitten, das stimmt schon. Aber der Restsenat überhaupt nicht.
Die Leute wählen anders, wenn sie plötzlich selbst zu Betroffenen werden. Wir sehen die Grünen im Sinkflug – interessanterweise genau seitdem Renate Künast aktiv in den Wahlkampf eingestiegen ist.
Wen ich wähle? Ich wähle den, der sich am meisten für meine Interessen einsetzt: Industriearbeitsplätze, Verkehrspolitik mit Verstand, innere Sicherheit, keine teuren Hohenzollern-Devotionalien. Umweltschutz, aber keinen, der den totalen Stillstand der Stadt als Vision hat, also nicht die Vision der Hausschuhträger.
Ich wähle nicht: Straßenausbaubeitragsgesetz, „Umweltzone“, S-Bahnchaos, Schlaglöcher, rote Ampelwellen.
Übrigens könnte auch der Skandal um die Wirtschaftsförderungsgesellschaft „Berlin-Partner“ noch hochkochen.
@ Frank
was sind denn „Hausschuhträger“?
wenn jemand Flip-Flops trägt, ist er dann „Hausschuhträger“?
@Berliner: Nein. Wenn er sich nicht mehr aus seinem Kiez bewegt, ist er ein Hausschuhträger.
Letzte Meldung: Die Autobrandstifter haben ein Briefbombenattentat auf den CDU Spitzenkandidaten Frank Henkel verübt. In einem Selbstbezichtungsschreiben der linksextremen Attentäter wird Bezug auf die Autobrandstiftungen genommen. Damit ist der Versuch von Senat und Polizeipräsidentin, diese im Vorfeld der Wahlen als Taten verwirrter Einzeltäter zu verharmlosen, gescheitert.
@Frank: Sie wirken schon sehr hausschuhig (um mal ein neues Adjektiv zu erfinden), wenn Sie die paar bekloppten Autoanzündler mit Bin Ladens Terrornetzwerk gleichsetzen. 😉 In Berlin, an der Hamburger Schanze oder an sonstigen legendären Orten erlebnisorientierter Jugendlicher gab es schon immer so einen Unsinn wie brennende Autos, Strassen-„Schlachten“ etc. — das ist alles nix Neues und sollte einen Seemann nicht erschüttern. 😉
Aber vielleicht schafft es die CDU ja wirklich durch die Nummer noch zwei, drei Prozentpunkte aufzuholen. Doch mehr als einen Blumentopf werden sie mit der billigen Panikmache nicht gewinnen – jedenfalls nicht bei all den Menschen, die etwas genauer hinsehen. 😉
Ein Denkzettel für die SPD in Berlin ist überfällig und das ist auch gut so !
Ahoi, Mit-Leser 😉
Autobrandstiftungen hat es nicht schon immer gegeben. Und es wurden auch nicht schon immer Briefbomben an die gesendet, die sich dem entgegen stellen.
Ich glaube, Sie unterschätzen diese Entwicklung. Die Berliner CDU wird bei den nächsten Umfragen dazu gewinnen. Und zwar deutlich.
@ Frank
„Die Autobrandstifter haben ein Briefbombenattentat auf den CDU Spitzenkandidaten Frank Henkel verübt.“
vielleicht ein ganz klein wenig hysterisch? Die letzte Meldung:
„Bombenattrappe an Henkel geschickt
Unbekannte haben dem Spitzenkandidaten der Berliner CDU bei der Abgeordnetenhauswahl, Frank Henkel, eine Briefbomben-Attrappe geschickt.
Henkel sagte dem rbb am Sonntag, Spezialisten des Landeskriminalamtes hätten den Umschlag am Nachmittag geöffnet. Darin sei eine, so wörtlich, „anspruchsvolle Konstruktion“ gewesen. Explosionsgefahr habe nicht bestanden.
Der CDU-Kandidat hatten nach eigenen Angaben den unfrankierten Umschlag am Morgen in seinem Biefkasten entdeckt. Nach dem Fund hatte Henkel die Polizei informiert.
LKA-Beamte durchleuchteten den Umschlag und konnten Entwarnung geben. Ein Sprengsatz war nicht enthalten, sondern ein Drahtmechanismus, der dazu führte, dass eine Melodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“ abgespielt wurde.
Am Sonnabend war bereits ein anonymes Drohschreiben bei einer großen Berliner Boulevardzeitung eingegangen, bestätigte Henkel den rbb. Darin sei er im Zusammenhang mit der Serie von Brandanschlägen auf Autos als geistiger Brandstifter bezeichnet worden.. Stand vom 21.8.2011″
https://www.radioberlin.de/nachrichten/index.shownews.%21content%21rbb%21rbb%21nachrichten%21politik%212011_08%21briefbombe_unbekannte.html
[…] widerwillig regiert werden. Zum anderen wichtig war Wowereits Charakterisierung Berlins 2004 als „arm, aber sexy“. Man stelle sich das mal vor: Plötzlich waren Reichtum, Fleiß, Pflichtbewusstsein gar nicht mehr […]