Im vergangenen Jahr wurde ein Genozid in die Tat umgesetzt und niemand spricht mehr darüber. Nach der gewaltsamen Vertreibung der Armenier aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat Bergkarabach, sie selbst nennen sie Arzach, gibt es zwischen Armenien und Aserbaidschan immer wieder Friedensverhandlungen, allerdings mit zwei ungleichen Partnern.
Am 15.11.2024 erklärte Jonathan Spangenberg, Vorstandsvorsitzender des Zentralrates der Armenier, in einer kleinen Veranstaltung in Arnstadt, wo ein Film von Jivan Avestisyan über den ersten Bergkarabach-Krieg in den 90er Jahren gezeigt wurde, was aus seiner Sicht gerade in Armenien passiert. Er sieht das Land akut bedroht.
Bergkarabach war zu Sowjetzeiten eine anerkannte Exklave im Gebiet Aserbaidschans und erklärte sich noch vor Armenien selbst für unabhängig und trat aus der Sowjetunion aus. Es war bis September 2023 ein funktionierender kleiner Staat. Aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Völker hatten die Karabach-Armenier auch das Recht auf ihrer Seite. Der kleine Staat fand allerdings international keine Anerkennung. Nach dem ersten Krieg um Bergkarabach 1992 bis 1994 ging Armenien auch durch die Unterstützung Russlands als Sieger hervor und besetzte einige Gebiete Aserbaidschans als Schutzzone für den kleinen De-Facto-Staat. Seit 1994 gab es eine längere Waffenruhe. Nachdem jegliche Verhandlungen gescheitert waren und Aserbaidschan, durch seine Öl- und Gasvorkommen reich geworden, massiv aufgerüstet hatte, kam es 2020 zum 44-Tage-Krieg, in dem Armenien die besetzten Bezirke räumen musste und auch Teile von Bergkarabach an Aserbaidschan gingen. Die Weltöffentlichkeit hatte sich aus diesem Krieg weitestgehend herausgehalten. Den Waffenstillstand 2020 organisierte dann Russland und stationierte in Aserbaidschan 1000 „Schutzsoldaten“, die für eine reibungslose Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien sorgen sollten. Das kleine Bergkarabach ist inmitten des aserbaidschanischen Territoriums völlig von der Welt abgeschnitten gewesen. Die einzige Verbindung war der Latschin-Korridor, die Lebensader für Bergkarabach, denn nur über diese Straße konnten Güter zwischen Armenien und der kleinen Exklave hin und her transportiert werden. Nach einer 9-monatigen Blockade des Latschin-Korridors durch Aserbaidschan, die in Bergkarabach zu extremer Unterversorgung und einer Hungersnot führte, schaffte Alijew, der uneingeschränkte Diktator Aserbaidschans, am 19. und 20. September 2023 Tatsachen und vertrieb mit Waffengewalt nahezu die komplette armenische Bevölkerung aus Bergkarabach. 110.000 Menschen wurden systematisch ausgehungert und schließlich von aserbaidschanischen Soldaten zur Flucht gezwungen. Sie verloren in wenigen Tagen ihre Heimat, ihren Besitz, ihre Kultur und ihre Identität. Während es im ersten Bergkarabach-Krieg nur um territoriale Kämpfe ging, will Alijew jetzt einen Genozid an den Armeniern, so Jonathan Spangenberg.
Auch der frühere Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, spricht in seinem Gutachten von einem Genozid. Bereits während der Blockade gab es „Gründe für die Annahme, dass Präsident Alijew genozidiale Absichten hegt: Er hat den Latschin-Korridor wissentlich, willentlich und freiwillig blockiert.“ Mit der anschließenden „Säuberung“ Bergkarabachs von seiner indigenen Bevölkerung und dem Beginn einer systematischen Zerstörung armenischer Kulturgüter in der Region ist er dabei, diesen Genozid dort erfolgreich abzuschließen.
Auch wenn es ein Urteil des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag und eine Resolution der EU für ein Rückkehrrecht der Karabach-Armenier gibt und Aserbaidschan ermöglichen muss, dass geflüchtete Menschen aus Bergkarabach in ihre Heimat zurückkehren können, wird es in der derzeitigen Situation keine Möglichkeit für solch eine Rückkehr geben. Kein Karabach-Armenier wird zurückgehen, solange ihm dort eine Vernichtungsgefahr droht. Es fehlt der internationale Rahmen für die Umsetzung der Rückkehr der Armenier in ihre Heimat, da die genozidale Intention Aserbaidschans gegenüber den Armeniern immer präsent ist. Dieser klaren Absicht zum Völkermord, der nicht unbedingt immer mit dem Töten der Menschen einhergehen muss, denn hier zählt der Vernichtungswille und das Ziel, eine Volksgruppe mit ihrer Kultur zu zerstören, wird international nichts entgegengesetzt. Ohne jeden Druck und ohne jede mögliche Konsequenz für Alijew bleibt sie weiterhin bestehen und eine Rückkehr nach Bergkarabach ist unrealistisch. Aber das ist noch nicht alles…
Alijew träumt gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Erdogan von einem pantürkischen Reich vom Bosporus bis Zentralasien. Und da ist das christliche Armenien im Weg, und zwar das ganze Land. Im aserbaidschanischen Parlament wurde bestätigt, dass der souveräne Staat Armenien „Westaserbaidschan“ wäre und somit zu Aserbaidschan gehören würde. Auch gegenwärtig gibt es bereits Gebiete auf dem armenischen Territorium, die von Aserbaidschan besetzt sind. Die existenzielle Gefahr ist also da.
Zuerst jedoch möchte Alijew eine Verbindung zu Nachitschewan, einer aserbaidschanischen Exklave mit einer Grenze zur Türkei, die selbst vor 100 Jahren noch mit 90 % Armeniern bewohnt war. Hier begann die Entvölkerung allerdings schon zu Sowjetzeiten und dort leben heute keine Armenier mehr. Diesen Korridor kann es aus armenischer Sicht nicht geben. Armenien ist bereit, die Straßen zu öffnen, aber es muss armenisches Territorium bleiben. Seit dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 durch die Türken, nachdem Westarmenien komplett verschwand, gibt es durch die Vertreibung weltweit eine große armenische Diaspora (sieben Millionen Armenier). Der armenische Staat, die kleine Republik Armenien, ist mit ihren drei Millionen Einwohnern das einzige eigene Land auf der Welt für Armenier. Auch die Iraner akzeptieren aus eigenen politischen Interessen keine Veränderung an der Grenze zwischen Armenien und dem Iran. Die Russen wollen dort die Kontrolle wegen ihrer Vormachtstellung im Kaukasus. Die momentane Entwicklung in Georgien macht die Angelegenheit zusätzlich kompliziert. Die georgische Regierung möchte gern vermitteln, tendiert jedoch in Richtung Russland. Angesichts der großen proeuropäischen Massenproteste, die es momentan in Georgien gibt, scheint aber diesbezüglich das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein.
Russland ist für Armenien übrigens schon lange keine Schutzmacht mehr. Putin will die Kontrolle über den Kaukasus und nähert sich nun seit einiger Zeit Alijew an. Zum einen ist er selbst ein Autokrat, zum anderen hat sich Armenien durch seine samtene Revolution 2018 bei Putin unbeliebt gemacht. Aus russischer Sicht war dies eine westliche Revolution, eine Einmischung des Westens in die Region selbst. Für die Armenier war es ein wichtiger Schritt in Richtung Freiheit und Demokratie, verbunden mit einer Annäherung an Europa und den Westen. Russland unterstützt seitdem die Opposition. Nikol Paschinjan, der Premierminister von Armenien, setzt auf die Unterstützung aus dem Westen, aber in dem Krieg 2020 hat „der Westen“ Alijew nicht aufgehalten und Russland brachte schließlich eine Feuerpause mit einem Abkommen, bei dem Armenien die besetzten Regionen und einen größeren Teil von Bergkarabach selbst aufgeben musste.
Wegen des Ukrainekrieges hat sich Russland etwas aus der Region zurückgezogen und sieht wie erwähnt mittlerweile eher Aserbaidschan als Partner. Deshalb haben die Russen die Blockade und die Entvölkerung Bergkarabachs einfach skrupellos zugelassen, obwohl sie Teil der Abkommen waren. Die 1000 „Friedenssoldaten“ haben Alijews Truppen tatenlos gewähren lassen und sich noch an der flüchtenden Bevölkerung bereichert. Alles auch in dem Wissen, dass der Westen de facto nichts machen wird. Russland hat längst den alten Partner Armenien geopfert, auch weil es Paschinjans Regierung nicht will. Und dieser setzt voll auf den Westen, aber von dem ist leider momentan nicht viel zu erwarten.
Armenien selbst hat nicht die militärische Stärke, um allein gegen Aserbaidschan zu bestehen. Paschinjan ist deshalb dringend an einem Friedensabkommen mit Alijew interessiert, das er so schnell wie möglich abschließen will. Der ungleiche Partner Aserbaidschan verzögert jedoch diesen Prozess aus taktischen Gründen und fordert immer mehr. Die verzögerten Verhandlungen lassen befürchten, dass es im Frühjahr sehr ernst werden kann für Armenien, so der Vorsitzende des Zentralrates der Armenier.
Die Weltklimakonferenz (Conference of the Parties, COP) hat Alijew als PR-Show genutzt und versucht sich so von seinen Verbrechen reinzuwaschen. Russland hatte im Vorfeld zur Entscheidung, an welchem Ort die Konferenz ausgetragen werden soll, sein Veto gegen Bulgarien und Armenien sein Veto gegen Aserbaidschan eingelegt. Um eine Annäherung zu Aserbaidschan zu erreichen, wegen möglicher Fortschritte bei den Friedensverhandlungen und um Gefangene aus dem Krieg 2023 frei zu bekommen (33 wurden schließlich befreit), hat Armenien schließlich eingelenkt, sodass die COP in Baku stattfinden konnte.
Die Weltklimakonferenz war dann allerdings ziemlich skandalumwittert und wäre fast gescheitert, sodass von der PR-Wirkung für Alijew wohl weniger übrig blieb, als dieser sich erhofft hatte.
Nichtsdestotrotz geht Jonathan Spangenberg davon aus, dass nach COP und nach dem Winter vermutlich kein Grund mehr für Aserbaidschan besteht, Armenien nicht anzugreifen, denn es ist zu befürchten, dass der Westen und Russland ihn wieder gewähren lassen. Alijews primäres Ziel, den Korridor von Aserbaidschan durch Südarmenien nach Nachitschewan zu bekommen, wird er mit Gewalt erzwingen wollen. Er wird versuchen, Fakten zu schaffen, wissend, dass ihn keiner groß stoppen wird.
Dennoch besteht für Spangenberg die Hoffnung, dass es im Falle eines Krieges eventuell eine stärkere Reaktion aus Richtung der EU geben wird. Auch Russland wird sich auf seine Weise einmischen. Der Iran wird sich nicht raushalten, wenn es Veränderungen an der Südgrenze geben wird. Es geht schließlich auch um wirtschaftliche Interessen wie die Transitstrecken, die Süd-Nord-Achse und die Verbindung zu Europa über das Schwarze Meer hin zum Kaspischen Meer. Es geht um Energiekorridore und auch um die Rohstoffe in Bergkarabach. An diesen haben auch deutsche Firmen Interesse. Da sie in einer Konfliktgegend mit genozidaler Vertreibung lagern, ist es allerdings schwierig, an sie heranzukommen.
Bleibt die deutsche Politik weiterhin so passiv, wird Aserbaidschan wohl im Frühjahr 2025 wieder versuchen, Fakten zu schaffen. Die Instrumente, Alijew in Schach zu halten, haben Deutschland und auch die EU, aber der Wille, Druck auf den Autokraten auszuüben, fehlt. Als eine Delegation der Diaspora verschiedener europäischer Länder, an der auch Jonathan Spangenberg beteiligt war, noch während der Blockade (Juni 2023) in Brüssel die Frage nach einer Roten Linie bezüglich der kriegerischen Aktionen von Aserbaidschan gestellt hat, bekam sie in Brüssel keine Antwort. Die Bedrohung ist da, man muss sich vorbereiten und mediale Aufmerksamkeit auf das Thema lenken, damit Alijew zu spüren bekommt, so geht es nicht. Bisher gab es leider nie Konsequenzen, keine Sanktionen, nichts.
Der Zentralrat der Armenier ist deshalb auch immer wieder in Kontakt mit der Politik auf Bundesebene und auf europäischer Ebene, um Aufmerksamkeit für das Thema zu generieren, auf die tatsächliche Bedrohung Armeniens aufmerksam zu machen und um Alijew ein Stück weit abzuschrecken. „Wir wissen nicht, wie es im Frühjahr aussieht. Was macht Europa, was macht Deutschland, wenn ein neuer Krieg startet?“ So Spangenberg. Er schätzt aber immerhin die Entwicklung in der deutschen Politik zu Armenien als positiv ein. Es gab immer wieder zumindest Lippenbekenntnisse, dass Armenien von Europa unterstützt wird. Auch unsere Außenministerin hat beim Stocken der Verhandlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien diese wiederbelebt. Frankreich schätzt Spangenberg als sehr engagiert ein. Und auch Trump hatte vor seiner Wahl mit dem armenischen Katholikos gesprochen. Vielleicht ist eine Art Gesamtpaket-Ost-West-Deal möglich, hofft Spangenberg. Das kleine Armenien könnte aber dabei auf der Strecke bleiben. Deshalb ist ihm wichtig, dass das Thema nicht vergessen wird. Er empfiehlt den Teilnehmern der Veranstaltung, Briefe oder E-Mails an Abgeordnete zu schreiben, um mehr Aufmerksamkeit zu erwirken.
Auch die kleine Veranstaltung in Arnstadt selbst leistet mit der Filmvorführung und dem Gespräch mit Jonathan Spangenberg dazu ihren Beitrag. Die Organisatorin dieses netten Abends, an dem es auch kleine armenische Leckereien zu kosten gab, Gabi Damm, besuchte im Oktober Armenien. In einem eindrucksvollen Text schildert sie ihren Blick auf die Straße, auf der im letzten September 110.000 Karabach-Armenier fluchtartig aus ihrer Heimat vertrieben wurden:
Die Straße
„Eine ganz normale Straße in Armenien. Wir fahren über Goris nach Chndzoresk, der Höhlenstadt. Unterwegs Wegweiser nach Stepanakert. Wir wissen, es war die Hauptstadt von Bergkarabach, dem vor einem Jahr von Aserbaidschan brutal eroberten Land. Unsere armenische Begleiterin weist auf die am Horizont sichtbaren Bergketten von Arzach, wie die Armenier die Region nennen, hin. Nach einigen Kilometern zweigen wir ab auf den unbefestigten, mit normalem PKW nicht befahrbaren Weg zur alten Höhlenstadt, deren autark lebende Bewohner in Sowjetzeiten zwangssesshaft gemacht wurden.“
„Was wäre, würden wir weiterfahren, bis zur Grenze?“ „Das geht nicht.“ „Warum?“ „Es ist verboten, und es soll alles vermint sein.“ „Wie sieht es an der Grenze aus?“ „Das weiß niemand. Niemand kommt dorthin.“
Auf dem Rückweg, hinter uns die Berge Arzachs („Wir sind unsere Berge“ – so der Name des Sinnbild-Monumentes), vor uns weit in der Talsenke im Abenddunst, die Stadt Goris, die im September 2023 an die 110.000 verzweifelte, ausgehungerte, medizinisch unversorgte Vertriebene mit aus Armenien herbeigeeilten Helfern auffing, erstversorgte und versuchte zu registrieren. Nach 9 Monaten Hungerblockade, eingesperrt im eigenen Land, nun ausgebombt, massakriert, beschossen, gezwungen zu fliehen. Endlose Schlangen von Autos, Traktoren, Lastwagen und Fußgängern wälzten sich durch den sogenannten Latschin-Korridor und dann eben über jene Straße, die wir gerade befahren. Autos blieben liegen, kaputt oder ohne Sprit (in Stepanakert war ein Tanklager explodiert, wo Menschen anstanden, um sich in mitgebrachten Gefäßen Benzin zu holen), nicht zu bewältigendes Gepäck lag herum, am Straßenrand saßen Menschen und beweinten ihre Toten, nicht wissend, wohin mit ihnen. Menschen verloren sich, Kinder wurden gesucht, ein unbeschreibliches Elend und Chaos. Für die wenigen Kilometer benötigten sie etwa 3 bis 4 Tage.“
Elf Monate später war auf dieser Strecke von all dem nichts mehr zu sehen. Das erlittene Leid der Menschen, die hier entlang flohen, um ihr nacktes Leben zu retten, die Heimat, Hab und Gut, Vergangenheit und Zukunft verloren, bleibt. Eingemeißelt für Generationen.
Eine ganz normale Straße?