Motiviert durch die Aufstände im Iran, gehen im Irak die Proteste wieder los, die sich auch gegen Teheran richten. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Zum Jahrestag des Beginns der Massenproteste im Irak gegen Korruption, Nepotismus und iranische Einmischung, die im Oktober 2019 begannen, mobilisierte am Samstag die unter dem Namen Tishreen Movement bekannte soziale Bewegung der Oktoberproteste erneut zu Demonstrationen. Schon im Vorfeld wurde befürchtet, dass einmal mehr irakische Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgehen würden. Diese Befürchtungen wurden dann auch bestätigt:
»Irakische Sicherheitskräfte haben Tränengas und Blendgranaten eingesetzt, um Steine werfende Demonstranten zu vertreiben. Dabei kam es in der Nähe des Tahrir-Platzes in Bagdad, wo Hunderte den Jahrestag der Unruhen gegen die Regierung im Jahr 2019 feierten, zu Zusammenstößen, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden. Mindestens 86 Menschen wurden am Samstag verwundet, etwa die Hälfte von ihnen Angehörige der Sicherheitskräfte, und 38 Demonstranten wurden von Gummigeschossen getroffen.«
Monatelang hatten vom Herbst 2019 bis ins Frühjahr 2020 Demonstranten in Bagdad und vielen anderen Städten vor allem im Südirak zentrale Plätze besetzt und gegen Angriffe von Milizen und Sicherheitskräften verteidigt. Erst der Ausbruch der Covid-Pandemie beendete, zumindest vorläufig, die Protestwelle. Nun sollen die Proteste erneut den Unmut so vieler Iraker auf die Straßen bringen. Tishreen versteht sich ganz bewusst als eine Bewegung aller Irakis und versucht konfessionelle und ethnische Trennungen zu überwinden.
Zwar gibt es auch personell Überschneidungen mit der von Muqtada al-Sadr geführten antiiranischen Partei, die aus den letzten Parlamentswahlen als stimmenstärkste Fraktion hervorging, die Forderungen aber unterscheiden sich, da Tishreen für eine strikte Trennung von Staat und Religion eintritt. Über die Proteste 2019 schrieb ich damals:
»Die Demonstrierenden auf Iraks Straßen wollen nicht weniger als eine Revolution, sie verlangen nicht nur politische Reformen, sondern grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. War Protest bisher weitgehend Männersache, beteiligen sich inzwischen auffällig viele junge Frauen und trotzen den blutigen Repressionen, die bislang zu über 400 Toten und zehntausend Verletzten geführt haben.
Auf dem Tahrir-Platz in Bagdad herrsche schon jetzt eine Gleichberechtigung, die man für die ganze Gesellschaft wolle, heißt es immer wieder in Gesprächen mit Demonstrantinnen. Dabei gebe es keinen Ausschluss, die meisten Protestschilder auf dem Tahrir-Platz in Bagdad sind zweisprachig in Arabisch und Kurdisch geschrieben. Und immer wieder berichten mitdemonstrierende Yesidinnen und Christinnen, wie willkommen sie geheißen werden.
Der Platz sei, schreibt Balsam Mustafa, das Beispiel für einen Irak im Kleinen geworden, ›wo die Menschen eine kollektive Gemeinde bilden, ihre Wunden heilen, ihre nationale Identität zurückfordern und ihre aktuelle Geschichte jenseits von Sektierertum, Chaos, Spaltungen und Ängsten neu schreiben‹.«
Gegen die Islamische Republik
Elektrisiert wurde die Bewegung im Irak nun auch von Bildern der Massenproteste im Nachbarland Iran, die vor allem von Frauen geführt werden. Denn man hat denselben Gegner: Das Regime in Teheran, das sich auch massiv in die irakische Politik einmischt und seit Langem mit allen Mitteln versucht, dass es im Irak zu einer Regierung der nationalen Einheit kommt, wie dies nach den letzten Wahlen von einem Bündnis aus Sadristen, sunnitischen Parteien und der Kurdischen Demokratischen Partei (KPD) geplant war.
Das iranische Regime fürchtet seit einiger Zeit, seinen Einfluss im Irak zu verlieren, was angesichts der strategischen Bedeutung des Landes, aber auch einer schiitischen Mehrheit, als existenzielle Bedrohung der Islamischen Republik betrachtet wird.
Konnte Teheran im Sommer gerade noch einmal einen Massenprotest abwenden, der von Muqtada al-Sadr geleitet war, ist die Frage nun, ob es Tishreen erneut gelingt, sich über einen längeren Zeitraum zu organisieren. Denn auch der Aufstand im Iran zeigt: Das Regime in Teheran sitzt längst nicht mehr so fest im Sattel wie früher, und längst ist allen im Nahen Osten klar, dass die Menschen auf Irans Straßen diesmal keineswegs Reformen verlangen, sondern die Systemfrage stellen.
Wie die iranische Aktivistin Gissou Nia in einem Interview mit Slate.com kurz und prägnant erklärte, stellt der Zwang, den Hijab zu tragen, nämlich eine der zentralen Säulen der Islamischen Republik dar: Wer ihn infrage stellt, stellt das ganze System infrage. Das sei, führt sie aus, auch der zentrale Unterschied zu früheren Protesten:
»Die Demonstranten sind definitiv nicht mehr so ängstlich und sie sind bereit, auf die Straße zu gehen und zu fordern, was sie wollen. Wir haben Proteste in den Jahren 2020 und 2021 erlebt. Dabei ging es um andere Themen: Wasserknappheit in bestimmten Provinzen, gewerkschaftliche Kämpfe um Löhne, aber dieses Mal geht es um eine soziale Forderung. In dieser Runde der Proteste gibt es also keine Kommentatoren, welche die Proteste als wirtschaftliche Gründe abtun können oder als etwas, das nicht wirklich die Ideologie der Islamischen Republik betrifft.
Kernstück der Unterdrückung
Die Gesetze zum obligatorischen Hijab sind ein Kernstück der Unterdrückung der Bevölkerung durch die Islamische Republik. Sie sind nur das sichtbarste Zeichen eines viel umfassenderen, geschlechterdiskriminierenden Rechtsrahmens, der sehr restriktive Ehe-, Scheidungs-, Sorgerechts- und Erbschaftsgesetze umfasst. Dazu gehört auch, dass die Aussage einer Frau in einem Gerichtsverfahren nur halb so viel wert ist wie die eines Mannes. Es ist nicht nur eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Es gibt auch die Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten sowie von LGBTQ-Personen.«
Mit jedem Tag, an dem die Proteste im Iran weitergehen, wächst im Irak ebenso wie im Libanon und in Syrien die Hoffnung, dass eine Revolution diesmal gelingen könnte und das Regime zu Fall bringt. Denn solange – auch das wissen die Protestierenden in diesen Ländern nur allzu gut –, die Mullahs an der Macht sitzen, gibt es auch in ihren Ländern, die von Teheran quasi als Kolonien behandelt werden, kaum Aussicht auf grundlegende Änderungen.
Umso mehr werden deshalb auch Nachrichten geteilt, dass Ayatollah Khamenei, der inzwischen 83-jährige Oberste Revolutionsführer des Iran, schwer erkrankt sei oder sogar im Sterben liege. Würden sich in diesem für das Regime kritischen Moment diese Gerüchte bewahrheiten und er ausgerechnet jetzt sterben, ohne dass es eine klare Nachfolgerregelung gibt, stünden die Chancen gut, dass in Teheran etwas Grundlegendes passiert. Denn niemand glaubt mehr ernsthaft an eine Reformation der Islamischen Republik – anders etwa als zu Zeiten der damaligen Grünen Bewegung im Jahr 2009.
Der Artikel erschien bereits in der Jungle World