Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden zeigt erneut, wie sehr die Infrastruktur in Deutschland über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Im Westen, der jahrzehntelang Ostdeutschland mitfinanzieren musste, sieht es noch düsterer aus. Ob Schulen, Autobahnen oder Sportplätze: Nordrhein-Westfalen zerbröselt. Die Summen, die es kosten würde, diese Entwicklung aufzuhalten, sind gewaltig.
Es ist ein Witz, aber in ihm steckt viel Wahrheit: Würde die russische Armee Deutschland angreifen, wäre ihr Vormarsch in Nordrhein-Westfalen zu Ende: Die Brücken brächen unter der Last der Panzer einfach zusammen. Spätestens nach der Sperrung der mittlerweile abgerissenen Rahmedetalbrücke im Dezember 2021 ist klar: Das Land an Rhein und Ruhr zerbröselt. Und es geht nicht nur um Brücken: Auch Hochschulen, Schwimmbäder und Schienenwege sind in einem üblen Zustand. Eigentlich alles, was von öffentlichem Geld abhängt. Seit Jahrzehnten hat die Politik, unabhängig davon welche Parteien gerade regierten, zu wenig Geld in den Erhalt der Infrastruktur gesteckt. Sicher, die Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen sind häufig ärmer als in Süddeutschland. Aber wenn einmal Geld da war, wurde es oft lieber in teure Prestigeobjekte wie Konzerthäuser oder riskante unternehmerische Aktivitäten wie den Kauf des Energieversorgers Steag gesteckt als in etwas so Schnödes wie die Renovierung der Toiletten einer Grundschule.
Die Folgen bekommen die Bürger des Landes jeden Tag zu spüren. Und es steht zu befürchten, dass sich das auch in Zukunft nicht ändern wird.
Sportanlagen
Fast fünf Millionen Menschen sind in Nordrhein-Westfalen Mitglied in einem Sportverein. Die Vereine sind eine Stütze der Zivilgesellschaft: Hier werden Jugendlichen Werte wie Fairness und Leistungswille vermittelt, Flüchtlinge bei der Integration unterstützt und viel für die Gesundheit der Menschen im Land getan. Aber die Sportvereine leisten noch mehr: Sie sorgen auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Doch die Anlagen der Sportvereine sind oft in einem tristen Zustand: Auf 6,5 Milliarden Euro schätzt der Landessportbund den Sanierungsbedarf bei den Sportstätten in NRW, die in der Regel den Vereinen oder Kommunen gehören. Das Land hat das Förderprogramm „Moderne Sportstätte 2022“ mit einem Volumen von 300 Millionen Euro gestartet.
Autobahnen und Brücken
Auf den ersten Blick verfügt Nordrhein-Westfalen mit einer Länge von 2.260 Kilometern über ein beeindruckendes Autobahnnetz. Doch die freie Fahrt für freie Bürger ist längst die Ausnahme: 2019 gab es nach Angaben des ADAC insgesamt 253.000 Verkehrsstörungen, die zu Staus mit einer Gesamtlänge von fast 453.000 Kilometern führten. Es besteht also offenbar Sanierungsbedarf. Doch die Autobahn GmbH des Bundes, die für die Autobahnen in Nordrhein-Westfalen zuständig ist, weiß nicht, wie groß er ist: Auf Anfrage der WELT AM SONNTAG teilte das Unternehmen mit, man arbeite an einem Bericht über die Gesamtsituation: „Wir bitten um Verständnis, dass wir der Bilanz bis zur Fertigstellung nicht vorgreifen wollen.“ Ein Problem ist auch, dass die einzelnen Regionalabteilungen der Autobahn GmbH länderübergreifend tätig und nicht in der Lage sind, die Situation für einzelne Bundesländer einzuschätzen.
Kanäle
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand in Nordrhein-Westfalen ein Kanalnetz von heute 380 Kilometer Länge. Die Kanäle verbinden den Rhein mit Berlin und dem Emsland und sind das Rückgrat des Duisburger Hafens, dem größten Binnenhafen Europas, und des Dortmunder Hafens, dem größten Kanalhafen Europas. Binnenschiffer transportieren von Chemikalien über Benzin bis zu Schrott die unterschiedlichsten Massengüter und das mit einer guten Umweltbilanz. Doch nicht nur für die Industrie sind die Kanäle wichtige Transportverbindungen: Vom Ruderer bis zum Jachtbesitzer ziehen sie Wassersportler an. In gutem Zustand sind sie jedoch nicht. Der Sanierungsbedarf wurde jedoch von Land und Bund erkannt. Bis 2031 sollen 1,5 Milliarden Euro investiert werden. Doch es gibt nach Auskunft des Verbandes der Binnenschiffer ein großes Problem: Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) konnte aufgrund eines eklatanten Personalmangels an Planer und Ingenieuren schon in der Vergangenheit nicht die bereitgestellten Mittel verbauen.
Hochschulen
30 öffentliche Hochschulen mit über 600.000 Studenten gibt es in Nordrhein-Westfalen. Das Land ist allein schon wegen seiner Größe einer der wichtigsten Wissenschaftsstandorte Deutschlands. Aber die Universitäten haben auch eine hohe Bedeutung für die Wirtschaft. Aus ihren Instituten heraus werden neue Unternehmen gegründet, viele Studenten im Ingenieurbereich verbinden das Studium mit der Arbeit in einem mittelständischen Unternehmen. Wie groß der Sanierungsstau genau ist, weiß jedoch niemand. Lambert T. Koch, Rektor der Bergischen Universität Wuppertal und Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz schätzt auf Anfrage der WELT AM SONNTAG, dass für die kommenden acht bis zehn Jahre nur für den Erhalt der Bausubstanz der Hochschulen mindestens neun bis 15 Milliarden Euro ausgegeben werden müssten: „Wobei die jüngeren erheblichen Preissteigerungen noch gar nicht berücksichtigt sind.“ Für die kommenden fünf Jahre hat die Landesregierung für die „Sanierung und den Bau im Bereich von Hochschulen“ lediglich zwei Milliarden Euro eingeplant.
Schienennetz
Im weltweiten Vergleich liegt das nordrhein-westfälische Schienennetz mit einer Länge von 4.700 Kilometern auf Platz 40 vor dem von Staaten wie Norwegen, Südkorea oder dem riesigen Nigeria. Wie groß der Sanierungsbedarf ist, weiß auch hier niemand genau, sagt Lothar Ebbers, Pressesprecher des Fahrgastverbandes Pro Bahn: Über den Zustand ihrer Infrastruktur würde die Bahn keine verwertbaren Daten veröffentlichen. Auch das Land nennt auf Anfrage keine Zahlen. Klar ist nur, wieviel Geld die Bahn in den kommenden Jahren in NRW investieren wird: Bis 2029 sollen es nach Angaben des Landesverkehrsministerium 86 Milliarden Euro sein – allerdings für ganz Deutschland. Wie viel davon nach NRW fließen wird, ist auch eine Frage harter, politischer Verhandlungen. Das Land engagiert sich allerdings selbst finanziell: Bis 2032 stellt die Landesregierung im Rahmen einer ÖPNV-Offensive rund vier Milliarden Euro bereit, unter anderem für Schieneninfrastrukturprojekte und die Verbesserung der Baustellenkommunikation. 600 Millionen Euro werden für die Ko-Finanzierung des -Bundesprogramms nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für den Aus- und Neubau sowie die Reaktivierung von Schienenstrecken aufgebracht. Mit diesem Geld können dann Gesamtinvestitionen von bis zu drei Milliarden Euro gefördert werden.
Schwimmbäder
Nach einer Umfrage der Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) aus dem Jahr 2017 halten sich fast 60 Prozent der Bürger nicht für sichere Schwimmer. Wo sollen sie es auch üben? Nach Angaben der Lebensretter schließt alle vier Tage ein Schwimmbad, das meist von den Städten und Gemeinden betrieben wird. Die Gelegenheit schwimmen zu lernen nimmt also ebenso ab, wie die Möglichkeit es in der Nähe des Wohnortes zu trainieren. Und wo es noch Schwimmbäder gibt, laden sie immer öfter nicht zum Verweilen ein. Nach Schätzungen des Landessportbundes liegt der Sanierungsstau bei 950 Millionen Euro. Viel Geld für die klammen Kommunen, die ja in der Vergangenheit schon aus Geldmangel zahlreiche Schulschwimmbäder schlossen.
Schulen
„An den NRW-Schulen ist der Investitionsstau mindestens 10 Milliarden Euro groß.“, sagt Ayla Çelik, die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW NRW, auf Anfrage der WELT AM SONNTAG. Jahrzehnte lang sei im Land zu wenig in die Bildung investiert worden. Investitionen, welche die Kommunen aufzubringen gehabt hätten, denn die sind als Schulträger und damit für Bau, Sanierung, Modernisierung und Ausstattung der Schulen verantwortlich. Nach Angaben des Städtetages NRW haben die Kommunen im Land in den vergangenen fünf Jahren nur 238 Euro pro Einwohner investiert. „Städte in Baden-Württemberg und Bayern“, sagt Helmut Dedy, Geschäftsführer des Städtetages NRW „investieren rund das Doppelte“. Die Gründe dafür sind für Dedy die Strukturschwäche und diehohen Sozialausgaben, unter denen viele Städte im Land leiden. Wer wenig hat, kann wenig investieren. Bund und Land greifen den Städten allerdings unter die Arme: Für Schulen gibt es jährlich 1,12 Milliarden Euro aus dem Kommunalinvestitionsfördergesetz des Bundes. Das Land hat seine Schul- und Bildungspauschale seit 2017 von 600 Millionen Euro auf über 748 Millionen Euro erhöht.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits 2022 in der Welt am Sonntag und auf diesem Blog.
Die zweite BAB-Brücke, die schlapp gemacht hat im letzten Jahr stand im reichen Hessen (Wiesbaden).
Ob es in den anderen Bundesländern wirklich alles besser ist? Belege liefert der Artikel nicht, argumentiert z. B. bei den Schwimmbädern selber mit bundesweiten Zahlen. Die Schließung eines Schwimmbades im Ruhrgebiet hat weniger weitreichende Folgen als in der tiefen Provinz, wo man nicht mal zum Schwimmbad im nächsten Stadtbezirk ausweichen kann.