Zwei neue Bücher erzählen von der Lage und dem Niedergang des Ruhrgebiets. Von unserem Gastautor Nils Heisterhagen.
Jörg Sartor kennen Sie vielleicht. Im letzten Jahr erregte er große öffentliche Aufmerksamkeit dadurch, dass er als Chef der Essener Tafel einen kurzfristigen Aufnahmestopp für Ausländer verhängte. Medien stürzten sich auf ihn. In bestimmten linken Kreisen galt er sofort als Aussätziger und die große Bundespolitik fühlte sich bemüßigt, schnell Kommentare zu diesem angeblich so hässlichen Vorfall in Essen abzugeben.
Nun hat er ein Buch geschrieben. „Schicht im Schacht“ heißt das Buch. Darin erklärt er nicht nur seine Motive für sein Handeln und spricht über allgemeine politische Entwicklungen, sondern vor allem geht es über das Ruhrgebiet, seine Heimat.
Ein Gedanke ist es, der auch seine Grundphilosophie prägt, den er dem Ruhrgebiet vergangener Tage zuordnet: Das WIR-Gefühl. Immer wieder erzählt er von dem „Gemeinschaftsdenken“ und dem „Zusammenhalt“, welche er früher im Ruhrgebiet erlebte – auch wegen der Bergleute und ihrer kollektiven Identität. Jörg Sartor hat schließlich jahrelang selbst unter Tage malocht. Er war beim WIR dabei.
Sartor schwankt im Buch durchaus zwischen Nostalgie und Verklärung über das Ruhrgebiet vergangener Tage und dem Versuch die Traditionen und das, was für ihn früher besser lief, in das Heute herüberzuretten. Das Buch ist zuweilen etwas übertrieben ein Anklagebuch. Man merkt dem Buch an, dass Sartor einen Co-Autor hatte. Was nun Sartor pur ist und wo der Co-Autor spricht, wird nicht immer deutlich. Das Buch ist doch zugespitzter und polemischer als der Jörg Sartor, den ich persönlich im letzten Jahr treffen konnte. Das Buch inszeniert Jörg Sartor als Heinz Buschkowsky des Ruhrgebiets. Das ist er nicht und will das auch gar nicht sein.
Jörg Sartor sucht eigentlich nach Balance. Er möchte, dass Dinge funktionieren, nichts schöngeredet wird, und eben Probleme angepackt werden – früher war das ja der Ruhrgebietsstyle. Kümmern halt.
Doch Sartor verzettelt sich nicht in Ruhrgebietsromantik. Gemäß seiner Essener-Schnauze und seiner Tacheles-Sprache bohrt er immer wieder mit seinem spürbaren Gerechtigkeitssinn in den Problemen, die das Ruhrgebiet heute für ihn sichtbar haben. Seine Bestandsaufnahme mit dem Ruhrgebiet ist schonungslos: „Das Revier ist auch nach fünfzig Jahren des Umbaus seiner Wirtschaft immer noch ein Sozialfall.“ Er untermauert das immer wieder mit Zahlen. 40 Prozent aller Kinder wohnten in Gelsenkirchen in Haushalten, die Hartz IV beziehen. Und in Dortmund, Duisburg, und Essen erhalte jedes dritte Kind staatliche Stütze.
Um ehrlich zu sein, ich wollte diese Zahlen nicht glauben. Sie kamen mir absurd hoch vor. Aber sie stimmen. Die „WAZ“ und der „Stern“ berichteten darüber. Das ist ein bitteres Armutszeugnis des Ruhrgebiets. Hinzu kommen eklatante Missstände bei der regionalen Infrastruktur und Probleme im Bildungssystem – nicht zuletzt auch verursacht durch zuweilen sehr hohe Migrantenanteile an den Schulen. Auch dieses Thema der Integration spricht Sartor an. Aber Sartor ist kein Rechter. Er ist ein Sozialdemokrat mit Herz, der aber eben auch nicht verleugnen will, dass es Missstände gibt. Während in der SPD mehr und mehr Sprachpolizisten zu finden sind, die meinen man dürfe dieses oder jenes nicht sagen und die mittlerweile meinen, dass man ganze Themenbereiche gar nicht erst mehr ansprechen solle, geht Sartor einen anderen Weg. Er spricht die Dinge an. Denn nur wer etwas anspricht, kann Lösungen finden. Und danach sucht Sartor: Er möchte, dass es besser wird. Tacheles-Reden gehört für ihn dazu.
Wie wird etwas verändert? Indem man darüber schweigt und sagt, es sei entweder alles nicht so schlimm oder eben besser als die Leute schimpfen? Nein: Sozialdemokraten haben immer gesagt „was ist“. Damit haben sie begonnen. Der Unterschied zu – neuen – Rechten liegt da, dass Sozialdemokraten alter Schule eben die Probleme wegschaffen wollen, während die neuen Rechte und Konservativen alter Schule gerne schimpfen, jammern und beklagen, aber nicht in Gang kommen, um anzupacken. Ja manchmal wünschen sich die Rechten sogar, dass alles schlimmer werde, alles kaputter und alles dreckiger, damit sie sodann noch populistischer schimpfen können, dass der Untergang des Abendlandes nun wirklich komme.
Jörg Sartor ist aus anderem Holz geschnitzt. Er wünscht sich für sein Ruhrgebiet einen Aufbruch. „Ruhrgebiet reloaded“ sagt er und macht dazu auch Vorschläge – wie die Lösung des Altschuldenproblems. Jörg Sartor hört man an der Ruhr und in Düsseldorf mal lieber zu. Der Mann hat etwas zu sagen.
Aber dass die Region am Abgrund ist, dies sieht auch Sartor. Ein latenter Pessimismus flackert im Buch immer wieder auf. Den Pott-Pessimismus hat er mit Journalisten Stefan Laurin gemein, der gerade einen Essay mit dem Titel „Versemmelt“ über das Ruhrgebiet vorgelegt hat. Obgleich Laurin eigentlich ein optimistischer Realist und freisinniger Demokrat irgendwo zwischen FDP und SPD ist, hat der Bochumer über das Ruhrgebiet eigentlich nur noch eine Botschaft: Das wars. „Das Ruhrgebiet ist am Ende“. Hatte man wenigstens früher noch von einer „Ruhrstadt“ geträumt, und gab es da Köpfe der Vernunft, so würde heute in Politik, Kultur und Infrastruktur nur noch das Mittelmaß regieren. Ausweg? Unwahrscheinlich. Die Schönrednerei sei schon chronisch, das politische System des Ruhrgebiets heillos unreformierbar und die Mentalität verkorkst. Laurin lässt keine Hoffnung mehr zu. Er hat abgerechnet. Laurin weiß natürlich, dass es ein paar Leuchttürme gibt. Aber das reiche nicht.
Laurins kurzer Essay ist wohl der letzte Versuch der mentalen Reinigung. Sein Wutausbruch sollte gehört werden. Das Ruhrgebiet braucht nämlich einen Aufbruch. Wo Laurin Recht hat, ist dieses Einmauern in kommunalem Fürstentum. Der Rathaus-Nationalismus des Ruhrgebiets, gepaart mit dieser völligen Folklore städtischer Identitäten und Rivalitäten, ist wirklich bei der miserablen Lage der Pseudo-Metropole-Ruhr absolut unverständlich. Wie man heute sich lieber immer noch in Lokalrivalität zwischen Dortmund und Schalke übt, über die „Zecken“ schimpft und wieder zurückschimpft, ist wirklich eine der großen Peinlichkeiten einer Ruhrgebietskultur, die es in den letzten 50 Jahren nicht geschafft hat, zusammenzuwachsen. Kulturell wie politisch.
Die Hausaufgaben sind mittlerweile riesig. Beide Bücher, das von Laurin und das von Sartor, machen heute schon deutlich, dass es einen Aufruhr im Ruhrgebiet gibt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Aufruhr sichtbar wird und im Ruhrgebiet sich Spannungen entladen. Dann pilgern die Journalisten wieder aus ihren schicken Büros in Köln, Düsseldorf, Berlin und Hamburg an die Ruhr. Dann werden sie wieder Fragen stellen, als wären sie gerade im Zoo und hätten noch nie ein Nashorn gesehen. Die Vorstellungskraft medialer Betriebe ist mittlerweile so gering, dass ihnen noch nicht mal mehr einfällt, dass die Realität 50 Kilometer entfernt, ja sogar in der eigenen Stadt, eine andere ist. Nicht überall ist es nämlich schön und bunt.
Sartor und Laurin helfen diesen vorstellungsarmen Medienmenschen nun, ihre gedankliche Oase des Schönen mal verlassen zu können. Am besten wäre da aber: Mal hinfahren. Und für die Politik: Anpacken!
Glück auf! Sehr lange wird man das nicht mehr sagen können. Zumindest nicht an der Ruhr.
"Glück auf" wird man noch lange sagen können. Es gehört zur Geschichte des Ruhrgebiets. Diese darf man auch nicht einfach verdrängen. Nur wenn man weiß, woher man kommt, kann man auch aktuelle Sachen richtig einschätzen.
Für mich ist es auch ein Problem, dass Journalismus zu wenig dezentral aufgestellt zu sein scheint. Ein Blase, die immer weiter weg ist und schnell bei besonderen Nachrichten anreist. Ein Verstehen aus dem lokalen Kontext fehlt. Man sieht alles aus seiner eigenen Blase.
Welcher Journalist will schon in die östlichen Dörfer ziehen, um die Menschen zu verstehen ? Das gilt übrigens auch für die Menschen, die Trump wählen oder Ruhris, die Probleme lösen wollen.
Im Vergleich zu einer Recherche in Ückendorf mit Hintergrundberichten ist der Bericht über irgendeine Bratwurst gegen Rechts-Aktion einfacher und die Blase sorgt für Anerkennung.
Es ist deshalb gut, dass Menschen auch heute noch die Werte wie Solidarität etc. verkörpern auch wenn sie in der SPD durch die berühmten Anhänger des Gender-Gedöns etc. abgelöst wurden. Wer will sich auch mit Menschen beschäftigen. Das ist viel zu kompliziert. Da diskutiert man lieber viele Stunden darüber, wie man optimal genderkonform formuliert und auch jede potenzielle Minderheit, die noch nie jemand gesehen hat, berücksichtigt.
Wozu das führt sieht die SPD aktuell. Sie verschwindet .
"…Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Aufruhr sichtbar wird.." Nö. Seit 50 Jahren verändert sich nichts. Außer in den ganz schlimmen Stadtteilen, die heute einen AFD-Wähler-Anteil von über 20 Prozent haben. Und auch hier steigende Mieten in Stadtteilen, die sich bald auch nur noch Wenige leisten können. Zeigt auch ganz deutlich die neueste "Alles-halb-so-Schlimm"- Berichterstattung der WAZ-Schreiberlinge über den Besuch des obersten Repräsentanten gerade eben in Vorzeigeprojekte der Städte Duisburg-Dortmund-Gelsenkirchen in ihren überflüssigen, ja mittlerweile peinlichen Druckerzeugnissen. Wobei sich Steinmeier nicht einmal nehmen ließ, die Olympia-Bewerbung als Zukunftsmotor zu loben. Was er hier tatsächlich wollte, erschließt sich dem kritischen Bürger nicht. Wenn die SPD hoffte, mit ihm ein Zeichen für Interesse an einer 5-Millionen-Menschen-Metropole zu heucheln, ist das mit diesem Besuch grundsätzlich in die Hose gegangen. Da hätte er konkret was mitbringen müssen – außer ein lachendes Gesicht. So blöd sind die Ruhris nicht.
Sie schreiben:
"Hinzu kommen eklatante Missstände bei der regionalen Infrastruktur und Probleme im Bildungssystem – nicht zuletzt auch verursacht durch zuweilen sehr hohe Migrantenanteile an den Schulen."
Nicht die "Migranten" – im übrigen größtenteils hier geborene Kinder mit internationaler Familiengeschichte -oder ihr höher Anteil in Klassen sind für das Bildungsdesaster, sondern die für Bildungspolitik politisch Verantwortlichen und zu einem Teil auch die Lehrkräfte selbst.
Sie haben es über Jahrzehnte schlicht und ergreifend versäumt, passende Konzepte zu entwickeln. Das zeigt dich dann such daran, dass die Hochschulen über unzureichend vorbereitete Studierende mit eklatanten fach-und allgemenbildungsbezogenen Defiziten klagen.
Fr0her -in den siebziger und achtziger Jahren- war es einfach. Hier geborene oder auch eingewanderte Kindwr aus Zuwandererfamilien verblieben in der Hauptschule oder wurden in die sog. Sonderschulen abgeschoben. Das funktioniert mangels Hsupt-und Sonderschulen , aber auch wegen gestiegener Bildungsanforderungen der "Migranten" nun nicht mehr.
Nun muss man aber auch erfreulicherweise konstatieren, dass inzwischen sehr viele Kinder mit internationaler Familiengeschichte höhere Schulabschlüsse erlangen, Universitäten besuchen und erfolgreich in Wissenschaft und Bildung unterwegs sind .
Insofern ist die Situation n diesem Punkt unzutreffend dargestellt, aber populistische Schwarzmalerei lässt sich anscheinend besser vermarkten.
@3 Thommy
Mich nervt es nur noch, wenn plötzlich alle Schulen Probleme mit dem Migrationshintergrund haben.
Der Begriff ist zu unkonkret, als dass er wirklich helfen kann.
Es gibt viele Schüler mit Migrationshintergrund, die beste Leistungen bringen, weil das Elternhaus extrem bildungsinteressiert ist. Diese Einwanderer schaffen es auch in kürzester Zeit sich zu integrieren.
Mir fehlt ein Ansatz, bei dem die positiven Bespiele in den Vordergrund gehoben werden und auch Leistung verlangt wird, statt immer nur alle Problem mit der Stigmatisierung der Problembezirke etc. zu erklären.
Wie soll in so einer Atmosphäre Lern- und Lehrbegeisterung aufkommen. Es wird doch immer behauptet, dass angeblich alle Menschen aus intrinsischer Motivation selbständig lernen wollen. Das passt dann wohl überhaupt nicht.
Ich wäre bspw. nie auf die Idee gekommen, dass meine Herkunft ein Problem darstellt. Die Klausuren hatten in den meisten Fächern klare Aufgabenstellungen. Entweder man packt es oder nicht. Ich habe das Problem bei mir gesucht.
@ke "Ich habe das Problem bei mir gesucht." Genau diese Haltung ist bei vielen migrantischen Kids eben nicht vorhanden, im Gegenteil: die anderen sind schuld, in der Schule natürlich die Lehrer. Diese Haltung kommt v.a. bei männlichen Kids aus muslimischen Familien.
Es ist aber so, dass lange Zeit viele Kollegen und Schulleiter sich die Probleme mit migrantischen Kids und deren Eltern nicht eingestehen wollten oder nicht öffentlich machen wollten, weil dann sofort der Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit im Raum stand bzw. steht. Es wurde auch ganz bewusst eingesetzt, auch schon von Fünftklässlern, wie ich selbst erfahren durfte.
Offenbar sind da mittlerweile einige Fässer übergelaufen, weil der Leidensdruck einfach zu groß geworden ist. Vor wenigen Tagen noch sagte mir ein ehemaliger Kollege, dass es immer schlimmer wird und ich solle froh sein, damit nix mehr zu tun haben.
Richtig ist, dass gerade Kids aus fernöstlichen Länder kaum negativ auffallen, im Gegenteil.
Lernbeisterung kann bei den großen Klassen und der tw. miserablen Ausstattung vieler Schulen eh kaum aufkommen.
Ich komme aus dem Münsterland und für mich ist der Kontrast zwischen beiden Regionen halt erschütternd, das geht relativ schnell, wenn man von Münster aus ein paar Orte Richtung Süden fährt.
Aus meiner Sicht ist es so, dass dem Ruhrgebiet jede Perspektive fehlt. Seit Jahren werden kulturelle Projekte und öffentliche "Leuchttürme" gefeiert wie eine Zukunftsoffenbarung, aber damit allein kann sich eine Metropolregion mit mehreren Millionen Einwohnern doch unmöglich über Wasser halten.
Mehr kommt aber nicht.
Die klassische Industrie stirbt weg, ohne ersichtlichen Ersatz. Der Niedergang der Bergwerke ist bis heute ein Trauma, aber ehrlich, der Niedergang der Fließbänder war und ist doch genauso gegeben, aber anscheinend will das niemand so richtig wahrhaben. Und nun? Dienstleistungen for the win?
Dass dazu die Infrastruktur immer mehr leidet und überall dort, wo der Staat seine Finger im Spiel hat mehr falsch als richtig läuft ist der nächste Elefant im Raum. Und das betrifft, wie gesagt, Millionen Menschen. Das kann doch nicht unser Anspruch sein (oder besser: der Anspruch des Ruhrgebiets, ich bin ja im Grunde fein raus und kann mir das alles aus der Ferne anschauen, auch wenn das Elend mir doch etwas zu nahe kommt…)