Aus Syrien ins deutsche Hinterland – Eine Flüchtlingsodyssee

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Muhammad Tamim in seinem Zimmer in der Flüchtlings-Erstaufnahmeinrichtung in Hemer. Foto: Felix Huesmann

Es ist ein grauer Novembertag, tief im deutschen Hinterland. Ein paar Kilometer außerhalb des kleinen Örtchens Hemer im Sauerland liegt eine ehemalige Militärkaserne, nur durch eine Straße vom ehemaligen Truppenübungsgelände getrennt. Einige hundert Meter weiter grast eine einsame Kuh. Soldaten schlafen in den Baracken schon länger nicht mehr, 2007 hat die Bundeswehr den Standort Hemer aufgegeben. Während auf anderen Teilen des Kasernengeländes 2010 die Landesgartenschau stattfand, wohnen in den Baracken neben dem ehemaligen „Standortübungsplatz“ nun Flüchtlinge.

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Die Flüchtlings-Erstaufnahmeeinrichtung in Hemer befindet sich in ehemaligen Militärbaracken. Foto: Felix Huesmann

Einer von ihnen ist Muhammad Tamim, der seit 2012 aus dem syrischen Yarmouk auf der Flucht ist. Yarmouk ist ein Stadtteil von Damaskus und war mit seinen über hunderttausend Bewohnern das größte inoffizielle palästinensische Flüchtlingscamp. Viele der dort lebenden Palästinenser flohen ab Dezember 2012 wie Tamim vor den Luftangriffen des Assad-Regimes. Schon vor dieser Flucht galt er als Flüchtling, als staatenloser Palästinenser. Mittlerweile sind große Teile seiner Heimat Yarmouk dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen, der Stadtteil wurde monatelang von Assads Truppen und regimetreuen Milizen belagert. Ein Foto des Vereinte-Nationen-Hilfswerks UNRWA aus dem Januar 2014 zeigt tausende Menschen, die zwischen zerbombten Häusern auf Hilfsgüter warten.

Tausende Menschen warten im Flüchtlingslager Yarmouk auf Hilfslieferungen. Foto: UNRWA
Tausende Menschen warten im Flüchtlingslager Yarmouk auf Hilfslieferungen. Foto: UNRWA

Die Fotos, die Tamim auf einer Festplatte mit nach Europa gebracht hat, zeichnen noch ein anderes Bild von Yarmouk. Sie zeigen alltägliches Leben, Freundschaften und jede Menge Kultur in einem lebendigen Stadtteil. Vor seiner Flucht hat Tamim vor allem als Tänzer gearbeitet, ist in Theatern in Qatar, Ägypten und anderen arabischen Ländern aufgetreten. Als er Fotos von einem Workshop mit Kindern aus Yarmouk zeigt, scheint Tamim den Tränen nahe. Zu den meisten der Kinder, denen er Singen, Tanzen und Schauspiel beigebracht hat, hat er heute keinen Kontakt mehr. Einige von ihnen werden ebenso wie er auf der Flucht sein. Manche werden immer noch unter katastrophalen Bedingungen in Yarmouk leben, andere ihr Leben im Bürgerkrieg verloren haben.

Nachdem er Yarmouk Ende 2012 verlassen hat, lebte Tamim erst eine Weile an verschiedenen Orten in Damaskus. Acht Monate später fand er dann, wie viele andere auch, den Weg in den Libanon. In dem weniger als fünf Millionen Einwohner zählenden Land leben mittlerweile mehr als eine Million syrische Flüchtlinge. Im Vergleich: Deutschland hatte bis September 2014 etwa 58.000 Menschen aus dem bürgerkriegsgeplagten Land aufgenommen.
Im tief gespaltenen Libanon, seit mehr als einem halben Jahr ohne Staatschef, eskalieren angesichts riesigen Flüchtlingszahl die Konflikte: Rassistische Ausgrenzung, katastrophale Lebensumstände und eingeschränkte Bewegungsfreiheit sind an der Tagesordnung. Trotzdem erging es Tamim dort die meiste Zeit vergleichsweise gut. Anders als viele Flüchtlinge bekam er sogar einen Job, digitalisierte Musik von alten Tonbändern, „in einer richtig guten Qualität“, wie er sagt. Auch Freunde fand er in Beirut schnell. Dort leben nicht nur viele syrische Flüchtlinge, die Stadt ist auch eine Hochburg junger Künstler und Kulturschaffender im Nahen Osten. Mit einem strahlenden Gesicht zeigt er Fotos von gemeinsamen Abenden mit Freunden – und jeder Menge Arak, einem in der Region sehr beliebten Anisschnaps. Auf den Fotos wirkt alles ein wenig wie das junge, hippe und unbeschwerte Leben in deutschen Studenten-WGs.

Schon in Beirut fängt Tamim an, seine Fluchterfahrung in Videokunstprojekten zu verarbeiten. Aus Skype-Gesprächen mit Freunden und Verwandten in Syrien und Europa schneidet er Videos zusammen. Während er ein Video zeigt, pausiert er kurz, zeigt eine Person, die mittlerweile im Bürgerkrieg gestorben ist. Solche Momente sind es, die den Schein der Unbeschwertheit brechen und den Blick auf die Tragik von Krieg und Flucht zurücklenken.

Im September 2014, nur einen Monat vor seiner Weiterreise nach Europa lernt Tamim durch einen gemeinsamen Freund die Kanadierin Charlotte Gaudreau kennen. Schnell verlieben sich die beiden. Charlotte war als Touristin in den Libanon gekommen, ursprünglich nur für einen Monat. Beirut hatte sie vorher schon fasziniert, als sie dann da war, entschied sie sich, ihren Lebensmittelpunkt aus Kanada dorthin zu verlegen. Auch sie ist ein kreativer Mensch. Sie fotografiert und arbeitet in einem Zirkus, wo sie Workshops mit Menschen aus Syrien, Palästina und dem Libanon begleitet.
Der Ort, der Charlotte so begeistert, bietet für Tamim jedoch keine dauerhafte Perspektive. Zu schwierig ist das Leben als einer von mehr als einer Million, die niemand so recht haben will. Er beschließt, sein Glück in Europa zu versuchen. Durch die Hilfe von Freunden kann er ein Visum ergattern und steigt Anfang Oktober in einen Air-France-Flieger nach Paris. Da er in Deutschland bereits Menschen kennt, reist er direkt weiter. Nachdem er den Antrag auf Asyl gestellt hat, beginnt der nächste Teil seiner Odyssee – das Leben in deutschen Flüchtlingsunterkünften. Zuerst ist er kurz in Göttingen untergebracht, es folgen Stationen in Bielefeld, Bad Salzuflen und Unna.

In Beirut nimmt sich seine Freundin Charlotte Urlaub und reist Tamim nach, um ihn zu besuchen. Über die Zustände und Perspektivlosigkeit in deutschen Flüchtlingsunterkünften ist sie schockiert. Ob Tamim mit seiner Entscheidung, nach Europa zu gehen, am Ende glücklich wird, weiß sie nicht – „aber es war seine einzige Möglichkeit“, sagt sie.

Mitte November wird Tamim dann mit einigen anderen Flüchtlingen aus Unna-Massen in die „Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung“ des Landes Nordrhein-Westfalen nach Hemer gebracht, wo er sich mit fünf anderen aus Syrien ein Zimmer in einer Baracke teilt. Nach Unbeschwertheit sieht hier nicht viel aus, die alten Militärbaracken erinnern an einen Gefängnistrakt. Die Flure riechen nach Urin.

Kein Schöner Anblick: Die Flure der ehemaligen Militärbaracken erinnern an einen Gefängnistrakt. Foto: Felix Huesmann
Kein Schöner Anblick: Die Flure der ehemaligen Militärbaracken erinnern an einen Gefängnistrakt. Foto: Felix Huesmann

„Ich würde so gerne Deutsch lernen, oder wenigstens irgendetwas machen“, erklärt Tamim. Viele Möglichkeiten gibt es in der Erstaufnahmeeinrichtung allerdings nicht. Es gibt einen Fernsehraum mit Sitzbänken, wohl ein Überbleibsel aus der militärischen Vergangenheit. Einen Fernseher gibt es dort aber nicht. Zum Deutschlernen greifen Tamim und seine Zimmernachbarn auf ihre Smartphones zurück. Mit Sprach-Apps und arabisch-deutschen Youtube-Videos versuchen sie sich wenigstens ein paar Grundbegriffe selber beizubringen.

Als sie abends in die riesige Kantine der Einrichtung gehen, freut sich Tamim. „So viel Essen gab es schon lange nicht mehr“, erzählt er. Was sie sonst meist zu essen bekommen haben? „Kartoffeln.“ Eine Möglichkeit selbst zu kochen hatte Tamim, seit er in Deutschland ist, bislang nicht.

Ein vergleichsweise üppiges Essen. Selber kochen können Tamim und die anderen Flüchtlinge in der Einrichtung nicht. Foto: Felix Huesmann
Ein vergleichsweise üppiges Essen. Selber kochen können Tamim und die anderen Flüchtlinge in der Einrichtung nicht. Foto: Felix Huesmann

Ende November die nächste Station: Tamim und drei andere syrische Flüchtlinge werden aus Hemer in die Notunterkunft in der Lewackerstraße in Bochum Linden verlegt. Zwar gibt es auch hier immer noch keine Möglichkeit an Sprachkursen oder dergleichen teilzunehmen. Immerhin wurde ihm aber zugesichert, vorerst in Bochum bleiben zu können, einer Stadt mit kulturellen Angeboten, Studenten, jungen Menschen. Wie lange er tatsächlich bleiben kann, wird sich zeigen: Da er zuerst französischen Boden betreten hat, stehen seine Chancen auf einen langfristigen geregelten Aufenthalt nach geltendem EU-Recht alles andere als gut. Danach haben Flüchtlinge nur in dem Land ein Recht auf Asyl, in dem sie in die EU einreisen.
Tamims Odyssee ist also noch lange nicht zu Ende.

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