Die erste war Tobi. Vor zweieinhalb Jahren stolperte er durch meinen Hinterhof und wir beide hatten eines gemeinsam: Wir waren hilflos. Er, eine zu früh aus dem Nest gefallene Stadttaube; ich, ein unwissender und ratloser Stadtmensch. Eine kurze Googlerecherche und ein paar Facebook-Messenger-Nachrichten später, stand ich gemeinsam mit einer jungen Frau im Hof, die beherzt zupackte und Tobi mitnahm. Damit hätte die Geschichte schon zu Ende sein können. Für mich fing sie gerade erst an.
Als gebürtige Essenerin gehörten Tauben zum meinem Bild von einer Stadt dazu. Wie bei vielen meiner Generation hielt auch mein Opa Brieftauben im Schlag hinter seinem Zechenhäuschen im Essener Norden. Und doch musste ich erst ins knapp 400 Kilometer entfernte Erfurt ziehen, um mir über das Phänomen Stadttaube bewusst zu werden. Ich musste Tobi treffen und für uns beide Hilfe suchen. Heute bin ich Mitglied im Vorstand des Erfurter Tauben e.V. Ein Leben ohne diese Tiere ist für mich nicht mehr vorstellbar. Von unserer Gastautorin Birte Schwarz.
Das Leid zu unseren Füßen
„Ausgerechnet Tauben“, sagt meine beste Freundin, die bereits beim Anblick der Tiere Ekel empfindet. Klar, ich könnte mich auch um Straßenkatzen oder -hunde kümmern. Tiere mit Niedlichkeitseffekt, die den meisten Menschen auf Anhieb Mitleidsbekundungen entlocken und sie ihre Geldbörsen für Spenden zücken lassen. Es würde mir eine Menge Kummer ersparen und meine Nerven schonen. Also warum ausgerechnet Tauben? Vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass sie keine Lobby haben. Dass sie mitten unter uns sind und ihr Leid für die meisten von uns doch unsichtbar bleibt. Es gibt so viele Menschen, die sie verteufeln, als Ratten der Lüfte bezeichnen und ihnen nachsagen, dass sie Krankheiten übertragen. Für mich war das schon immer unverständlich.
Bei einem hilfsbedürftigen Tier hat sich mir nie die Frage gestellt, ob es Fell oder Federn hat, ob es ein Haus- oder ein Wildtier ist. Und wenn ich Tauben sehe, sehe ich so viel Schönes. Ich sehe unzählige Gefiedervariationen – grau, rotfahl, weiß…. Ich sehe, wie das Licht in ihrem Halsgefieder Grün- und Lilatöne hervorzaubert. Ich sehe wachsame, feuerrote Augen und weiße Nasenwarzen, die wie kleine Herzen auf den Schnäbeln sitzen.
Ich sehe aber vor allem auch das Leid: Die unermüdliche Suche nach Futter. Verschnürungen mit Fäden und Haaren, die sie sich auf ihren stundenlangen Wanderungen an den Füßen zuziehen. Aus- und verhungerte Tiere. Schreckliche Wunden durch Unfälle mit Autos, sogenannte Vergrämungs-Spikes, Greifvögel-Angriffe oder Luftgewehre.
Kein Weg in die Stadt, ohne dass mein Blick gen Himmel und viel öfter noch gen Boden geht – in die schmuddeligsten Ecken, hinter den Blumenkübel vor dem noblem Schaufenster, ins Gleisbett. Ich rette Tauben. Jeden Tag. Nicht allein, sondern mit den vielen wundervollen Menschen unseres Vereins. Wir sammeln sie ein, verbringen Stunden im Wartezimmer des Tierarztes, verbinden Wunden, füttern Küken mit der Sonde, verabreichen Medikamente. Das ist das Tagesgeschäft.
Ehrenamt ≠ Hobby
Mindestens genauso viel Arbeit fällt im Hintergrund an. Eier an erreichbaren Stellen gegen Attrappen tauschen. Mieter, Vermieter, Institutionen zu ihren Tauben-Problemen beraten. Unsere genehmigte Futterstelle betreuen und dokumentieren. Texte für Facebook schreiben. Pressekontakte pflegen. Infostände organisieren. Vereinsarbeit. Der Stadtverwaltung damit in den Ohren liegen, dass es betreute Schläge braucht, um die Population dauerhaft zu reduzieren. Allein ist das nicht zu schaffen, aber gemeinsam ist vieles möglich. Noch in diesem Jahr soll in Erfurt der erste offizielle Taubenschlag eröffnet werden, in dem die Tiere sich ansiedeln und wir die Eier austauschen können. In anderen Städten ist dieses so genannte Augsburger Modell längst etabliert. In Erfurt scheiterte es bislang, aber Aufgeben war nie eine Option. Oft werden wir wegen unseres „Hobbys“ belächelt. Ich lächle zurück und frage mich, wer das Engagement von Tierschützern ernsthaft als Hobby einstuft. Unser Ehrenamt kennt keine festen Termine, kein Wetter, keinen leeren Tank, kein Geld am Ende des Monats. Das Leid der Tauben ist menschengemacht. Wir Menschen sind auch dafür verantwortlich, es zu lindern.
Nicht an der Taube lecken!
Der Umgang mit Tauben in Deutschland ist nach meinem Empfinden besonders durch Unkenntnis und Ignoranz geprägt. Hinzu kommt eine gehörige Portion Scheinheiligkeit: In der Kirche stehen weiße Tauben nach wie vor als Symbol für Erlösung und Gnade. Zu Hochzeiten und Friedensdemonstrationen werden sie regelmäßig in die Lüfte geschickt und ihrem Schicksal überlassen. Kaum ein Brautpaar informiert sich darüber, dass weiße Tauben für Beutegreifer viel schneller zu fangen sind. Dass, wenn es sich nicht gerade um Brieftauben handelt, sie enorme Probleme haben, sich zu orientieren und in den Schwärmen der Städte stranden, wenn sie nicht vorher sterben. Brieftauben sahnen für ihre Besitzer horrende Preise ein. Dass die Tiere bis an den Rand der Erschöpfung fliegen, um zurück zu ihrem Partner zu kommen, von dem sie zuvor getrennt wurden, spielt für die Besitzer selten eine Rolle.
Meine Arbeit mit und für Tauben hat mich verändert. Sie hat mich empfindsamer gemacht gegenüber Tieren und unseren Umgang mit ihnen allgemein. Auch ein ganzes Stück radikaler. Man ist es irgendwann leid, immer und immer wieder gegen die jahrelang wiedergekauten Vorurteile vorzugehen. Ich tue es trotzdem. Mal ruhig und geduldig. Mal wütend.
Stadttauben sind keine Wild- sondern Haustiere.
Stadttauben finden nicht genug zu fressen.
Stadttauben übertragen nicht mehr Krankheiten als jeder Spatz, jede Amsel, jeder Hund, jede Katze.
Der wichtigste Tipp eines jeden Taubenschützers ist ironischerweise: Nicht an der Taube lecken.
Von Tauben und Menschen
Wenn ich und meine Mitstreiter auf offene Ohren stoßen, kommen wir ins Schwärmen über diese wundervollen Tiere. Tauben beobachten ist wie Meditation und wer sich die Zeit nimmt, kann in kurzer Zeit viel über das Sozialverhalten der Tiere lernen, das unserem gar nicht unähnlich ist. Tauben leben in der Regel monogam, auch wenn Seitensprünge vorkommen (ahnt jemand, woher Tobi seinen Namen hat?). Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind keine Seltenheit. Die Tiere teilen sich die Nest- und Brutpflege auf. Stundenlang putzen sich die Partner gegenseitig und immer wieder führt der Täuber kunstvolle Tänze auf, um seine Herzensdame zu beeindrucken.
Fliegt der Schwarm in Formation über den Erfurter Bahnhofsplatz, geht mir das Herz auf und ich weiß, dass es wichtig und richtig ist, was ich tue. Dass es vielleicht nicht viel verändert, aber solange es nur für ein einzelnes Lebewesen etwas ändert, ist es das wert. Stefan Bröckling, in Tierschutzkreisen bekannt und nahezu verehrt, hat mal gesagt: „Jedes Leben ist wertvoll.“
Er hat Recht.
Übrigens: Tobi lebt seit seiner Rettung in einer unserer Endstellen und hat in Zapata eine treue Partnerin gefunden. Manchmal besuche ich ihn. Und keiner von uns beiden fühlt sich mehr hilflos.