Sanftes Schaukeln auf Prognosewerten?


Ein Windhauch nach der Ruhe. Wenn es so lange behäbig zuging im Wahlkampf, darf man sich über ein bißchen Wellen im Wasserglas freuen: In den Umfragen hat die CDU im Lauf der letzten zwei Wochen ein paar Prozente verloren. Als Naturwissenschaftlerin wird Angela Merkel diese Zahlen schwer nehmen. Sie werden ihr nicht schmecken. Aber das berechnende Kalkül der Großen Koalition, wenn es mit der FDP nicht klappen sollte, wirkt beruhigend. Was also hat sie zu verlieren? Denkt sie daran, was die Demokratie zu verlieren hat?

Hagelterror im Ruhrpott

Das Unwetter am Nachmittag des 3. Juli brachte die härtesten Hageleinschläge seit Jahren ins Ruhrgebiet. Hier ein kurzer Film über die Lage an der Zeche Zollverein. Ein Blick auf den Parkplatz. Er verwandelt sich in sowas wie ein eisiger Gebirgsbach. Hab ich noch nie gesehen.

Genausowenig, wie das Video hier aus Schonnebeck vom gleichen Tag. Was da schwimmt, sind die Hagelkörner. Unglaublich. Das ist in Essen.

Danke an Thomas S.

Jacko: Kong of Pop gefleddert


Heute ist ein 16seitiges „Extrablatt“ der WAZ zum Tod von Michael Jackson erschienen. Das einzig Überraschende an der offenbar hastig zusammengestoppelten Zielgruppenpublikation ist ihre chronische Faktenanämie.

Zur Verwendung kommen „sollte“-„hätte“-„könnte“-Konjunktive, die mit der Wirklichkeit vielleicht gar nichts zu tun haben. Es ist zum Beispiel die Rede davon, er habe „zuletzt angeblich einen 500 Millionen Dollar großen Betrag an Verbindlichkeiten aufgetürmt“. Ja, hat er nun oder hat er nicht?

Auch viele andere Begebenheiten rund um seine Prozesse, sein Leben in den letzten Jahren, Zahlungen, die er leisten mußte, Erlöse, die er vereinahmt haben soll – über all dies: nur Spekulationen und Fortführung der hinlänglich bekannten Gerüchte. Selbst wieviele „Thriller“ die Zuhörer gethrillt haben, bleibt sein großes Geheimnis: So werden zu dessen Verkaufszahlen verschiedene Angaben gemacht: auf  Seite 6 des WAZ-„Extrablatt“ sind es erstaunliche 105 Millionen, auf Seite Seite 7 immerhin noch 70 Millionen, gefolgt von 100 Millionen auf Seite 8 um auf Seite 12 mit 50 Mio. zu enden – ja, was denn nun?

Viele Michael-Jackson-Fans werden sich über die Huldigung ihres Idols freuen und hernach eifrig „Der Westen“ besuchen – um auch dort nicht mehr zu erfahren. Aufklärung über strittige Sachverhalte dürfen sie dabei nicht erwarten.

Michael Jackson erscheint eingedenk dieser publizistischen Operation ein weiteres Mal wie umoperiert. Er ist offenbar gar nicht der „King of Pop“ sondern so etwas wie ein Personal Jesus, der als stellvertretend Leidender über seinen Tod hinaus ertragen muß, was eigentlich schon dem lebendigen Leser unerträglich scheint. Lieber Gott: Steh! uns! bei!

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Europawahl: Bajuwarischer Denksport

Laut ARD-Hochrechnung von 20:02 Uhr hat die CSU 7,2 Prozent der Wählerstimmen erreicht. Vorausgegangen war eine Zitterpartie – auch wegen einer Bauernschaft, die in Bayern teils neue Wege ging. Die CSU hatte in Sachen Gen-Technik nicht erkannt, wo die Glocken hängen.

Nun muß sie fleissig nachdenken, was ihr das Wahlergebnis sagen soll und wie repräsentativ es für andere Wahlen sein könnte. Sie hat laut aktueller Hochrechnung des ZDF von 21:30 Uhr 49,5% der bayrischen Wählerstimmen bekommen und will nun wieder von der absoluten Mehrheit auch irgendwann im Landtag träumen.

Die bisherige Hochrechnung geht von einer bundesweiten Wahlbeteiligung von 42,5 Prozent aus, 2004 waren es 43 Prozent. Diese insgesamt geringe Wahlbeteiligung sowie das dazu relativ gute Wahlergebnis für die CSU in Bayern hat es ihr ermöglicht, die 5%-Hürde deutlich zu überspringen.

Europawahl: Liberales Aufatmen

1. Prognose FDP, 18:02: ARD 10,5%

1. Hochrechnung FDP, 18:16 Uhr, : ARD 10,8%, ZDF 10,6 %.

Hochrechnung von 19:16 Uhr: ARD 10,6%, ZDF 10,3%

Hochrechnung von 19:20 Uhr: ARD 10,8%, ZDF 10,3%

Hochrechnung von 20:02 Uhr: ARD 10,9%

Hochrechnung von 21:25 Uhr: ZDF 10,3%

 

 

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Finanzkrise: Zeichen der Zeit

Die freie Wirtschaft (Auszug)

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.

Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.

Kurt Tucholsky in: Die Weltbühne, 4. März 1930, Nr. 10, S. 351