Der lange Schatten von Datteln

Hundertachtzig Meter hoch wird der Kühlturm im nordrhein-westfälischen Datteln in den Himmel ragen. Nun wirft das geplante Megakraftwerk vom Energieriesen Eon lange Schatten auf die Düsseldorfer Regierung. Der Regionalverband Ruhr (RVR), eine politisch einflussreiche Gruppe in Nordrhein-Westfalen, will den Regionalplan für das größte Kraftwerk Europas ändern und den Bau des weithin sichtbaren Industrieklotzes ermöglichen.

Vor rund einem Jahr hatte Oberverwaltungsgericht Münster der Klage eines Bauern recht gegeben und den alten Bebauungsplan wegen zahlreicher Verfahrensmängel für ungültig erklärt. Nun kann der RVR entscheiden, ob er es dabei belässt oder aber einen neuen Regionalplan entwirft. Die Vorlage für die kommende Sitzung Anfang Dezember sieht vor, den Standort des Kraftwerks nachträglich genehmigungsfähig und den Einsatz von Importkohle möglich zu machen. Die Grünen sind entsetzt über die Vorlage mit der SPD-Handschrift. „Wir wollen nicht im Interesse von Eon handeln“, sagt die Grüne Sabine von der Beck. Notfalls könne die „Koalition mit der SPD nicht durchgehalten werden.“

Platzt Rot-Grün im Essener Ruhrparlament, ist dort politisch nur eine große Koalition aus SPD und CDU möglich. Nach Informationen der Ruhrbarone hat die CDU der SPD schon konkrete Angebote für eine Zusammenarbeit gemacht. „Sie sehen ihre Chance gekommen“, heißt es. Schließlich ist der Vorsitzende der Ruhr-CDU Oliver Wittke gleichzeitig Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen und hat öffentlich mehrfach eine Große Koalition im Lande für wünschenswert erklärt. Das Ende des viel besungenen rot-grünen Wunschbündnisses im Revier hätte unabsehbare Folgen auf das Düsseldorfer Bündnis. Dieses hatte schon bei den Koalitionsverhandlungen den Sprengstoff des Kraftwerkprojekts erkannt und gehofft, die anhängigen Gerichtsverfahren würden eine politische Entscheidung überflüssig machen. Im Vertrag heißt es deshalb allgemein, es werde weder für noch gegen das Projekt Gesetze erlassen. Eine eindeutige Positionierung der Koalitionsparteien im Ruhrparlament macht diese bemüht neutrale Haltung schwer.

Mächtig unter Druck stehen sie auch von Deutschlands größtem Energiekonzern Eon. Der macht beim RVR und in der Landtagsfraktion PR-Arbeit und schickt seine Lobbyisten ins Haus. Erst vergangenen Woche hat der Vorstandsvorsitzende Johannes Teyssen auf einer Bilanz-PK deutlich gemacht, wie wichtig das Projekt für Eon ist. „Nur was in der Heimat erfolgreich läuft können wir auch in der Ferne verkaufen,“ sagte der Manager dort.

SPD und Grüne hingegen können bei dem Megaprojekt nur verlieren. Die Grünen haben vor der Landtagswahl massiv gegen das noch von der schwarz-gelben Vorgängerregierung bewilligte Projekt protestiert. Auf Veranstaltungen verteilte Grünen-Chefin Claudia Roth symbolisch essbare „Datteln“ gegen den „Klimakiller“. Die Grünen könnten ihren Wählern und der Basis vor Ort nicht erklären, warum die zuvor als grüße CO2-Dreckschleuder bezeichnete Anlage von ihnen möglich gemacht wird.

Die SPD hingegen muss ihr wirtschaftspolitisches Gesicht wahren. Aber der „Elefantenfriedhof“, wie die SPD-Veteranen alter Schule intern genannt werden, schläft nicht. Gerade im Ruhrgebiet ist die Verbindung zur Bergbaugewerkschaft IGBCE und ihren industriefreundlichen Ansichten sehr eng. Mit dem Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski sitzt ein mächtiger Strippenzieher im RVR, der bevor Hannelore Kraft letztendlich Ministerpräsidentin wurde als ihr Kronprinz vorgesehen war. Die Ruhr-SPD hatte sogar einen Eon-Funktionär zum zukünftigen Direktor des RVR küren wollen, bis dieser aus gesundheitlichen Gründen selbst zurückzog.

Das rot-grüne Düsseldorf versucht die Wogen des zerstrittenen Reviers nun zu glätten und verfasst gemeinsame Erklärungen. „Das Verfahren ist noch völlig offen“, so der frühere IGBCE-Sekretär und heutige SPD-Fraktionsführer Norbert Römer. „Wie bekommen wir die Kuh jetzt noch vom Tisch?“, fragt hingegen ein führender SPD-Genosse aus dem Revier. Denn allen Beteiligten ist klar, dass eine Änderung des Planungsrechts nunmehr schwerlich zu stoppen ist.

Schon einmal ist Rot-Grün in Düsseldorf an einem Industrieprojekt beinahe gescheitert: Ende der 1990er Jahre haben die Grünen letztlich für das Braunkohlekraftwerk Garzweiler gestimmt und die Riesenbagger im Rheinland akzeptiert. Aber heute hat die Partei dreimal so hohe Umfragewerte wie damals und geht selbstbewusst in die Verhandlungen. „Die SPD hat keinen besseren Partner als uns“, sagt der Grüne Fraktionschef Reiner Priggen. Die Koalition im Revier am Kraftwerk scheitern zu lassen wäre eine „Irrsinns-Strategie.“

Junge Union: Täuschen und Trinken

... zu manipulieren, sagen Miglieder FOTO: Junge Union

Mitglieder der Jungen Union in Duisburg saufen sich auf öffentlich finanzierten „Bildungsreisen“ durch die Nacht, Christdemokraten dürfen kurz vor und nach Wahlen ihren Ortsverband wechseln und so mehrfach Vorsitzende wählen. Ein tiefer Einblick in die Machenschaften einer Partei

Eva Klomberg freute sich auf Karl-Theodor zu Guttenberg und die Besichtigung des Reichstages, sie war gespannt auf das Holocaust-Denkmal in Berlin. Doch die angebliche Bildungsreise der Jungen Union Duisburg entpuppte sich für die 18-Jährige zur angsteinflößenden Sauftour. „Schon um zehn Uhr morgens fingen einige zu saufen an und randalierten nachts in unserem Hotel“, erzählt Klomberg.

Ein JUler soll um 6 Uhr morgens an der Tür von Klomberg und ihrer Freundin randaliert haben. „Ich will bei Euch schlafen“, soll er gerufen haben. „Wir hatten furchtbare Angst“, sagt Klomberg heute, gut drei Wochen nach der Berlinreise. Den Vize-Vorsitzenden der JU Duisburg, Bartosch Lewandowski, sah Klomberg aus dem Pensionszimmer auf der Straße nach „Jesus Christus“ rufen. Seine Kollegen hatten ihn ausgesperrt. Kurze Zeit später hörte sie einen lauten Knall, die Tür des Nachbarzimmers wurde offenbar von Lewandowski eingetreten. Klomberg hat ein Foto der zerstörten Tür.

Die mit öffentlichen Mitteln geförderte Reise wurde für sie zum Alptraum. „Ich erwarte, dass diese Säufer und Randalierer aus der Partei ausgeschlossen werden“, sagt die Medizinstudentin.

Der CDU-Vorstand des Kreisverbandes erhielt eine Mail von Klomberg und ihrer Freundin mit allen Details der Reise. Er soll die Mitglieder der Jungen Union nach einer Sitzung am 5. Oktober zu diesen Vorfällen darauf eingeschworen haben, „nichts an die Presse zu geben und den Sachverhalt zu vergessen“. Mehrfach wurde den Parteimitgliedern „auf eindringliche Weise eingebläut“, den Mund zu halten, so ein Mitglied der Jungen Union.

Bereits in der Vergangenheit hatte die Lokalpresse mehrfach über Trinkgelage und Handgreiflichkeiten berichtet. CDU-Kreisverbandschef Thomas Mahlberg hat die Junge Union jedoch selten in ihre Schranken verwiesen. Vielleicht, weil sie ihm in der Vergangenheit bei Wahlen zu Diensten war. Es hat den Anschein, dass Mitglieder der Jungen Union bei einigen Wahlen von Ortsverband zu Ortsverband gezogen sind, um bestimmte Vorsitzende und Delegierte zu installieren.

„Wahlen manipuliert“

Bianca Seeger sieht sich als Opfer dieser Praxis. „Ich habe beobachtet, wie Mitglieder der CDU und der Jungen Union als Wahlnomaden die Wahlen manipuliert haben“, sagt Seeger der Rundschau. Die 42-Jährige kandidierte im Herbst 2008 zur Ratsfrau für die bevorstehende Kommunalwahl in ihrem Ortsverband Duisburg Huckingen. Sie forderte damals Walter Becks heraus, einen Vertrauten von Mahlberg.

Am Wahlabend erschienen viele Personen, die sie noch nie im Verband gesehen hatte. „Das waren Freunde und Verwandte von Mahlberg und Mitglieder seines Schützenvereines, die kurzfristig eingetreten sind.“ Seeger hat eine Liste der Anwesenden, darunter finden sich eine Nichte und der Schwager von Mahlberg. Seeger verliert die Wahl mit 15 zu 46 Stimmen. Interne Statistiken der CDU belegen den sprunghaften Anstieg der Mitgliederzahlen in Seegers und weiteren Ortsverbänden im Jahr 2008 und 2009, während zeitgleich andere Stadtteile Mitglieder verlieren. Insgesamt aber hatte der Kreisverband der CDU Duisburg in den vergangenen Jahren eine stabile Größe.

Im März 2009, stellte sich Seeger wieder in Huckingen zur Wahl, diesmal für den Vorsitz des Ortsverbandes. Kurz vor dem Termin stieg die Mitgliederzahl des Verbandes auf 175 Mitglieder an, ein Jahr zuvor waren es nur 73 Personen gewesen. Mahlberg selbst war an jenem Abend anwesend, die CDU-Fraktionsvorsitzende im Duisburger Rat, Petra Vogt, fungierte als Wahlleiterin. „Mahlberg hat eine Werberede für Becks gehalten, ich selbst kam nicht zu Wort.“ Erneut verlor die Christdemokratin, diesmal mit 54 zu 83 Stimmen. „Wieder tauchten die Wahlnomaden auf“, sagt sie. Dabei kann laut Satzung der CDU-Duisburg – wie in jeder Partei – jedes Mitglied auf Ortsverbandsebene nur einmal wählen.

Sieben Tage später wird Seegers Verdacht bestätigt. „Mitglieder der Jungen Union hatten im Ortsverband Duisburg Huckingen mitgewählt und tauchten eine Woche später im Stadtteil Homberg als Mitglieder und Wähler auf.“ Auch der heutige JU-Vorsitzende Jörg Brotzki wählte laut Protokoll der Versammlung in Huckingen mit und kurze Zeit später im Verband Duisburg-Duissern, wo er inzwischen Vize-Vorsitzender ist.

Seegers Vater, ebenfalls CDU-Mitglied, hat die Wahl inzwischen vor dem Duisburger Amtsgericht angefochten, seine Anzeige wird inzwischen unter dem Aktenzeichen 49c3360/10 geführt. Das Gericht hat Ende September das „schriftliche Verfahren“ angeordnet.

Die Nachwuchs-CDUler haben in der Partei offenbar einen Freibrief. Der Landesverband der Jungen Union gibt an, die Konflikte seien „in Duisburg intern zu lösen“, so Sprecherin Carla Florath. Auch der Landesverband der CDU verweist auf den Kreisverband. Auch dort scheint man ein Auge zuzudrücken. Bartosch Lewandowski, der mutmaßliche Randalierer aus Berlin, erhielt zwar schon im November 2008 ein Mandatsverbot. Er wurde für eine Prügelei auf einer JU-Versammlung verantwortlich gemacht, in deren Folge die damalige Schriftführerin zu Boden ging. Trotzdem wurde er kurz darauf Vorsitzender der JU Duisburg Süd. Inzwischen hat er angekündigt, zum 1. November seine Ämter niederzulegen, um „Schaden von der Partei abzuwenden.“ Die Vorwürfe bestreitet er aber weiter.

Politische Diskussionen haben die Duisburger Nachwuchspolitiker kaum noch angeboten – dafür aber regelmäßige „Bildungsfahrten“. Ein bis zweimal im Jahr fahren sie nach Berlin, und in diesem Jahr fanden laut einem JU-Mitglied drei Besichtigungen der immer gleichen Duisburger Bier-Brauerei statt. Inzwischen sind die Termine auf der Homepage nicht mehr zu finden.

„Seit Jahrzehnten weit verbreitete Praxis“

JU-Chef Brotzki gibt sich am Telefon überrascht. Dann gibt er per Email zur Antwort: „Zu den Vorwürfen, ich sei nacheinander in mehreren Ortsverbänden Mitglied gewesen und hätte dort jeweils an Wahlen teil genommen, darf ich mich gegenwärtig nicht äußern, da es derzeit noch ein internes Parteischiedsgerichtsverfahren gibt.“ Auch Ortsverbandschef Thomas Mahlberg äußert sich nicht.

Tatsächlich ist das Verfahren inzwischen, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, vor dem Bundesschiedsgericht der Partei in Berlin gelandet. Noch im November soll über die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten bei den Duisburger Wahlen entschieden werden. Zuvor hatte sowohl das Kreisschiedsgericht Duisburg als auch das Landesschiedsgericht die Einsprüche von verschiedenen Mitgliedern abgelehnt. Die mit Parteimitgliedern besetzten Gerichte vereinbarten Stillschweigen über das Verfahren.

Denn offenbar toleriert die Partei die strategische Ortsverbandswechsel ihrer Mitglieder, der letztlich über Wahlen entscheiden kann. Die CDU Duisburg hat 2009 beim Landesjustiziar der CDU angefragt, ob der geschäftsführende Vorstand des Kreisverbandes über einen Ortsverbandswechsel entscheiden kann. Ein CDU-Justiziar antwortete in einer der Berliner Zeitung vorliegenden Email vom 10. Juni 2009: Nach dem Statut der CDU Deutschlands entscheide über den Aufnahmeantrag der zuständige Kreisvorstand. „Der Kreisvorstand kann über Ausnahmen hinsichtlich der Frage entscheiden, in welchem Parteiverband ein Mitglied anschließend geführt wird.“ Eine solche Vorgehensweise sei im übrigen „seit Jahrzehnten weit verbreitete Praxis auch in anderen CDU-Kreisverbänden.“ Möglicherweise ist das Wahlnomadentum in Duisburg kein Einzelfall in der christdemokratischen Partei.

Pinkwart lässt uns mit Papke allein

Oberster Ampel-Fan Andreas Pinkwart

Andreas Pinkwart war ein hölzerner Parteisoldat, der Studierenden als Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen viele Schulden eingebracht hat. Trotzdem war der Professor mit der immerwährenden Igel-Frisur eine wohltuende Ausnahme unter den dumpfen neoliberalen FDPlern im Lande

Nun sind die lautstarken Liberalen wieder unter sich: Der Vize-Chef der Liberalen Bund, Andreas Pinkwart, wird sich aus der Politik zurückziehen und zum 1. April 2011 die Leitung der Handelshochschule Leipzig übernehmen. Diese Aufgabe sei „zeitlich nicht mit herausgehobenen Parteiämtern zu vereinbaren“, sagte Pinkwart. Er wird auch den Vorsitz der NRW-FDP aufgeben. Damit verlässt ein Mann aus dem Hintergrund die politische Bühne, der einen leisen Gegenpart zum populistischen Parteichef Guido Westerwelle bildete.

Zwar bedauerte Westerwelle den Rückzug von Pinkwart am Donnerstag „persönlich sehr.“ Allzu groß ist die empfundene Trauer beim Chef-Liberalen aber sicherlich nicht: Pinkwart galt intern als aussichtsreicher Konkurrent für den umstrittenen Außenminister der FDP. Pinkwart ist der graue und seriöse Gegenentwurf zum grellen Guido Westerwelle. Die beiden waren lange Zeit aufeinander angewiesen, galten aber als herzlich entfremdet.  eine mit einer 80er-Jahre Igelfrisur, der andere mit gestyltem Haarschnitt, würden freiwillig zusammen ein Bier trinken. „Menschlich passte das gar nicht“, so ein Wegbegleiter von Pinkwart.

Auch auf nordrhein-westfälischer Landesebene prallten mit Pinkwart und NRW-Fraktionschef Gerhard Papke zwei unversöhnliche Strömungen aufeinander. Auf der einen Seite der beißende Populist Papke, der mit den Grünen nicht einmal in der Düsseldorfer Parlamentskantine gesehen werden möchte, und auf der anderen Seite der Modernisierer Pinkwart, der durchaus auch eine Ampel für möglich hielt. Als der Professor nach dem uneindeutigen Ergebnis der NRW-Landtagswahl vom 9. Mai eine Zusammenarbeit mit SPD und Grünen befürwortete, wurde er von Papke öffentlich zurück gepfiffen. Zwar fanden die Sondierungen zwischen den drei Parteien trotzdem statt, aber die Liberalen sprachen konsequent „mit zwei Stimmen“, erinnerten sich Teilnehmer. Die Gespräche scheiterten schließlich.

„Die beiden sind wie zwei Platzhirsche immer wieder heftig aufeinander getroffen“, sagt FDP-Landesvorstandsmitglied Stefan Romberg dieser Zeitung. Beide hätten seit Jahren um die Macht gerangelt. Nun hat die NRW-FDP nur noch eine wahrnehmbare Stimme: Die der neoliberalen Hardliner. Papkes Gruppe ließ schon in den ersten hundert Tagen der rot-grünen Minderheitsregierung keinen Zweifel daran, dass sie zu keiner Zusammenarbeit mit dem Kabinett von Hannelore Kraft (SPD) bereit sei. Pinkwarts Abgang zementiert nun die Regierung ohne eigene Mehrheit: Eine alternative Ampel ist mehr denn je ausgeschlossen.

Pinkwart hat den nach Jürgen Möllemanns Abgang und späteren Tod niederliegenden FDP-Landesverband wieder aufgebaut. Sein größtes Projekt als NRW-Wissenschaftsminister, die Autonomie der Hochschulen und die Studiengebühren von 1000 Euro pro Jahr, hat Pinkwart geschickt umgesetzt. Er lenkte die Wut der Studierenden über das kostenpflichtige Studium auf die Hochschulen, die selbst über die Höhe der Campusmaut entscheiden konnten. Und so protestierten die Studenten nicht vor dem Landtag sondern vor den Büroräumen der Rektoren.

Die rot-grüne Landesregierung wird nun den Pinkwart-Nachlass einkassieren und die Gebühren wieder abschaffen. Sicherlich hat Pinkwart das als Schmach empfunden. Aber der Düsseldorfer Landtag hatte für den Lebensabschnitts-Politiker ohnehin keine Zukunft parat: In aktuellen Umfragen dümpeln die NRW-Liberalen weit unter der 5-Prozent-Hürde bei drei Prozent herum.

Die abgewählte schwarz-gelbe Koalition von Jürgen Rüttgers ist nun auch personell Geschichte. CDU und FDP suchen augenblicklich beide einen neuen Vorsitzenden.

100 Tage mindere Macht

Macht korrumpiert. Herrschaft verbiegt und verwandelt sympathische Personen in überhebliche Alleingänger. Warum die unsicheren Machtverhältnisse der rot-grünen Minderheitsregierung Parteien und ihre Politiker in NRW schon nach 100 Tagen verändert haben.

Früher kam es auf das Skatspiel an, wenn in Nordrhein-Westfalen Gesetze erlassen wurden. Der inzwischen verstorbene Landesvater Johannes Rau lud seine Genossen vor wichtigen Entscheidungen zum Kartenkloppen ins Hinterzimmer. Sein späterer Nachfolger Wolfgang Clement hielt die Diskussion um seine wahnwitzigen Projekte wie den Metrorapid gar für überflüssig und drückte sie gegen alle Widerstände durch – bis sie letztendlich scheitern mussten. Die Düsseldorfer Landesregierungen waren lange Zeit ein Biotop der Arroganz. Die in dieser Woche hundert Tage regierende rot-grüne Minderheitsregierung von Hannelore Kraft (SPD) hat dem Dünkel ein Ende gesetzt. Die mächtigste Frau im Land muss für jedes noch so kleine Gesetz – und sei es die Farbe der Polizisten-Uniform – um eine Mehrheit kämpfen. Sie benötigt immer eine Stimme oder Enthaltung aus der Opposition.

Gerade an Rhein und Ruhr mit der fast vier Jahrzehnte lang ungebrochenen Mehrheit für die SPD haben viele Genossen arrogant ihre Macht ausgeübt. „Die anderen“ wurden in Diskussionen gar nicht erst mit einbezogen, sämtliche Ämter vom Regierungspräsidenten bis zu den Bankern der Landesbank an SPDler vergeben. Und die CDU schien innerhalb ihrer kurzen Machtblüte der vergangenen fünf Jahre ähnlich selbstvergessen zu werden. Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers konnte noch Wochen nach seiner krachenden Niederlage nicht einsehen, dass es keine Große Koalition unter seiner Führung geben wird.

Diese gestörte Selbstwahrnehmung hat das uneindeutige Wahlergebnis nun jäh zerstört. Die nach zähen Sondierungen gefundene Minderheitsregierung ist auf den Dialog angewiesen. „Das schützt auch ein bisschen davor, arrogant oder überheblich zu werden,“ sagt Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen. Bei einem satten Vorsprung müsse man sich nicht um die Opposition bemühen. Ausgerechnet mit der Partei, denen noch im Wahlkampf absolute Unfähigkeit attestiert wurde, muss nun gemeinsame Sache gemacht werden. Längst sprechen alle Fraktionen mit der Linken, auch wenn CDU und FDP aus ihrer Ecke der Kalten-Krieger nur langsam hervorkriechen. Anfang Oktober hätte es den ersten von CDU und Linken gleichermaßen befürworteten Antrag zum den sozialen Wohnungsbau gegeben- wenn nicht sechs Christdemokraten, darunter Jürgen Rüttgers, der Abstimmung fern geblieben wären.

Aber dies war mehr ein organisatorischer Fehler als ein Boykott. Denn die potentielle Möglichkeit, bei Gesetzen Zünglein an der Waage zu spielen und so irgendwie doch Macht ausüben zu können, beschwingt auch die starre CDU. Erstmals hat ihr Fraktionschef Karl-Josef Laumann nun angekündigt, nicht mehr an der Hauptschule fest halten zu wollen. Eine Revolution in den Reihen der Konservativen. Aber wer bei der Schulreform mitspielen will, muss sich wenigstens ein bisschen auf dem Spielfeld der Macht bewegen.

Regieren mit wechselnden Mehrheiten ist langsam, auch das haben die ersten drei Monate gezeigt. So brüstet sich die Landesregierung zwar damit, bei bisher 59 Abstimmung im Landtag „keine einzige verloren zu haben“, so der SPD-Fraktionsvorsitzende Norbert Römer. Allerdings wurden viele Anträge in die Ausschüsse verwiesen – und die abgestimmten betrafen landespolitisch harmlose Forderungen wie nach einem Atomausstieg oder verbesserten Hochschulchancen für Frauen.

Die zentralen Wahlversprechen aber muss sich Rot-Grün noch hart erkämpfen. Die Linke will die Studiengebühren von 1000 Euro jährlich schon im Sommersemester statt zum Winterhalbjahr 2011 abschaffen und droht mit einem Nein. Die größte Reform aber, nämlich die Gemeinschaftsschule bis zur zehnten Klasse, will Kraft offenbar nicht im Landtag einbringen. Der neue Schultyp soll ohne Gesetz als Experiment eingeführt werden. Die Opposition ist empört. „Das Parlament wird ausgeschaltet und nicht ernst genommen“, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der NRW-FDP, Ralf Witzel. „Und das nur, weil sie Angst vor einer parlamentarischen Niederlage haben.“ Letztlich aber gibt Rot-Grün ihre Entscheidung nach unten weiter. Nun entscheiden Kommunen und Schulen vor Ort, ob sie ihre Schulen zusammen legen wollen.

Die Opposition findet dies „unsäglich“ und will einen Volksentscheid gegen die Reform starten. Dann wäre die Minderheitsregierung nicht nur auf Stimmen aus der Opposition angewiesen, sondern auch auf die Zustimmung der Bevölkerung zwischen den Wahltagen. Auch dies ist neu an Rhein und Ruhr.

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Das demütigende Deutschland

Murat Yildiz* ist einer der hoch qualifizierten Einwanderer, nach denen neuerdings deutsche Wirtschaftslenker und Politiker schreien. Aber der Facharzt wird hier gegängelt und degradiert

"Ich kam als hochbezahlter Mediziner und wurde wie ein Abiturient behandelt"

Murat Yildiz trägt Verantwortung. Wann immer sich die Geburt der Patientinnen auf seiner gynäkologischen Station bedrohlich nach hinten schiebt, entscheidet er über einen Kaiserschnitt. Wenn während einer Operation Komplikationen auftreten wird der Oberarzt an den Schneidetisch gerufen. „Aber ich bin trotzdem Arzt zweiter Klasse“, sagt Yildiz. Denn obwohl der in der Türkei geborene Mediziner schon seit drei Jahren in deutschen Kliniken arbeitet, wird ihm immer noch die Approbation verweigert, die deutsche Ärzte mit dem ersten Staatsexamen erhalten. Yildiz hat nur eine befristete Berufserlaubnis, die ausschließlich für diese eine Klinik gilt.

Schon als Kind wollte Murat Yildiz Arzt werden. In seinem Dorf in der Osttürkei standen die Menschen auf, wenn ein Mediziner den Raum betrat, so angesehen war der Beruf. Yildiz arbeitet sich hoch und legt an einer renommierten Istanbuler Universität einen glänzenden Abschluss hin, 2007 macht er dann in einer Klinik seine Facharztprüfung als Gynäkologe. Zu der Zeit bringt er 4000 Kinder jährlich zur Welt. Diese erfolgreiche Biografie ist in Deutschland „wie weggewischt“, so Yildiz. „Ich kam als spezialisierter Arzt und wurde wie ein Abiturient behandelt.“

Bei der Hochzeit eines Freundes in Istanbul lernt Yildiz vor vier Jahren seine Partnerin aus Mannheim kennen. Schnell werden die beiden ein Paar und bekommen eine Tochter. Die Familie entscheidet sich für Deutschland. „Nie hätte ich gedacht, dass es hier so schwer ist“, sagt Yildiz. „Ich war bestens ausgebildet, hatte an einer renommierten Uni studiert und die Deutschen haben arrogant meine Papiere belächelt und für wertlos erklärt,“ sagt er aufgebracht. Dabei spricht der 33-jährige Mediziner deutsch, türkisch, arabisch und englisch und ist für jede Geburtsstation mit migrantischen Patientinnen eine Bereicherung.

Aber zunächst muss er sich durch langwierige Behördengänge ein Visa verschaffen, dann eine Duldung und schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung. „Als Vater eines deutschen Kindes hatte ich das Recht, hier zu leben“, so Yildiz. „Aber die Behörden behandelten mich wie einen Schmarotzer, der sich deutsches Geld einverleibt.“ Dabei lebt die Kleinfamilie von seinem in Istanbul erarbeitetet Geld, und Yildiz will unbedingt arbeiten. Er bewirbt sich bundesweit und wird schließlich an einer Klinik im niedersächsischen Meppen angestellt. Als Assistenzarzt, denn seine Facharztprüfung muss er erneut ablegen. Die Kollegen sind sehr nett. „Aber Deutschland behandelt uns schlecht“, sagt er.

Durch die Degradierung zum Assistenzarzt kann er nicht nur einige Operationen nicht mehr durchführen, die er längst beherrscht, sondern sein Gehalt ist auch viel geringer. Yildiz verdient hier nur einen Bruchteil, während seine türkischen Studienfreunde in Istanbul mit mindestens zehntausend Euro monatlich nach Hause gehen. Weil er so schnell und zuverlässig arbeitet, lässt ihn der Chefarzt nach einem guten Jahr die Facharztprüfung absolvieren. Ohnehin sind seine Kollegen immer schnell von dem engagierten jungen Arzt überzeugt und geben ihm Verantwortung. Auch die Patientinnen waren immer „alle sehr freundlich“, sagt er. Viele türkischstämmige Frauen sind froh, medizinische Sorgen in ihrer Muttersprache mitteilen zu können.

Die Behörden interessieren diese Erfolge nicht. Nach seiner Stelle in Meppen bewirbt er sich in Hamburg. Jedes Land hat für ausländische Ärzte andere Hürden aufgebaut, jedes Mal ist ein anderes Amt zuständig. „Das ist reine Willkür“, sagt Yildiz. Nie ginge es um das Fachliche. Seine Odysee geht in Hamburg weiter. Er bekommt eine Stelle an der renommierten Uniklinik. „Ich war hoch motiviert, wollte mich an der Uni weiter fortbilden und auch Lehre betreiben“, so Yildiz. Auch die Klinik ist begeistert, sie wollen den erfahrenen viersprachigen Arzt unbedingt haben. Aber das Landesprüfungsamt des Stadtstaates erkennt weder seinen Uniabschluss noch den Facharzt an. Wieder muss er dutzende Akten von der Istanbuler Universität vorlegen, Bescheinigungen aus allen Semestern übersetzen und beifügen. Das Amt behandelt ihn „wie einen lästigen Bittsteller“. Die nach monatelangem Warten erteilte Berufserlaubnis gilt erneut nur für ein Jahr, danach steht wieder eine „Gleichwertigkeitsprüfung“ an. Yildiz verliert langsam die Geduld, er fühlt sich matt und müde. „In Hamburg war ich nicht willkommen, ich musste weiterziehen.“ Dabei hatte seine Partnerin ihren Job in Mannheim schon gekündigt. Die Familie guckte sich Wohnungen in der Hansestadt an und war bereit für einen weiteren Neuanfang. Wieder alles vergeblich, die unsicheren Aussichten machen die Planungen zunichte. „Über uns schwebt dauernd das Damoklesschwert, in die Türkei gehen zu müssen“, sagt die Heilpädagogin. Jeder Tiefschlag auf dem Amt bringt das Leben der Familie in Deutschland ins Wanken.

Zum Glück setzt sich sein ehemaliger Meppener Chef für ihn ein und verhilft ihm in diesem Sommer zu einer Stelle am Klinikum in Frankenthal bei Mannheim. In der Stadt mit den vielen Migranten ist Yildiz der einzige Mediziner im Krankenhaus, der nicht in Deutschland geboren wurde. Obwohl er nun als Facharzt arbeitet, operiert und therapiert, muss er wieder in spätestens zwei Jahren eine Prüfung zur Approbation ablegen. Erst dann ist er einem deutschen Facharzt gleich gestellt. Das Examen aber wird voraussichtlich wieder alle physiologischen und chemischen Grundlagen der Humanmedizin abfragen. „Ich könnte jede gynäkologische Prüfung sofort bestehen“, sagt er. „Aber für dieses Examen müsste ich monatelang lernen.“ Wieder eine große Hürde. „Ich helfe den Menschen gerne, das ist mein Beruf“, sagt Yildiz. Ihm selber aber sei in Deutschland nur von sehr wenigen Menschen geholfen worden.

*Name von der Redaktion geändert

Der einseitige Pakt

Umspannwerk von Siemens- bald made in Istanbul

Siemens hat mit seiner kürzlich versprochenen Beschäftigungsgarantie für alle Mitarbeiter viel Lob geerntet – doch nicht für jeden gilt der Pakt. Die Bochumer Siemens-Tochter Ruhrtal wird im kommenden Jahr geschlossen

Gregor Malten kann die Lobeshymnen auf seinen Arbeitgeber nicht fassen. „Ich wurde fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel“, sagt der Bochumer. Er ist bei der Ruhrtal AG beschäftigt, einer hundertprozentigen Tochter von Siemens. Der deutsche Elektro-Riese hatte erst Ende September einen unbefristeten Beschäftigungspakt für seine 128.000 in Deutschland beschäftigten Mitarbeiter geschlossen. Die Firma verpflichtet sich darin, künftig bundesweit auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten und erhielt dafür viel öffentliches Lob. „Bei uns im Betrieb sieht die Realität aber anders aus“, sagt Malten.

Im Mai haben die rund 140 Mitarbeiter erfahren, dass ihr Werk geschlossen werden soll. Bislang wurden dort Geräte für Umspannwerke hergestellt, so genannte Trennschalter für die Oberleitungen von Stromnetzen. Vor knapp zehn Jahren hatte Siemens die Ruhrtal-Firma aus der Insolvenz aufgekauft. „Damals wurde uns garantiert, dass wir unsere Jobs alle behalten“, sagt Malten. Dann hieß es plötzlich , das Werk in der Revierstadt sei nicht mehr konkurrenzfähig. „Es gibt einen enormen Druck auf dem Weltmarkt“, sagte Siemens damals. Das liege vor allem an den ausbleibenden Investitionen der Energiekonzerne, hieß es. Deshalb sollte ein Teil der Produktion in das Siemens-Starkstromkompetenzzentrum in Berlin verlagert werden, ein anderer in das Niedriglohnland Türkei.

Damals galt der Beschäftigungspakt noch nicht, sagt Georg Lohmann, Sprecher der Siemens AG in Nordrhein-Westfalen. „Wir haben den Mitarbeitern einen bunten Strauß an Möglichkeiten angeboten.“ Das Unternehmen habe beispielsweise eine Beschäftigungsgesellschaft gegründet, in der die Mitarbeiter noch bis Ende des Jahres eintreten können. Unabhängig davon würden „nicht wenige Mitarbeiter“ nach Berlin oder Istanbul wechseln oder sich auf andere Stellen bei Siemens bewerben. „Wir haben in Deutschland etwa 3000 offene Stellen“, so Lohmann. Allerdings werden vor allem Ingenieure gesucht, um die die Firma auch mit der Beschäftigungsgarantie gebuhlt hat. Die Ruhrtaler hingegen sind weniger nachgefragt – meist sind es einfache Handwerker, die es schwer haben auf dem Arbeitsmarkt.

„Auch ein Umzug nach Berlin ist für die meisten keine Alternative“, sagt Malten. Die Kollegen erwarteten Nachwuchs oder hätten sich ein Häuschen gebaut. Auch Ulrike Kleinebrahm bedauert, dass „wieder ein Werk in Bochum schließt“. Die Bevollmächtigte der IG Metall in Bochum hat schon viele menschliche Katastrophen im Ruhrpott miterlebt – das Aus für Nokia, die dauernde Bedrohung des Opelwerkes. „Siemens kümmert sich besser um seine Angestellten als viele andere Firmen“, sagt Kleinebrahm. Aber der Beschäftigungspakt sei dennoch als absolute Job-Garantie überbewertet worden. „Der Pakt hat seine Grenzen.“ Wenn ein ganzer Standort wie jetzt in Wattenscheid geschlossen würde, käme nicht jeder unter. „Die Ingenieure und Facharbeiter können sich die Stellen im Unternehmen aussuchen“, so Kleinebrahm. Aber die Sekretäre, Bürokräfte und Elektriker könnten leer ausgehen.

Malten ist untröstlich. „Vor drei Jahren haben wir Siemens aus der Patsche geholfen“, sagt er. Damals hätten er und sein Team viele Stunden umsonst gearbeitet, um das Werk zu retten. Jetzt stünden sie vor dem Nichts. „Der Pakt war in Bochum immer nur einseitig – die Mitarbeiter haben garantiert, unter allen Bedingungen weiterzuarbeiten.“

Lena-Manie in Düsseldorf

Love -oh-Love bald in Düsseldorf?

Düsseldorf könnte zum nächsten „Satellite“ des Eurovision Song-Contest werden: Die Stadt am Rhein wird als Favoritin für die Ausrichtung des Musikspektakels im kommenden Jahr gehandelt.

Weil Lena Meyer-Landruth den diesjährigen Wettbewerb in Oslo gewann, können nun die deutschen öffentlich-rechtlichen TV-Sender die nächste Bühne für das Mega-Event bestimmen. Berlin brachte sich als Hauptstadt Deutschlands naturgemäß zuerst ins Gespräch, Hannover als Heimatort Lenas sowieso. Und Hamburg hoffte als Sitz des zuständigen Fernsehsenders NDRs ebenfalls auf den Zuschlag. Der ARD-Sender will sich jedoch noch immer nicht offiziell äußern. „Es ist noch keine Entscheidung gefallen“, so eine Sprecherin. Dabei sollte der nächste Austragungsort schon im Sommer verkündet werden.

Die Düsseldorfer Boulevardpresse verkauft den Heimsieg hingegen schon als Fakt und beruft sich auf gut informierte Kreise. Tatsächlich hat die Landeshauptstadt einen großen Vorsprung vor den Konkurrenten: Der Kommune selbst gehört die Arena, in der das Finale des Eurovision Song Contest im kommenden Jahr am 14. Mai und die beiden Semifinals am 10. und 12. Mai statt finden können. Berlin hatte den Flughafen Tempelhof, Hambur und Hannover Messehallen angeboten. Aber kein Ort fasst so viele Fans wie die Düsseldorfer Arena mit ihren 55 000 Plätzen, geschützt vor Regen und Wind durch ein ausfahrbares Dach.

Die Lieder-Show mit ihren obskuren Feuerschlucker-Hymnen und gesäuselten Balladen passt allerdings nicht ganz zur Musikgeschichte von Düsseldorf. Hier entstanden legendäre Band Kraftwerk, Fehlfarben, DAF und die Dauerpunkrocker der „Toten Hosen.“ Niemand dachte an die knapp 600 000 Einwohner große Stadt, als Lena vor wenigen Monaten den Sieg heimtrug.

Aber die europaweite Fernseh-Werbung für die Siegerstadt macht die Entscheidung offenbar so folgenschwer und langwierig. Mehrere hundert Millionen Europäer schauen der Endlos-Sendung zu und stimmen für ihre Favoriten ab. Düsseldorf rechnet mit einem Werbeeffekt von rund 150 Millionen Euro, hinzu kommen noch Einnahmen durch ausgebuchte Hotels und kauflustige Fans. „Das wäre historisch großartig für unsere Stadt“, so ihr Sprecher Michael Frisch. Er garantiert: „In unserem Stadion ist es auch bei tiefsten Temperaturen mindestens 15 Grad warm.“

Die Stadt am Rhein kann sich das Spektakel zumindest leichter leisten als Berlin oder Hannover. Sie ist eine der wenigen schuldenfreien Großstädte Deutschlands. Dafür sorgen wachsende Einwohnerzahlen, zahlreiche Firmensitze von Vodafone bis Henkel und wohlhabende Einwohner, die sich auf der Königsallee Geld und Steuern lassen. Außerdem hat der inzwischen verstorbene Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) Stadtwerke und Sparkassen privatisiert.

Dem streitlustigen Konservativen könnte nun posthum noch ein Triumph zuteil werden: Der 2008 gestorbene CDU-OB hatte jahrelang für den Neubau einer Großarena am Rhein gekämpft. Er ließ das Rheinstadion gegen starke Widerstände abreißen, um eine moderne Sportstätte für die Fußball-WM 2006 und sogar für Olympische Spiele 2012 in Düsseldorf zu errichten. Doch beide Großereignisse fanden und finden ohne Düsseldorfer Beteiligung statt. Im Nachhinein hätte Erwin doch noch recht gehabt mit seiner teuren Schnapsidee für den Steuerzahler, der 80 Millionen Euro zu den Gesamtkosten von 220 Millionen beisteuern musste.

Immerhin haben Stars wie Madonna, Genesis und Depeche Mode hier schon aufgespielt. Und die Fortuna bringt regelmäßig 30 000 Fans ins Stadion. Für einen Verein, der lange Jahre in der dritten Liga dümpelte und in dieser Saison nach vielen Jahren erstmals wieder in der zweiten Liga spielt, ein großer Erfolg.

Nun musste der Fußballclub einer wochenlange Blockade seines Heimatrasens zustimmen. Aber das Euro-Event blockiert die Austragungsstätte für mindestens sechs Wochen – für Proben und auf -und Abbauten. Für die drei letzten Heimspiele der Saison gegen Union Berlin, Bielefeld und Aachen müsste die Fortuna die Arena verlassen. Dabei nennt der Fußball-Zweitligist die Arena mittlerweile sein Zuhause. Nach anfänglicher Skepsis haben die Fortuna-Fans ihre neue Heimat aufgenommen und singen dort auf ihren Stehplätzen erstaunlich laut. Für den Song Contest sollen nun Club und Fans in das kleine Fortuna-Stadion in Flingern umziehen. Und das wird teuer. Denn das Mini-Stadion müsste die Stadt dann von etwa 7000 auf knapp 20 000 Plätze ausbauen. Wo die Plätze in der engen Vorstadt-Arena entstehen sollen ist allerdings schleierhaft. Doch Oberbürgermeister Dirk Elbers promotet fleißig das Event. „Das wird ein tolles Spektakel“, so der gescheitelte Christdemokrat. „Dann ist Party in der Stadt.“

„Hartzer sollen ein Bier trinken können“

"Fünf Euro allein sind nicht viel" - CDUler Laumann

Karl-Josef Lauman ist der Arbeiterführer der CDU – und findet 5 Euro mehr für Bedürftige völlig okay. Der Münsterländer will ihnen das Bier nicht verbieten – wovon sie es bezahlen sollen, weiß der gelernte Schlosser allerdings nicht zu sagen. Auch höhere Löhne fände er gut – gesetzlich festlegen möchte er sie aber auch nicht.

Herr Laumann, was haben Sie sich zuletzt von fünf Euro gekauft?

Karl-Josef Laumann: Eine Busfahrkarte in Berlin. Ich weiß: Fünf Euro allein sind nicht viel. Aber fünf Euro sind fünf Euro. Und die fünf Euro mehr für jeden Hartz IV-Empfänger kosten den Staat immerhin mehr als 300 Millionen im Jahr, das ist insgesamt eine schöne Stange Geld. Und man darf nicht vergessen, dass die Hartz IV-Sätze das eine sind, der Staat aber auch für die Kosten der Unterkunft aufkommt.

Sie kommen aus dem Münsterland, in dem gerne feucht-fröhlich gefeiert wird. Ist es richtig, den Bedürftigen Bier und Zigaretten zu streichen?

Natürlich sollen die HartzIV-Empfänger auch weiter ein Bier trinken können, das ist doch selbstverständlich. Jeder Empfänger kann doch weiterhin frei darüber entscheiden, was er mit dem Geld macht und das ist auch gut so. Aber man kann halt jeden Euro nur einmal ausgeben. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Niemand möchte den HartzIV-Empfängern ihr Bier verbieten. Aber ein Arbeiter bekommt auch vom Staat keinen Zuschlag für Alkohol.

Diese haben ja auch mehr Geld zur Verfügung. Wenn Hartzer nun ein Bier trinken wollten müssten sie aber nach ihren Berechnungen auf etwas anderes existenzielles wie zum Beispiel eine Internetverbindung verzichten.

Nein, die Menschen werden das mit ihren eigenen Berechnungen schon hinkriegen. Aber wir haben jetzt doch etwas viel wichtigeres geschafft: Zum ersten Mal sind dort auch Kosten für das Internet und Vereinsleben berücksichtigt. Allen Schulkindern wird das warme Mittagessen bezahlt, das sind noch einmal 400 Euro mehr im Jahr. Als Sozialminister in Nordrhein-Westfalen wäre ich froh über diese Summe gewesen. Anders als die Vorgängerregierung haben wir jetzt die Teilhabe am Leben mit berücksichtigt.

Das sind doch statistische Wunschwerte. Halten Sie es denn grundsätzlich für möglich zu berechnen, wie viel Geld ein Mensch für ein würdiges Leben benötigt?

Ich glaube den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Dieses Gesetz wird auch allen gerichtlichen Auseinandersetzungen standhalten. Die haben fein säuberlich alles herangezogen, was eine Durchschnittsfamilie aus dem unteren Lohnsegment benötigt. Ich gönne den Leuten gerne ein besseres Einkommen, aber die arbeitenden Menschen müssen mehr verdienen. Es darf doch nicht sein, dass die Verkäuferin, die sich von morgens bis abends die Beine in den Bauch steht, oder der Arbeiter im Getränkemarkt, der schwere Kisten schleppt, weniger verdient als ein HartzIV-Empfänger.

Wäre es da nicht folgerichtig, die Niedriglöhne gesetzlich zu erhöhen umso den Lohnabstand zu wahren?

Ich bin überzeugt, dass jetzt mit dem Wirtschaftsaufschwung auch die Löhne steigen müssen. Wir haben in Deutschland einen Niedriglohnsektor. Ich möchte, dass die Lohnerhöhung auch dort ankommt, und zwar durch ordentliche Tarifverträge. Im Übrigen werden auch HartzIV-Empfänger von insgesamt höheren Löhnen profitieren, weil künftig 30 Prozent ihres Satzes von der allgemeinen Lohnentwicklung abhängen.

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Der überschätzte Stonebridge

Der lächelnde Stonebridge (www.peer-steinbrueck.de)

Peer Steinbrück ist ein Faszinosum. Der frühere NRW-Ministerpräsident hat noch niemals in seinem Leben eine Wahl gewonnen. Der steife Genosse hat keinerlei größeren Erfolge als Politiker vorzuweisen. Und dennoch gilt der stieselige Norddeutsche gerade den Berliner Hauptstadtjournalisten als „Hottest possible SPD-Kanzlerkandidat in Town“. Warum nur?
Vielleicht liegt es daran, dass Finanzminister in ihrem Zahlenwerk von den Medien schnell das Etikett seriös und weise erhalten. Dabei ist  Steinbrück gnadenlos überbewertet. Der gelernte Kofferträger von 70er-SPD-Spitzenpolitikern wie Hans Matthöfer ist eigentlich der klassische Beamtentyp: dröge, schlecht gelaunt und mit einem Humor, der selten wirklich lustig ist. Jetzt hat Steinbrück wie so viele überreife Alt-Sozialdemokraten ein Buch geschrieben. „Unterm Strich“ ist offenbar ein 500-Seiten-Vehikel für Stone, irgendeine Art von politischem Comeback zu schaffen. Eine willkommener Anlass für ihn, in der WAZ die Gier der Reichen, in der Rheinischen Post Merkels Krisenmanagment und im ZDF die exzessive Staatsverschuldung zu kritisieren. Gähn.
In den oberflächlichen Mainstream-Media-Porträts über Steinbrück werden gerne seine drei Jahre als Regierungschef in Düsseldorf tot geschwiegen. Und dies mit gutem Grund. Als der frühere Kieler Landesminister 2002 die Nachfolge des nach Berlin entflohenen Ex-Genossen Wolfgang Clement antreten durfte, passierte politisch nichts mehr im bevölkerungsreichsten Bundesland. „Klarer Kurs. Konzentration der Kräfte“, hieß Steinbrücks damalige Regierungserklärung. Drin stand wenig. Als Verdienst bleibt einzig, dass er den wahnwitzigen Clement-Transrapid stoppte und dem Land so eine Milliarden-Pleite ersparte.
Steinbrück, als langjähriger Staatsdiener mit tausend Aktenvermerken und Regierungsvorlagen gewaschen, präsentierte dann noch mit „Roland Kotz äh Koch“ (Angela Merkel) einen Waschzettel für den Subventionsabbau. Gähn. Ansonsten glänzte das gebürtige Nordlicht mit nervenden Seemanns-Sprachbildern „Klarer Kurs, Klarschiff, usw“. 2005 wurde er in NRW abgewählt. Ihm gelang doch das Kunststück, die jahrzehntelange sozialdemokratische Hochburg NRW krachend und haushoch gegen einen nuschelnden CDU-Arbeiterführer namens Jürgen Rüttgers zu verlieren.
Lustiger Tiefpunkt seiner damaligen Wahlkampagne: In Bottrop wurde Peer von einem Pferd angekotzt, wie damals die „taz“ schrieb. Ein vierjähriger Hafflinger Wallach, eigens auf „Michel Peer“ getauft, wurde nervös, als er den Ministerpräsident sah. Beruhigend streichelte Steinbrück das Pferd. Aber der Klepper hat keinen Lust auf Wahlkampf. „Michel Peer“ scheute und bockte. Das Pferd spuckte und speite. Die Umstehenden guckten verdattert auf den Ministerpräsidenten. Fotografen wurden angewiesen, keine Fotos von dem mit Pferdekotze besudelten Steinbrück zu schießen.
Nach seinem Scheitern in Düsseldorf machte Steinbrück rüber nach Berlin. Fast Forward. Auch in der Hauptstadt scheiterte er. Aber wiederum blieb Steinbrück ein Faszinosum: Nach vier Jahren großer Koalition mit Steinbrück als Bundesfinanzminister holte die SPD ihr schlechtestes deutschlandweites Ergebnis seit der Nazi-Reichstagswahl vom Frühjahr 1933. Dennoch galt Steinbrück weiterhin als weiser, kluger Finanzfachmann, der die große Krise wie ein Westentaschen-Helmut-Schmidt allein bewältigt haben will. Von diesem Ruf zehrt Steinbrück bis heute. Er gilt als möglicher Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2013. Steinbrück hat jetzt in Interviews gesagt, er strebe kein Amt mehr an. Hoffen wir, dass er klaren Kurs hält und keine Pferde kotzen.

Schulden sind gut

In ihrer ersten Regierungserklärung hat sich die neue NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft von der Politik des Bundes und fast aller Bundesländer distanziert. Nordrhein-Westfalen geht unter Rot-Grün eigene Wege. Während Schwarz-Gelb in Berlin ein dickes Sparpaket schnürt, weitet das bevölkerungsreichste Bundesland seine Nettoneuverschuldung um 35 Prozent aus. Das ist riskant, aber angebracht.

Im Grunde setzt Genossin Kraft mit rund zehnjähriger Verspätung um, was die sozialdemokratischen Modernisierer von Blair bis Schröder einst versprachen: einen vorsorgenden Sozialstaat, der Bürgern bildet und sie so unabhängig von Almosen des Staates werden lässt. Doch während die SPD-geführten Regierungen im letzten Jahrzehnt nur halbherzig in Schulen investierten und noch dazu dramatisch bei sozialen Hilfen kürzten, macht NRW jetzt ernst. Die Studiengebühren an Rhein und Ruhr werden abgeschafft, Gemeinschaftsschulen eingeführt, die Kita wird gratis. Das kostet. Und kann die Gemeinschaft am Ende doch billiger kommen. Allein ein Kind unter dem Schutz des Jugendamtes kostet die Kommunen Zehntausende im Jahr. Das gewagte Düsseldorfer Kalkül sieht vor, irgendwann weniger für Jugendhilfe und Gefängnisse ausgeben zu müssen. Wenn dann auch noch die Einnahmen durch Vermögenssteuer und höhere Spitzensteuersätze vergrößert werden ist der Staat wieder stark.

Ob Krafts Plan langfristig aufgeht ist unklar. Es gibt keine historische Parallele. Sicher ist aber, dass die Spar-Rezepte ihrer Vorgänger allesamt gescheitert sind. Steinbrück, Clement und Rüttgers haben gekürzt und am Ende mehr ausgeben müssen. Vielleicht wird NRW mit Krafts gewagtem Konzept wieder einmal zum Testlabor für den Bund.