Die gemeinschaftliche Druckwelle

Am Drama der Loveparade haben viele mitgeschrieben

Natürlich muss Adolf Sauerland zurücktreten. Der Duisburger Oberbürgermeister war verantwortlich für ein Spaßevent, bei dem mehr als 20 Menschen ihr Leben verloren. Unvorstellbar, dass der Christdemokrat in seiner Stadt bald wieder einen Kindergarten eröffnet und launige Reden auf Schützenfesten hält. Trotzdem ist Sauerland letztendlich eine tragische Randfigur im großen Drama der Loveparade. Denn das Stück geschrieben haben die Strippenzieher des gesamten Ruhrgebietes.

21. Februar 2007 Veranstalter Rainer Schaller verkündet das Aus für die Loveparade in Berlin. In den folgenden Monaten werben München, Leipzig, Köln und das Ruhrgebiet um das Event. Im Revier bricht in der regionalen Presse Jubel über das „Großereignis, das wir uns nicht entgehen lassen dürfen“ aus.

11. Juni 2007 Überstürzt spricht sich Duisburg für eine Loveparade in der Stadt aus. Der Rat der Stadt Duisburg ermächtigt CDU-Oberbürgermeister Adolf Sauerland, einen Rahmenvertrag mit dem Veranstalter Lopavent über die Loveparade im Jahr 2010 abzuschließen. Die Linksfraktion enthält sich. Der Rat soll laut dem Geschäftsführer der Duisburger Marketing-Gesellschaft Uwe Gerste „noch vor der Sommerpause“ abstimmen, weil das gesamte Ruhrgebiet mit der Entscheidung an die Presse gehen wolle. Zeit für eine Debatte bleibt nicht.

16. Juni 2007 Das Ruhrgebiet erhält von den Veranstaltern Lopavent den offiziellen Zuschlag für die kommenden 5 Loveparades. Schon zwei Monate später, am 25. August, die Loveparade erstmals durch Essen ziehen. 2008 soll Dortmund folgen, in den Jahren darauf die Party in Bochum, Duisburg und Gelsenkirchen statt finden.

20. August 2007 Veranstalter Rainer Schaller legt die Messlatte für die Revier-Paraden hoch. Der Fitnessstudio-Betreiber kündigt an, Berlin im Ruhrgebiet „in mehreren Faktoren zu schlagen“. Es sollen Events der Superlative werden.

25. August 2007 Die erste Loveparade im Ruhrgebiet findet in Essen statt. Die Raver haben das Zentrum für sich. Wegen Überfüllung wird zeitweilig der Bahnhof geschlossen.

19. Juli 2008 Mit der zweiten Loveparade im Revier beginnt der Wettlauf um die höchsten Teilnehmerzahlen. In Dortmund nehmen nach amtlichen Angaben 1,6 Millionen Raver teil, 100 000 mehr als 1999 in Berlin. Diese „Rekordzahl“ nennt ein Sprecher der Stadt. Später zweifeln Polizei und Feuerwehrleute die Zahlen an, es sollen doch nur 850 000 Menschen gewesen sein. Sie ravten ohne Zwischenfälle auf der gesperrten Autobahn 40. Der Bahnhof erwies sich aber schon damals als kritischer Punkt: Er wurde zeitweilig geschlossen, viele Besucher konnten erst Stunden nach Veranstaltungsende einen Zug nehmen.

15. Januar 2009 Die Loveparade in Bochum wird abgesagt. „Wir haben nicht die Infrastruktur für so ein großes Ereignis“, sagt Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (SPD). Medien und die CDU_Opposition reagieren empört. Die Entscheidung sei „eine Schande für das Ruhrgebiet“, die „Metropole hätte sich blamiert“. Ein alternativer Austragungsort ist für 2009 nicht vorgesehen. Heute wird Scholz für ihre damalige Chuzpe gefeiert.

19. Januar 2009 Trotz fieberhafter Suche der politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen im Ruhrgebiet wird kein alternativer Austragungsort gefunden. Auch die Autobahn 40, die schon in Dortmund genutzt wurde, sei laut dem Veranstalter „lopavent“ keine Alternative. Sie sei in Bochum zu weit von der Innenstadt und dem Bahnhof entfernt. Wie immer drängt Lopavent darauf, im direkt durch das Zentrum zu ziehen, wie es später auch in Duisburg sein wird.

6. Februar 2009 Nach dem Aus für die Loveparade in Bochum kommen Zweifel für die Veranstaltung im Kulturhauptstadtjahr 2010 in Duisburg auf. Bislang sei keine geeignete Strecke für das Großfest der Techno-Fans gefunden, sagt Duisburgs Stadtsprecher Frank Kopatschek. „Wir warten jetzt auf einen Antrag der Veranstalter“, sagte Kopatschek.

8. Februar 2009 Die traditionell konkurrierenden Ruhrgebietsstädte wetteifern um die Loveparade. Ein Wettlauf der Zugeständnisse an die Veranstalter beginnt. Sollte die weltgrößte Tanzveranstaltung in Duisburg 2010 aus Sicherheits- und Platzgründen nicht stattfinden können, sei ein erneutes Gastspiel im benachbarten Essen denkbar, so der Stadtdirektor Christian Hülsmann.“ Er betont: „Die Loveparade ist keine Katzenkirmes. Das ist ein Riesenaufwand und erfordert zudem hohe Investitionen im mittleren sechsstelligen Bereich.“ Allerdings müsse man schon allein im Hinblick auf das Kulturhauptstadtjahr um die Parade kämpfen. Ansonsten wäre es sehr schlechte Werbung für das Ruhrgebiet.“ Eine Sprecherin der „Wirtschaftsförderung metropoleruhr GmbH“ sekundiert: „Das Ruhrgebiet braucht solche weltweit wahrgenommenen Veranstaltungen, um sein Image als offener und toleranter Lebensraum zu festigen.“

9. Februar 2009 Kritiker der Loveparade werden eingeschüchtert. Der Duisburger Bundestagsabgeordnete Thomas Mahlberg fordert in einem Brief an den damaligen NRW-Innenminister Ingo Wolf die Absetzung des Duisburger Polizeichefs Rolf Cebin. Dieser hatte wenige Tage zuvor geäußert, „eklatante Sicherheitsmängel“ stünden dem Ereignis in Duisburg entgegen. „Dies veranlasst mich zu der Bitte, Duisburg von einer schweren Bürde zu befreien und den personellen Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg zu wagen“, heißt es in Mahlbergs Brief. Er ist noch heute auf der Homepage der Duisburger CDU zu finden. Cebin ist im Frühjahr pensioniert und sein Stellvertreter Detlef von Schmeling wurde für die Loveparade verantwortlich.

10. Februar 2009 Hinter den Kulissen haben sich die Städte darauf geeinigt, doch Duisburg den Vortritt zu lassen. Trotz „Platz- und Sicherheitsbedenken“ soll die Loveparade 2010 in Duisburg stattfinden. Diese Meinung verträten alle großen Ruhrgebietsstädte, teilt die Wirtschaftsfördergesellschaft Metropoleruhr mit. Der point of no return für Duisburg.

29. Oktober 2009 Die Veranstalter der Loveparade geben ihr „Go“ für das Technospektakel in der Stadt am Rhein gegeben. Sie haben sich das Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs ausgesucht. Bisher ist auf dem Brachland nahe der Innenstadt nicht viel außer grünem Gestrüpp. Überwachsene Schienen, eine alte Bahnhofshalle – das noch unbebaute Land ist der einzige freie Fleck, der den Veranstaltern zentrumsnah genug ist. Für die Loveparade muss das Gelände noch gerodet werden. Die Organisatoren arbeiten angeblich schon am Konzept und an den Streckenplänen. Anfang 2010 wollen sie Planungsdetails bekanntgeben. Dazu wird es nicht kommen, detaillierte Pläne wurden der Öffentlichkeit nie vorgestellt

15. Dezember 2009 Der Kulturausschuss wird per Power-Point-Präsentation über den Stand der Planungen für die Loveparade informiert. Die Präsentation bleibt oberflächlich. „Anhand einer Folie wurde dargestellt, dass viele Bahnlinien über Duisburg führen und damit eine gute Erreichbarkeit Duisburgs gegeben sei“, heißt es zum Beispiel im Protokoll der Sitzung. Es werde mit einer Millionen Gäste gerechnet. Die CDU-Fraktion betont, es käme Geld nach Duisburg – allein der Veranstalter würde mit mehreren hundert Leuten ja einige Tage in der Stadt übernachten müssen. Am Rande geäußerte Zweifel an den Einnahmen werden von der CDU-Ratsfraktion weggewischt.

Dezember 2009 Der Nothaushalt von Duisburg wird zum größten Hindernis für die Loveparade. Die bankrotte Stadt darf nur noch Geld für Pflichtaufgaben wie Kindergärten ausgeben, freiwillige Projekte muss sie genehmigen lassen. Die Bezirksregierung Düsseldorf als oberste Finanzaufsicht teilt der Rheinkommune in „informellen Gesprächen“ mit, dass die Stadt kein Geld für die Loveparade ausgeben darf, so Sprecher Bernd Hamacher. Dennoch schafft die Stadt Fakten: Nach Aussagen von Sprecher Frank Koptaschek werden zeitgleich Arbeitsgruppen mit Vertretern der Feuerwehr, Polizei, Ordnungsamt und Veranstalter gebildet, die in einem festen Turnus tagen sollen.

21. Januar 2010 In einer Ratssitzung stellt OB Sauerland in wenigen Minuten die vagen Planungen für die Loveparade vor. Insgesamt stehen mehr als 90 Punkte auf der Tagesordnung, einer davon ist das Großereignis. Die Opposition zweifelt. So sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Mettler laut einem schriftlich vorliegendem Protokoll: „Die Beschreibungen zu dieser Veranstaltung haben mich sehr erschrocken. Ich frage mich, wie die Risiken beherrscht werden sollen.“ Mettler sagte, es seien viele Fragen ungeklärt. „Wenn man viele junge Menschen nach Duisburg einlädt, dann muss ein reibungsloser Ablauf allein aus Sicherheitsgründen garantiert werden“, so der Sozialdemokrat damals. Worte, die heute fast prophetisch klingen. Doch der Duisburger Rat ist mehrheitlich den Verheißungen der Kulturhauptstadt erlegen. In derselben Sitzung äußert sich ein FDPler, Duisburg könne es sich aus „Imagegründen kaum leisten, die Loveparade abzusagen. Das würde insbesondere im Kulturhauptstadtjahr sehr schlecht in der Außendarstellung wirken.“

28. Januar 2010 In den Medien wird Druck aufgebaut, die Loveparade unbedingt statt finden zu lassen. Via der Monopol-Zeitung im Revier WAZ warnt Dortmunds Kämmerer und Kulturdezernent Jörg Stüdemann vor einem „riesigen Imageschaden für das Ruhrgebiet“, falls die in Duisburg geplante Loveparade wegen der hohen Verschuldung der Stadt ausfallen sollte. Auch Kommentatoren im WDR, der gleichzeitig Kooperationspartner der Kulturhauptstadt 2010 ist, erhöhen den Druck, die Veranstaltung statt finden zu lassen. Der künstlerische Direktor der Kulturhauptstadt 2010, Dieter Gorny, sagt: „Es gibt keine bessere Gelegenheit, sich international zu blamieren, als wenn man diese Chance verpasst. Eine richtige Metropole kann das stemmen.“ Auch die heutige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) forderte damals, diese „Stück Jugendkultur“ nicht sterben zu lassen. „Oberstes Ziel für NRW ist: Die Loveparade gehört ins Ruhrgebiet“, so die SPD-Landesvorsitzende

29. Januar 2010 Die Loveparade wird politisches Streitobjekt in Düsseldorf. Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland sucht bei der Landesregierung finanzielle Unterstützung für seine Loveparade. Der Christdemokrat stößt beim damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) auf offene Ohren. Ein erster offizieller Gesprächstermin zwischen Bezirksregierung, Innenministerium und Stadt wird aber aus „Termingründen“ verschoben. Hintergrund ist ein Zerwürfnis des damaligen Innenministers Ingo Wolf (FDP) mit Rüttgers. Der Liberale fordert klamme Kommunen generell zum sparen auf und will für die Stahlstadt keine Ausnahme machen

3. Februar 2010 Der Veranstalter Lovapent stellt erstmals einen offiziellen Antrag bei der Stadt, die Loveparade auf dem alten Bahngelände durchführen zu können

4. Februar 2010 Die Zahlentrickserei beginnt. Sauerland und die CDU suchen Finanzquellen. Raver und Unternehmen sollen jetzt die Finanzierung der Loveparade in Duisburg sichern. Die Duisburg Marketing GmbH hat einen Rettungsfonds eingerichtet, damit der Liebeszug nicht an den klammen städtischen Kassen scheitert. Später sollen darin rund 100 000 Euro eingehen. Offiziell. Denn in Wahrheit sind mehr als die Hälfte davon nicht näher spezifizierte „Sachspenden“ oder Geld, das durch Fanartikel wie T-Shirts erst noch verdient werden muss

8. Februar 2010 In Briefen, im Internet und öffentlich kritisieren Bürger die Loveparade. Denn der Rat verkündet zeitgleich eine lange Sparliste für die ärmsten und jüngsten der Stadt – so wird bei Jugendzentren, der Prostituiertenhilfe und dem Sozialticket für den Nahverkehr gespart. Der evangelische Pfarrer Friedrich Brand aus Duisburg fordert in einem offenen Brief an die Stadt, die Loveparade abzusagen. „Die Stadt soll auf eine überflüssige Party verzichten die zu nichts anderem dient als einem zweifelhaften Imagegewinn der Stadt.“

9. Februar 2010 Gegen die kritischen Bürger wendet sich sofort die Phalanx der Kulturhauptstadt. Ihr Chef Fritz Pleitgen sagt, es müssten „alle Anstrengungen unternommen werden, um dieses Fest der Szenekultur auf die Beine zu stellen.“

Am selben Tag lehnt der Chef der Bezirksregierung Düsseldorf, Jürgen Büssow, offiziell die Planungen für die Loveparade ab. Der Kommunalaufseher muss die Ausgaben der Kommune genehmigen, die im Nothaushalt steckt und in den kommenden Jahren 160 Millionen Euro einsparen muss. Knapp eine Millionen für ein Spaß-Event seien da nicht drin.

20. Februar 2010 Der Rat tagt an einem Samstag in einer Sondersitzung von 8 Uhr morgens bis 8.42 Uhr. Wieder geht es nur um Finanzen. Es fehlen drei Christdemokraten, 70 Ratsherren- und frauen von CDU, SPD; Grüne, der Linken und der Wählergemeinschaft stimmen ohne Ausnahme für folgenden Antrag: „Der Rat der Stadt begrüßt die Durchführung der Loveparade in Duisburg. Die aktuelle Haushaltslage erlaubt keine Haushaltsbeteiligung an den entstehenden Kosten, daher konkretisiert der Rat der Stadt seinen Beschluss vom 11.06.2007 um folgende Festlegungen: Erstens dürfen für die Loveparade keine Haushaltsmittel der Stadt eingesetzt werden. In der kurzen Sitzung fragt niemand nach der Organisation.

25. März 2010 Laut Teilnehmern soll es an diesem Donnerstag zu einem Treffen im Innenministerium mit OB Sauerland und Regierunsgvertretern gekommen sein. Wieder geht es u die Finanzierung. Die Beteiligten wollen die Loveparade unbedingt – es geht nur darum, wie es trotz der strengen Auflagen für bankrotte Städte genehmigt werden kann

30. März 2010 Die Stadt Duisburg beantragt beim NRW-Verkehrsministerium, was schon lange in Hinterzimmern ausgekungelt wurde: Die Stadt Duisburg will 150 000 Euro für den Verkehrsverbund Rhein Ruhr (VRR), um die erforderlichen Sonderbusse zu finanzieren. Die Deutsche Bahn stellt ihre Anträge erst Anfang Juni, erhält das Okay dann wenig später. Begründet wird dies laut der Sprecherin Heike Dongowski des nach der Landtagswahl im Mai neu besetzten Ministeriums mit dem öffentlichen Transportauftrag. Dies sei üblich bei Großveranstaltung. Finanziert wird das Ganze nach dem ÖPNV-Gesetz aus dem Programm Service und Sicherheit. Allerdings ist die Summe, insgesamt werden 450 000 Euro an Bahn und VRR fließen, ungewöhnlich hoch.

14. April 2010 Das Innenministerium genehmigt auf Druck der Landesspitze die öffentlichen Aufgaben der Stadt Duisburg. Übermittler der Nachricht ist offiziell die Bezirksregierung Düsseldorf, die Duisburg mitteilt es gebe „keine haushaltsrechtlichen Bedenken“ mehr. Laut dem Sprecher Hamacher gibt das NRW-Verkehrsministerium insgesamt 450 000 Euro, die Firma des Veranstalter, Mc Fit, investiert 105 000 Euro und zwei Sponsoren insgesamt 100 000. Durch Merchandising, also dem Verkauf von Fan-Artikeln, sollen geschätzte 185 000 Euro zusammen kommen. Werden es weniger, bürgt die Staatskanzlei mit 100 000.

26. April 2010 Erst knapp zwei Wochen nach der grundsätzlichen Genehmigung erteilt erst das NRW-Verkehrsministerium sein offizielles Okay für die massive Förderung von Nahverkehr und Bahn. Offenbar hat das Innenministerium schon vor dem offiziellen Ja der Förderung seine Bewilligung erteilt.

1. Juni 2010 OB Sauerland antwortet auf eine Anfrage der Linkspartei zum Verkehrskonzept vom April. Sie thematisiert schon klar den problematischen Zugang zum Gelände. „Die Nähe des Hauptbahnhofes zum Veranstaltungsgelände stellt ein besonderes Problem dar“, heißt es in der Mitteilungsvorlage. Der Veranstalter – die Firma lopavent GmbH – habe bereits ein Konzept zur umfangreichen Sicherung des Veranstaltungsgeländes zu den Bahngleisen vorgelegt.Dieses Konzept wiederum wurde den Ratsherren nicht vorgestellt. Gefragt danach haben sie aber auch nicht.

Juni 2010 Mitarbeiter des Ordnungsamtes werden nach Informationen aus dem Innenministerium und dem Rat der Stadt Duisburg systematisch von der Stadtspitze unter Druck gesetzt, Bedenken in den Wind zu schlagen und die erforderlichen Genehmigungen zu erteilen. Parierte ein Mitarbeiter nicht, wurde die Vorlage umstandslos an einen zweiten gegeben, der sie dann unterschrieb. „Sie wurden gezwungen, alles abzunicken“, so ein Ratsmitglied.

18. Juni 2010 In der Sitzung einer Arbeitsgruppe von Feuerwehr, Ordnungsamt, Veranstalter Lopavent und dem Ordnungsdezernenten Wolfgang Rabe kommt es zu einem Eklat: Veranstalter Lopavent weigert sich, den vom Ordnungsamt geforderten Fluchtweg von 440 Metern zu organisieren. Laut einem Protokoll hat Ordnungsdezernent Wolfgang Rabe Druck ausgeübt. „Der OB wünscht die Veranstaltung und hierfür muss eine Lösung gefunden werden.“ Der Baudezernatsleiter Jürgen Dressler kommentierte das Schreiben handschriftlich: „Dieses entspricht in keinerlei Hinsicht einem ordentlichen Verwaltungshandeln und einer sachgerechten Projektstellung.“ Reagiert hat darauf niemand.

5. Juli 2010 Der Rat beschließt für die Loveparade die Änderung zweier Satzungen: Die Sperrstunde wird für den Veranstaltungstag aufgehoben. Die Gewerberechtsverordnung wird dahingehend geändert, dass Geschäfte keine Glasflaschen an dem Tag der Loveparade verkaufen dürfen. Das Sicherheitskonzept wird nicht thematisiert. „Damit waren 6000 Mann in der Verwaltung beschäftigt, auf die haben wir uns verlassen“, sagt dazu SPD-Geschäftsführer Uwe Linsen

Juli 2010 Unter Hochdruck arbeiten Polizei, Feuerwehr, Veranstalter und Ordnungsamt an den Plänen für den Tag X. Nach Informationen aus Teilnehmerkreisen soll es dabei viele Debatten um die richtige Wegführung auf dem Gelände gegeben haben. Allen Beteiligten ist klar, dass der nur 25 Meter breite Tunnel ein „neuralgischer Punkt“ der Veranstaltung sein wird.

22. Juli 2010 Bundesweite und regionale Medien drucken Sonderseiten über das „größte Spaßevent“ in Deutschland. Im Jugendsenderr 1-Live laufen tagelang Sondersendungen, der eigen Wagen wird beworben. Die regionalen Zeitungen NRZ und WAZ kommentieren die Loveparade „als Glücksfall“ für die gesamte Region

23. Juli 2010 Der erst vor wenigen Tagen ins Amt berufene NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) gibt eine Jubelmeldung 24 Stunden vor der Loveparade heraus. „Alle sind hoch motiviert und haben sich professionell vorbereitet“, sagt der Duisburger in einer Pressemitteilung. Einen Tag nach dem Unglück löschte das Innenministerium die Meldung, angeblich aus „Pietätsgründen“, so der Sprecher von Jäger. Der Innenminister kenne das Konzept für den Polizeieinsatz, aber für das Sicherheitskonzept auf dem privaten Gelände seien die Stadt und der Veranstalter verantwortlich. Montag ist die Meldung dann wieder online. Die Suche nach den Verantwortlichen beginnt.

Die absehbare Katastrophe

"Mitarbeiter wurden massiv unter Druck gesetzt"

Es war nicht eine einzelne Fehlentscheidung oder eine einzelne Person, die das tragische Unglück auf der Duisburger Loveparade zu verantworten hat. Die gesamte Stadt, der gesamte Rat war seit Monaten gefangen in dem unbedingten Willen, das Event statt finden zu lassen. Nur wenige hatten Bedenken – und haben diese geschluckt. Eine Chronologie der Tragödie

Es blieben nur noch wenige Tage für die dringend benötigte Unterschrift, und der Mitarbeiter des Duisburger Ordnungsamtes fühlte sich sehr unwohl. Er sollte eine baurechtliche Genehmigung für den Umbau des alten Güterbahnhofes in Duisburg erteilen, damit dort plangemäß die Loveparade statt finden kann. Schon seit einigen Tagen liegt die Vorlage auf seinem Schreibtisch, aber ihm erscheint das gesamte Projekt waghalsig, das Gelände zu klein. Doch der Druck von der Stadtspitze unter Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) ist groß. Das Projekt darf nicht platzen, sagt sein Chef mehrfach. Am Ende unterschreibt er, die Loveparade wird stattfinden.

Wahrscheinlich hatte dieser Mitarbeiter nur einen kleinen Anteil an der Reihe von Fehlentscheidungen, die am Ende 20 Menschen das Leben gekostet und hunderte Verletzte nach sich zogen. Nach Informationen der Frankfurter Rundschau aus Kreisen des NRW-Innenministeriums und aus dem Rat der Stadt wurden Mitarbeiter des Ordnungsamtes systematisch unter Druck gesetzt, Bedenken in den Wind zu schlagen und die erforderlichen Genehmigungen zu erteilen. Parierte ein Mitarbeiter nicht, wurde die Vorlage umstandslos an einen zweiten gegeben, der sie dann unterschrieb. „Sie wurden gezwungen, alles abzunicken“, so ein Ratsmitglied.

Nicht nur einzelne Mitarbeiter des Amtes mussten ihre Bedenken schlucken. Auch Polizisten und Feuerwehrleute melden sich nun zu Wort, die gewarnt haben wollen. „Ich habe vor einem Jahr Duisburg als ungeeignet für die Loveparade abgelehnt und bin dafür als Spaßverderber und Sicherheitsfanatiker beschimpft worden“, sagte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizei-Gewerkschaft, Rainer Wendt. Der NRW-Landeschef ergänzt: „Polizei und Feuerwehr haben viel Erfahrung mit Großveranstaltungen. Praktisch nichts davon wurde umgesetzt.“

Vielleicht fehlte Duisburg einfach das Geld, den alten Güterbahnhof als Veranstaltungsort entsprechend umzubauen. Mehr als 160 Millionen Euro muss die Stadt einsparen, sie hat den Etat für Jugendprojekte und Prostituiertenberatung und Nahverkehr gekürzt und kein Geld mehr. Aber sie will mitsingen im Chor des Ruhrgebiets. Nachdem die Loveparade in Berlin gestorben ist, brüstet sich das gesamte Revier damit, die Zukunft für die Millionen Raver zu sein. Auch in Duisburg sprechen sich schon 2007 beinahe alle Fraktionen grundsätzlich für die Loveparade aus, die Linken enthalten sich. Im Juli 2007 schließt die Stadt mit dem Veranstalter Lopavent einen Rahmenvertrag. Darin enthalten ist in Paragraph 1 auch noch eine Ausstiegsklausel: „Sollte für die noch offenen Parameter in der Stadt keine geeignete Lösung gefunden werden, werden die Veranstalterin und die Partner gemeinsam nach einer Alternativlösung für die Durchführung der Loveparade suchen.“

Davon Gebrauch gemacht wurde bekanntlich nicht. Ende des Jahres 2009 beruft die Stadt laut einem Sprechers der Stadt Duisburg vier Arbeitsgruppen ein, die jeweils „mehrfach getagt“ hätten, so Frank Koptaschek. Der Sprecher räumt gegenüber dieser Zeitung auch ein: „Es hat immer Diskussionen darüber gegeben, ob Duisburg ein so großes Ereignis braucht und auch stemmen kann.“ Mehr möchte Kopatschek aufgrund der „laufenden Ermittlungen“ nicht sagen.

Immer wieder fordern verschiedene Fraktionen im Rat, die finanzielle Machbarkeit zu überprüfen. Rund eine Millionen Euro soll das Spektakel nach den Erfahrungen in Essen und Dortmund kosten, obwohl es 2007 hieß, die Stadt müsse nicht zuzahlen. Eine Lösung bleibt die Stadt zunächst schuldig. Oberbürgermeister Sauerland ist zwischenzeitlich auf der Suche nach Geld in Düsseldorf. Sauerland steht selbst unter Druck. Die Macher der Kulturhauptstadt 2010 werben für die Loveparade als eines der Highlights des Jahres. Schon andere Projekte wurden mangels Geld in der klammen Kohleregion wieder abgesagt, die Loveparade soll stehen. Und Sauerland ist dafür verantwortlich. Am Ende wird er in Düsseldorf fündig. Auch sein Parteifreund und damaliger Ministerpräsident Jürgen Rüttgers will über den Kulturetat Geld beisteuern. In einer Sondersitzung zur Finanzierung der Loveparade am 20 Februar, einem Samstagmorgen um 8 Uhr, informiert er den Rat dürftig über die Finanzierung. Kritik gibt es dennoch regelmäßig. So sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Mettler in einer Sitzung am 21. Januar diesen Jahres laut einem schriftlich vorliegendem Protokoll: „Die Beschreibungen zu dieser Veranstaltung haben mich sehr erschrocken. Ich frage mich, wie die Risiken beherrscht werden sollen.“ Mettler sagte, es seien viele Fragen ungeklärt. „Wenn man viele junge Menschen nach Duisburg einlädt, dann muss ein reibungsloser Ablauf allein aus Sicherheitsgründen garantiert werden“, so der Sozialdemokrat damals. Worte, die heute fast prophetisch klingen. Doch der Duisburger Rat war mehrheitlich den Verheißungen der Kulturhauptstadt erlegen. In derselben Sitzung äußert sich ein FDPler, Duisburg könne es sich aus „Imagegründen kaum leisten, die Loveparade abzusagen. Das würde insbesondere im Kulturhauptstadtjahr sehr schlecht in der Außendarstellung wirken.“

Sie alle hatten das Bochumer Beispiel vor Augen. Die 50 Kilometer östlich liegende Stadt hatte im Frühjahr 2009 die Loveparade kurzfristig abgesagt, weil die „Infrastruktur nicht geeignet ist.“ Dafür wurde die Opel-Stadt damals mit Häme überschüttet und als Provinz-Dorf beschimpft. Das wollten die Duisburger vermeiden, obwohl auch ihre Infrastruktur nicht als geeignet galt.

„Der Rat wurde systematisch im Dunkeln gelassen“, sagt der Duisburger Fraktionschef der Linken Hermann Dierckes der Frankfurter Rundschau. Die Linke hatte schon im April einen Antrag gestellt, das Verkehrskonzept für die Loveparade zu veröffentlichen. Am 1. Juni erteilt Sauerland eine Antwort, die das Problem des Zugangs zum Gelände schon klar thematisiert. „Die Nähe des Hauptbahnhofes zum Veranstaltungsgelände stellt ein besonderes Problem dar“, heißt es in der Mitteilungsvorlage. Der Veranstalter – die Firma lopavent GmbH – habe bereits ein Konzept zur umfangreichen Sicherung des Veranstaltungsgeländes zu den Bahngleisen vorgelegt. Dieses Konzept wiederum wurde den Ratsherren nicht vorgestellt. Gefragt danach haben sie aber auch nicht.

„Mit einem Konzept sind Menschenmassen gut zu kontrollieren“

"Wenn die Panik ausbricht, ist es zu spät"- Biologe Krause

Biologe Jens Krause von der Humboldt-Universität zu Berlin forscht darüber, wie Menschenmengen gesteuert werden können, zum Beispiel für eine Evakuierung bei einem Brand. Seine These: Ausreichend platzierte und geschickt agierende Ordner hätten die Loveparade leiten und Paniken verhindern können.

Herr Krause, Sie erforschen das Verhalten von Menschenmassen. Sind so große Veranstaltungen wie die Loveparade mit Millionen von Teilnehmern überhaupt zu kontrollieren?

Jens Krause: Mit dem richtigen Konzept sind auch Millionen Menschen gut zu kontrollieren. Wenn der Veranstalter weiß, wo sie sich lang bewegen und wo es möglicherweise eng wird, ist das sogar sehr gut zu regulieren. Aber die Organisatoren müssen auf den Ansturm vorbereitet sein. Niemand kann hoffen, wenn die Massenpanik oder Enge auftritt noch reagieren zu können. Dann ist es zu spät.

Wie kommt es denn, dass Personengruppen von einer Minute auf die andere so unkontrollierbar werden wie auf der Duisburger Loveparade?

Meist baut sich das Unglück langsam auf. Wenn sich große Menschenmengen bewegen und an bestimmten Stellen wie hier in einem Tunnel verdichtet werden wie in einem Flaschenhals, dann verliert der einzelne die Kontrolle. Zuerst werden die Bewegungen immer langsamer und wie im Straßenverkehr setzt dann ein Stop- and-Go ein. Dann wird es dichter und dichter, manchmal stehen sieben bis zehn Menschen auf einem Quadratmeter. Die Menschen werden an die Tunnelwand gedrückt, wollen fliehen oder sie fallen und kommen nicht mehr hoch.

Werden Menschen in der Panik dann egoistisch und helfen dem an Boden liegenden zum Beispiel nicht mehr auf?

Nein, sie können nicht helfen. In einer so dichten Menschenmenge können sie nicht mehr gezielt handeln, sie sind in einer Druckwelle gefangen. Sie wollen raus und verschlimmern es meistens noch, in dem sie anfangen zu drücken und zu schieben. Dadurch wirken enorme Kräfte. Es treten Turbulenzen wie im Wasser auf, die Leute werden wie Wellen hin- und hergeschoben. Keiner will das, aber niemand kann das stoppen.

Das klingt wie eine ausweglose Situation. Können denn die Ordner nicht eingreifen?

Wenn sich einmal dieser Druck aufgebaut hat kann auch das Sicherheitspersonal nicht mehr reagieren. Sie müssen von Anfang an die Gruppe unter Kontrolle haben. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass sie fünf bis zehn Prozent Personen brauchen, um eine Menge zu kontrollieren. Sie können 200 Menschen mit zehn Personen in die richtige Richtung leiten, zum Beispiel zum Notausgang. Dafür müssen diese Ordner nicht gestikulieren oder über das Megaphon sprechen, sie müssen nicht einmal eine Uniform tragen. Sie müssen sich einfach nur deutlich und zielgerichtet bewegen, alle anderen kopieren sie dann. Wir bezeichnen das als Schwarmintelligenz.

Umgerechnet auf die Loveparade hätten dann ja 100 000 Ordner da sein müssen, das ist doch unmöglich.

Sie müssen ja nicht die ganze Menge beeinflussen, sondern ihr vor allem am Anfang den richtigen Impuls geben. Diese Anzahl brauchen sie dann an den gefährlichen Stellen, wie an diesem Tunnel. Dort müssen sich Sicherheitsleute strategisch positionieren, nicht nur am Rand, sondern auch in der Mitte der Menge und die anderen anleiten. Gerade in Gruppen neigen Menschen dazu, Personenzu folgen, die offenbar Ortskenntnisse haben.

Als die Panik einmal ausgebrochen war, was hätte dann getan werden müssen?

Sie müssen sofort den Druck verringern, in dem die gedrängte Menge sich auflösen kann. Sie müssen nach hinten sperren und Seitenausgänge schaffen. In Mekka haben sie nach dem großen Unglück von 2006 Videokameras installiert, die die Dichte der Menschenmasse misst und das Stop – and Go-Phänomen beobachtet. Wenn es brenzlig wird, werden die Eingänge verschlossen und Ausgänge geöffnet. Das funktioniert ganz hervorragend.

Verhalten sich denn Pilger von Mekka genauso wie die jungen Techno-Raver?

In so großen Mengen werden individuelle Unterschiede unwichtig. Alle unsere Tests zeigen, dass sich Menschen in Massen gleich verhalten, egal ob sie 18 oder 80 sind. Wenn die Raver viele Drogen konsumieren, sind sie möglicherweise desorientierter. Aber das spielt auch nur eine geringe Rolle. Der Einzelne kann in der Masse ohnehin nicht rational entscheiden.

Innenminister löscht Loveparade-Meldung

NRW Innenminister Ralf Jäger
NRW Innenminister Ralf Jäger

Einen Tag nach der Katastrophe will der Innenminister nicht mehr ganz so genau gewusst haben, wie die Millionen Raver gesichert werden sollen. Eine am Freitag verbreitete offizielle Pressemitteilung von Innenminister Ralf Jäger (SPD) unter dem Titel „Feuerwehr, Hilfsorganisationen und Polizei professionell auf Love-Parade vorbereitet“ wurde von der Homepage der Landesregierung genommen. Am Sonntagnachmittag war zunächst noch die Überschrift zu lesen, die dahinter liegende Seite konnte „nicht gefunden werden.“ Inzwischen fehlt selbst die Überschrift. „Aus Pietätsgründen“ sei die Meldung von der Seite genommen werden, wie ein Sprecher des Innenministeriums sagt. Hier ist sie noch zu finden.

Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Innenminister Jäger über die Details der Planungen nicht informiert gewesen ist. Die Hauptverantwortlichen sitzen wahrscheinlich an anderer Stelle. Nichtsdestotrotz wäre dies ein Anlass, über die Flut an offenbar substanzlosen PR-Meldungen nachzudenken. Seine eigene Meldung könnte Jäger nun in den kommenden Tagen Probleme bereiten. Am potentiellen Erfolg der Veranstaltung wollte der Sozialdemokrat offenbar teil haben. „Alle sind hoch motiviert und haben sich professionell vorbereitet“, hieß es in der inzwischen gelöschten Pressemitteilung. „Wir sind in der Lage, schnell zu helfen und den bestmöglichen Schutz für die Menschen zu gewährleisten“, stellte Jäger dort fest. Tatsächlich hatte der Duisburger offenbar nur Kenntnisse vom Sicherheitskonzept der Polizei. „Für das Sicherheitskonzept auf dem privaten Gelände sind die Stadt und der Veranstalter verantwortlich,“ so ein Sprecher von Jäger. Am heutigen Sonntag wollte sich Jäger übrigens nicht mehr äußern und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abwarten.

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Bahn bangt um Nahverkehr

lukrativer als viele ICE: Der Nahverkehr

Ein Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf zwingt die Nahverkehrsbetreiber in Deutschland, ihre Strecken künftig vermehrt öffentlich auszuschreiben. Konkret ging es um einen Vertrag zwischen der Bahn und dem nordrhein-westfälischen ÖPNV-Riesen VRR, der nun für ungültig erklärt wurde. Weil dieses Urteil vom späten Mittwochnachmittag einem anderen Urteil des OLG Brandenburg widerspricht, wird nun der Bundesgerichtshof das letzte Wort sprechen.

Mit der Düsseldorfer Entscheidung nimmt ein alter Konflikt zwischen dem VRR und dem Konzern eine überraschende Wende. Schon im Juni 2008 hatte der Verbund Verträge über 18 000 Zugkilometer in Nordrhein-Westfalen fristlos gekündigt. Die Strecken, fast die Hälfte aller nordrhein-westfälischen Gleiswege, sollten zukünftig frei ausgeschrieben werden. Die Züge führen zu spät, sie seien zu dreckig und nur wenig Servicepersonal stehe den Fahrgästen zur Seite, führte der VRR zur Begründung an. Nach einem weiteren Gerichtsurteil einigten sich die beiden Konzerne dann darauf, dass die Bahn auf einen Teil ihrer Forderungen verzichtete und der VRR den ursprünglich bis 2018 laufenden Vertrag bis zum Jahr 2023 verlängert. Unter der Hand und ohne Ausschreibung. Dieser mühsam ausgehandelte Friedensvertrag zwischen den beiden staatlichen Großkonzernen ist nun hinfällig.

Zur Freude der privaten Anbieter. „Das Urteil ist ganz entscheidend für den fairen Wettbewerb auf der Schiene“, so Engelbert Recker, Geschäftsführer des Interessenverbandes der privaten Zuganbieter, „Mofair“ , zu dieser Zeitung. „Bisher wird noch viel zu viel zwischen der Bahn und den Verkehrsbetreibern gekungelt.“ Geklagt hätte bislang nur deswegen niemand, weil die meisten Firmen an anderer Stelle schon mit den Verkehrsverbünden im Geschäft seien. Diese würden dann nicht wagen, den potentiellen Auftraggeber vor Gericht zu zerren. Klagen dürfen aber nur diejenigen, die sich um ein konkretes Geschäft betrogen fühlen und nicht etwa ein Verband wie Mofair. „Wir erwarten, dass der Bundesgerichtshof das Urteil bestätigt und somit mehr Strecken ausgeschrieben werden.“

Dabei geht um viel Geld. Die Bundesländer vergeben die Aufträge für den Schienen-Nahverkehr an Verkehrsunternehmen wie die Deutsche Bahn oder deren Konkurrenten. Der Markt gilt als äußerst lukrativ: Jedes Jahr geben die Länder annähernd sieben Milliarden Euro für den Nah- und Pendlerverkehr aus. Die Sparte DB Regio ist daher seit Jahren die profitabelste im DB Konzern.

Die Sparte hat ihre größte Herausforderung aber noch vor sich: In den kommenden Jahren enden Verträge über rund die Hälfte der befahrenen Zugkilometer in Deutschland. „Jetzt versucht die DB alles, um ihre Marktanteile zu halten“, so Andreas Winter, Sprecher des größten privaten Anbieters Veolia-Verkehr. Meistens laufen die Verträge über so viele Jahre, dass diese Entscheidungen sehr weitreichend sind. „Wer jetzt viel abgreift vom großen Kuchen, hat die nächsten Jahre das Netz in der Hand“, prophezeit Winter. Bislang liegt der Anteil der privat betriebenen Strecken bei rund 20 Prozent.

Allerdings müssen die kleinen Nebenbuhler der Bahn sich zukünftig auch auf allen Ebenen messen lassen. Gewerkschaften kritisieren, dass die günstigen Angebote der Privatanbieter mitunter durch niedrige Löhne erkauft würden und fordern einen Branchentarifvertrag. Dieser wiederum käme sogar den Bahnmitarbeitern zugute: Denn der Staatskonzern soll seine Mitarbeiter in Tochterfirmen ebenfalls schlechter bezahlen. Auch dies könnte zukünftig bei einer größeren Transparenz im Nahverkehr zutage treten.

Basis will Boss bestimmen

Wird er's oder wird er es nicht? Armin Laschet könnte CDU-Chef werden wollen

Die CDU-Basis in Nordrhein-Westfalen will ihren Chef selbst wählen: Zahlreiche Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete fordern in einer Mitteilung eine Mitgliederbefragung über den neuen Landesvorsitzenden. „Mit einer breit angelegten Diskussion über unsere Zukunft könnten wir die notwendige Aufbruchstimmung erzeugen“, sagt Patrick Sensburg, Bundestagsabgeordneter aus dem Hochsauerlandkreis. Jedes Mitglied müsse sein Votum für die neue Spitze der CDU NRW abgeben.

Bislang konnten die Mitglieder im bevölkerungsreichsten Bundesland nicht über ihre Spitze mitbestimmen. Doch nach der für viele überraschend hohen Wahlniederlage der CDU wollen sie nun mitsprechen. ZU Wochenbeginn hatte schon die CDU-Mittelstandsvereinigung eine Befragung gefordert. Darüber entscheiden wollte der Landesvorstand auf seiner Sitzung am späten Dienstagabend.

Klar ist aber, dass die Spitzenmänner der CDU gerade ihre Lebensläufe schreiben: Bis Ende August läuft die Bewerbungfrist für den Landesvorsitz.Weil der Wahlverlierer und bisherige Landeschef Jürgen Rüttgers sich im Herbst zurückzieht, soll sein Nachfolger voraussichtlich am 2. Oktober gewählt werden, so eine Sprecherin.

Während die Bundes-CDU reihenweise ihre Spitzenmänner verliert, wollen in Nordrhein-Westfalen gleich drei Männer um den Vorsitz konkurrieren. „Sie suchen gerade alle ihre Truppen zusammen“, heißt es aus der Landesspitze. Bundesumweltminister Norbert Röttgen, NRW-CDU-Generalsekretär Andreas Krautscheid und Ex-Integrationsminister Armin Laschet gelten als Anwärter für die Nachfolge von Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers.

Denn auch nach dem Machtverlust ist Nordrhein-Westfalen attraktiv für die christdemokratischen Alphamänner der Republik. Die Lebensdauer der neuen rot-grünen Minderheitsregierung ist noch nicht ausgemacht und Neuwahlen theoretisch möglich. Dann würde der Landesvorsitzende möglicherweise auch Spitzenkandidat. Und angesichts der geschwächten Berliner CDU-Riege wird diese Person sicherlich auch die Zukunft der Bundes-CDU mitbestimmen.

Der neue NRW-Fraktionschef Karl-Josef Laumann will es nicht werden. Der Bauerssohn und Gewerkschafter kämpft dafür, die verschiedenen Strömungen in der CDU wieder zusammen führen. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte er kürzlich offenherzig, er, Laumann spräche eher die Handwerker und ländlichen Typen an. Sein unterlegener Parteifreund Armin Laschet hingegen sei für die Intellektuellen interessanter.

Welche Strömung, die modernere oder aber die ländlich-konservativere, letztendlich die Oberhand behält ist längst nicht ausgemacht. Schon bei der Kampfkandidatur zwischen Laumann und Laschet hatten beide fast gleich viele Stimmen. Dieses bislang ungewöhnliche wettbewerbsstarke Procedere für den Fraktionssitz war bislang in der CDU ungewöhnlich. Allerdings musste sich auch Rüttgers 1999 erst gegen Christa Thoben und Helmut Linssen durchsetzen die beide später Minister in seinem Kabinett wurde.

Auf acht Regionalkonferenzen sollen sich die möglichen Kandidaten vorstellen und Bewerbungsreden halten. Sie alle stehen letztendlich für eine modernere, großstädtische CDU. Der 49-jährige Laschet gilt den Grünen zugewandt und hat erstmalig als CDUler offensiv Deutschland als Einwanderungsland bezeichnet. Der Berliner Import Norbert Röttgen könnte als Berlin-Import vielleicht den Unparteiischen spielen, nach dem sich ein von der überraschend hohen Wahlniederlage geschockter Landesverband sehnt. Und Krautscheid ist in der CDU gut vernetzt, allerdings in der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Zwischen diesen ähnlichen Typen könnte die Abstimmung sehr knapp ausfallen. Wenn nicht noch jemand aus der zweiten Reihe überraschend seine Kandidatur erklärt. Vielleicht auch eine Frau. Denn eine weibliche Kandidatin wurde bislang nicht erwähnt.

„Hannelore Kraft ist eine sympathische Person“

Westfale und Ur-CDUler Laumann

Karl-Josef Laumann ist ein freundlicher Mann mit großen Händen und einer beeindruckenden Traktorensammlung in seinem Arbeitszimmer. Er ist neuer Chef der 67-köpfigen CDU-Fraktion im Düsseldorfer Landtag. Der 53-Jährige wird die Opposition gegen Hannelore Krafts rot-grüne Minderheitsregierung anführen. Als Vorsitzender der CDA steht er für den Arbeitnehmerflügel der Partei, spricht sich zum Beispiel für allgemein verbindliche Tarif-Mindestlöhne aus. Der gelernte Maschinenschlosser aus dem Münsterland ist ein bodenständiger und unterhaltsamer Typ, der bei Mitarbeitern einen sehr guten Ruf genießt.

Herr Laumann, wie finden Sie die neue NRW-Landeschefin Hannelore Kraft persönlich?

Karl-Josef Laumann: Sie ist für mich eine ernst zu nehmende, sympathische Person. Und ich habe großen Respekt davor, wie sie der SPD in NRW den vergangenen Jahren wieder Leben eingehaucht hat.

Trotzdem hat ihre CDU-Fraktion nach Krafts kurzer Regierungserklärung nicht geklatscht – obwohl dies so üblich ist. Sind Sie sauer auf die Frau, die ihnen die Macht entrissen hat?

Wir waren vor allem wehmütig. Vor fünf Jahren saß ich noch freudestrahlend auf der Tribüne und habe mich über Rüttgers als neuen Ministerpräsidenten gefreut, dieses Mal durften wir nur zuschauen. Das war kein schöner Tag. Und natürlich ist es bitter für uns, dass unsere gute Arbeit nun beendet ist.

Was war das Gute an ihrer Arbeit?

Rot-Grün hat vor 2005 gestritten wie die Kesselflicker. Wir haben mit schwarz-gelb eine Harmonie-Ehe geführt und gute Reformen beschlossen, zum Beispiel für die Betreuung von Kleinkindern, für den Hochschulstandort und wir haben auch Blockaden im Handwerk gelöst, da wurden viele Ausbildungsplätze geschaffen.

In der Minderheitsregierung haben Sie ja auch als Opposition die Möglichkeit, Gesetze mit zu verabschieden. Werden Sie der Einladung von Hannelore Kraft folgen?

Rot-Grün ist dabei, unsere Dörfer abzubrennen. Sie wollen alles zurückdrehen, was wir in fünf Jahren erreicht haben, Kopfnoten und Studiengebühren sofort wieder abschaffen. Sie zerstören unser Werk und wollen dann Kaffee mit uns trinken. Das ist doch keine Einladung. Die CDU wird inhaltliche und personelle Alternativen zur Regierung entwickeln. Und wir werden die SPD einladen, unseren Alternativen zu folgen. Einladung ist keine Einbahnstraße.

Sie werden also keinem rot-grünen Gesetz zustimmen?

Frau Kraft will am Mittwoch mit den Linken die Studiengebühren abschaffen, am Donnerstag mit der FDP die Mittelstufe reformieren und am Freitag von uns das Ja zu einer Verwaltungsstrukturreform abholen. Das geht doch so nicht. Ich sehe nicht, das wir da irgendwo zusammen passen.

Während der Sondierungen zur Großen Koalition hat die CDU immer gesagt, es gebe viele Gemeinsamkeiten mit der SPD.

Das findet sich jetzt aber nicht im Koalitionsvertrag wieder. Wir hätten bestimmt gute Politik für die Kommunen machen können und auch einen Schulkompromiss gefunden. Aber dass die Linken für Kraft die schönere Braut waren schmerzt uns schon.

Wollen sie die eingezogene Partei die Linke jetzt jahrelang wie Aussätzige behandeln?

Diese Partei bleibt für mich indiskutabel. Mit Links-und Rechtsextremen arbeitet man nicht zusammen. Die CDU hat ihren Kasten nach rechts auch immer sauber gehalten, wir haben nie mit DVU oder Republikanern zusammen gearbeitet. Das darf die SPD auch mit den Linksradikalen nicht.

Rechtsradikale haben ein menschenverachtendes Parteiprogramm. Das von der Linken in NRW klingt wie ein Zusammenschluss aus Ideen von SPD und Grünen. Das ist doch nicht vergleichbar.

In der Linken sind immer noch viele, die die DDR verteidigen. Mit diesen Leuten ist keine Politik zu machen. Das regt mich persönlich einfach auf und das wird auch so bleiben.

Auch der Wähler hat eine linke Mehrheit bevorzugt. Was ist bei der CDU schief gelaufen?

Vieles. Diese so genannte Sponsoring-Affäre, die keine war, hat Jürgen Rüttgers extrem geschadet und aus der Bahn geworfen. Zweitens hat uns die Berliner Regierung unglaublich geschadet. Ich nehme es ihnen übel, dass sie streiten statt zu regieren. Aus meiner Sicht ist der Berliner Koalitionsvertrag so ungenau und unrealistisch formuliert, dass jetzt ständig gerungen werden muss. Das hätte bei den Koalitionsverhandlungen früher passieren müssen. Aber damals hat sich die Bundes-FDP auch mächtig überschätzt. Und wir schwitzen hier. Wir haben jetzt 330 000 Wähler verloren, die gar nicht mehr zur Wahl gegangen sind. Denen war die CDU schlichtweg gleichgültig. Die müssen wir wieder einfangen.

Sie kommen aus dem eher konservativen Münsterland. Glauben Sie, die CDU hat in NRW mit einem moderneren Programm ihre Stammwähler verschreckt?

Das ist immer der schwierige Spagat der CDU. Wir müssen die Großstädter und modernen Familien genauso ansprechen wie die Bauern auf dem Land. Die Leute wählen uns im stockschwarzen Bodensee und in Hamburg. Wir müssen das traditionelle Familienbild schützen und diejenigen, die anders leben, trotzdem nicht vor den Kopf stoßen.

Wo sehen Sie sich? Sind Sie der Gegenpart zu ihrem Parteifreund und Großstädter Armin Laschet, der bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden nur knapp unterlegen war?

Das ist doch alles Quatsch. Ich wurde 20 Jahre lang als links tituliert und im Vergleich mit Armin bin ich plötzlich konservativ. So groß sind unsere Unterschiede gar nicht und mit Verlaub, Armins Heimatstadt Aachen ist nun auch nicht die Metropole. Gleichwohl sprechen wir emotional vielleicht unterschiedliche Typen an – Armin eher den Intellektuellen und ich eher den Handwerker.

Wird ihnen Jürgen Rüttgers fehlen?

Ich freue mich, dass Jürgen Rüttgers Mitglied unserer Fraktion ist. Er wird uns helfen, wo er kann. Ich will sein Erbe bewahren. Die Partei war zehn Jahre lang auf seine Person zugeschnitten. Rüttgers hat dieser Partei erstmals in NRW den Willen zur Macht eingeimpft. Das möchte ich auch. Meine Fraktion soll Macht wollen. Wir Christdemokraten wollen hier wieder regieren.

Gleichstand im Düsseldorfer Kabinett

Das erste paritätisch besetzte Kabinett Deutschlands steht: Einschließlich der frisch gewählten NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft werden der rot grünen Minderheitsregierung sechs Frauen und sechs Männer angehören. „Ich bin sehr stolz auf diese Gleichberechtigung, auch das ist ein Politikwechsel“, sagte Kraft bei der Vorstellung ihrer Riege am Donnerstagmorgen. Auch Krafts Einzug in die gläserne Staatskanzlei direkt am Rhein ist ein Novum. Die Ölgemälde an den Wänden der Regierungszentrale zeigen dies. Sie zeigen Männer wie Johannes Rau und Wolfgang Clement, ein Bild von dem faktisch erst gestern entmachteten CDU-Landeschef Jürgen Rüttgers fehlt noch in der Galerie.

Bis zuletzt hatte Kraft die Namen der meisten Ministerinnen und Minister geheim gehalten. Viele der künftigen Ressortchefs sind Hausgewächse, wie zum Beispiel Thomas Kutschaty, einem 42-jährigen Juristen, der das schwierige Justizministerium übernehmen wird. Das traditionell wenig aufsehen erregende Ministerium avancierte in den vergangenen Jahren wegen zahlreicher Gefängnisausbrüche und Gewalt in den Zellen zur Achillesferse der schwarz-gelben Regierung.

Überraschend nominiert wurde Angelica Schwall-Düren, SPD-Bundestagsabgeordnete aus Münster. Die Vize-Fraktionschefin wird Berlin verlassen und für Europa und Medien zuständig sein und auch „die Stimme in Berlin sein“, sagte die vielsprachige 63-Jährige. Die dem konservativen Seeheimer Kreis zuzurechnende Politikerin hat es sicherlich eher mit einem unideologischen Kabinett zu tun, das nicht in Strömungen zu pressen ist. Schließlich hat sich auch Hannelore Kraft immer gegen das „links-rechts-Schema“ gewehrt.

Die weiteren Ministerinnen kennen rot-grüne Regierungszeiten noch aus alten Tagen – damals allerdings noch von dem Alphamännchen Wolfgang Clement angeleitet. Barbara Steffens zum Beispiel hat sich als grüne Landesvorsitzende kräftig mit der damaligen SPD gestritten. Die lange Zeit als Fundi geltende Technische Assistentin wird dem Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter vorstehen. Privat war sie ausgerechnet mit einem CDUler liiert – das schwarz-grüne Experiment scheiterte allerdings. Svenja Schulze wird als Wissenschaftsministerin die Studiengebühren wieder abschaffen. Sicherlich ein harter und auch bürokratischer Kampf mit den Universitäten, denen die millionenschweren Ausfälle allerdings sofort ersetzt werden sollen. Ähnliche Großaufgaben stehen dem Grünen Johannes Remmel vor: Ganz früher einmal war der Umweltexperte emanzipierter Hausmann und Familienvater, nun wird er der bundesweit erste Minister für Klimaschutz. Er wird in einem Land arbeiten, in dem rund ein Dutzend neue Kohlekraftwerke geplant sind.

Eine Minderheitsregierung stelle auch „besondere Herausforderungen an die Minister“, sagte sie. Sie setze in ihrem Kabinett auf eine „gute Mischung aus Erfahrung und politischem Nachwuchs“. Den neuen Chef der Staatskanzlei will die Ökonomin an diesem Freitag benennen.

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Noch mehr Frauen, bitte!

Mit Hannelore Kraft ist erstmals eine Frau zur Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen gewählt worden. Nach dem Monarchen Johannes Rau und den Egomanen Wolfgang Clement und Peer Steinbrück hoffe ich auf einen sachlicheren Politikstil. Und darauf, dass in Krafts Kabinett nicht nur wieder die alte Männer-Garde Platz nimmt. Neben der weiblichen Doppel-Spitze müssen auch auf die Regierungsbank mehr Frauen!

Ein Blick in die Landeshistorie zeigt, wie wichtig eine neue Politik wäre. Die grüne Vize-Landeschefin Sylvia Löhrmann kann sich gut an die alte NRW-Ära erinnern. „Früher gab es in der SPD Leute, die haben gestritten um des Streitens willen“, sagt sie. Die Zeit der Hahnenkämpfe sei nun zum Glück vorbei. „Zum ersten Mal sind wir mit der SPD auf Augenhöhe“, sagt sie begeistert. Löhrmann sitzt schon seit 15 Jahren im Düsseldorfer Landtag und hat Krafts Vorgänger Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück erlebt. Eine völlig andere Generation. Der inzwischen verstorbene und spätere Bundespräsident Johannes Rau regierte 15 Jahre lang als NRW-Ministerpräsident mit absoluter Mehrheit und hat anschließend die Grünen leidlich geduldet. Wolfgang Clement „hatte nur ein riesiges Ego“, sagt Löhrmann. Clement brachte Rot-Grün mit seinen Alleingängen regelmäßig an den Rand des Zusammenbruchs. Einmal reiste Clement nach China und durfte mit der Schwebebahn Transrapid fahren. Tags darauf wollte er das Milliardenprojekt in NRW bauen, mitten durch das dicht besiedelte Ruhrgebiet. Erst wurde das Wahnsinnsprojekt verschoben dann folgerichtig beerdigt. Nun wartet das Revier auf eine schnellere S-Bahn.

Wenige Monate später fuhr Clement nach Israel in ein Labor für Stammzellforschung. Sofort wollte das inzwischen aus der SPD ausgetretene Alphatier auch an Rhein und Ruhr diese umstrittene Genmanipulation erlauben. Clement fuhr wie ein kleines Kind durch die Welt und verlangte dann von seiner Regierung, die gesammelten Ideen umzusetzen. „Da wurden ständig Sachfragen zu Machtfragen hochgejazzt,“ sagt Löhrmann.

Die Grünen schauten damals fassungslos zu, zogen sich wütend in die Schmollecke zurück. Geredet wurde nicht mehr zwischen denn Politkern. Wenn die Grünen, damals noch angeführt von der Linken Bärbel Höhn, mit Clement auf einer Bühne waren, haben sie schon körperlich den größtmöglichen Abstand eingehalten. Selten sprachen sie mit einer Stimme. Löhrmann und Kraft hingegen treten so geschlossen und einstimmig vor die Mikrofone, als seien sie in der selben Partei. Das spart Energie für wichtigere Dinge.

Kraft for Kanzlerin?

Karriere ohne Bierzelt: Kraft

NRW erlebt den Wechsel. Nach nur fünf Jahren an der Macht muss die Regierung von Jürgen Rüttgers am Mittwoch einpacken. NRW wird wieder Rot-Grün. Was noch vor einem halben Jahr als undenkbar galt, tritt ein: Hannelore Kraft wird die erste Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen. Und viele Unken, Machomänner und Möchtegern-Genossenbosse müssen nun verstummen. Ich bin Wechselwählerin und sicherlich keine SPD-Hauspflanze. Aber würde ich die Partei beraten, sollte Kraft die Berliner SPD aufmischen.

Die SPD-Landeschefin hat Rüttgers im Stil einer strategischen Judoka auf die Matte geworfen. Er hatte sich verzockt und an seine Macht geklammert. Kraft ist eine Ausnahme im Männerwahlverein SPD, die sich immer noch an die durch diverse bierselige Kneipenabende hoch getrunkenen Genossen klammert. Kraft hatte keinen Bock auf die bündlerische Ochsentour und ist von jetzt auf gleich die vielleicht größte Hoffnungsträgerin der SPD. Wenn ihr rot-grünes Minderheitsexperiment funktioniert, wird Kraft auch in Berlin gebraucht. Vielleicht schon 2013 als erste Kanzlerkandidatin der deutschen SozialdemokratInnen. Schließlich ist hoffnungsfroher Nachwuchs bei den GenossInnen rar.

Es klingt undramatisch, aber Kraft ist tatsächlich durch die Dörfer getingelt und hat den bis dahin autokratisch regierten Genossen zugehört. Und wurde besser. Wirkte sie anfangs noch völlig übercoacht und hatte sich vor den Heckenschützen der eigenen Partei in den immer selben Sprech eingemauert, ist sie jetzt lockerer. Die Zeiten, als jeder Provinz-Bürgermeister sich als fähigeren Spitzenkandidaten einschätzte sind vorbei.

Schnell baute sie wieder gute Kontakte zu den Gewerkschaften auf, konzentrierte sich auf SPD-Kernforderungen (faire Arbeitsbedingungen, gebührenfreies Bildungssystem) und entkrampfte das jahrzehntelang verspannte und überhebliche SPD-Verhältnis zu den Grünen. Eine rot-rot-grüne Regierung hat sie zwar verhindert, ihre wenig großkotzige Art lässte es aber zu, dass die Linken sie nun trotzdem Ministerpräsidentin werden lassen. Nun muss sie beweisen, dass ihre Politik genaus ambitioniert sozial ist wie das Programm der Linken.

Was kann die Bundes-SPD nun von Kraft lernen?

1. Die große Koalition ist keine Alternative. Das hat Kraft durchdacht und selbst die anbiedernde CDU vor die Wand fahren lassen. Denn in einem Fünf-Parteien-System ist die CDU angesichts von drei Links- oder zumindest drei Mitte/Linksparteien strukturell fast immer die stärkste Partei. Als Juniorpartner aber bleibt die SPD blass und wird abgewählt.

2. Das Fünf-Parteien-System benötigt neue kreative Modelle, Politik zu machen. Wenn in NRW eine rot-grüne Minderheitsregierung versucht wird, ist das auch ein Test für den Bund. Zugleich justiert Kraft gemeinsam mit ihrer Vize-Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann von den Grünen auch das inner-rot-grüne Verhältnis neu. Voraussetzung dafür ist aber, dass Kraft ihre vollmundigen Wahlversprechen zügig umsetzt. Nie wieder darf die SPD nur im Wahlkampf die rote Fahne schwingen. Versprechungen wie ein gerechtes, menschenfreundliches und kostenloses Bildungssystem müssen verwirklichkt werden oder Kraft ist nicht besser als Egomanen wie ihr Vorgänger Wolfgang Clement.

3. Nie wieder darf sich die SPD als „neue Mitte“ (a la Bodo Hombach) für die Interessen der Kapitalbesitzer- und verwalter verdingen. Die Lehren aus dem Scheitern der Agenda 2010 und der industriefreundlichen alten NRW-SPD müssen unumkehrbar gezogen werden. Als linke Volkspartei muss die SPD in ihrem eigenen Interesse all jene für sich begeistern, die für gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt sind.

Hannelore Kraft sagt, dass sie „Strukturen verändern“ will. Was für Bildung, Umwelt und Soziales gilt, muss auch für die SPD gelten. Parteichef Sigmar Gabriel mag ja ein immerzu sonnengebräunter guter Redner zu sein. Als Kanzlerkandidatin hätte Kraft in drei Jahren aber die besseren Chancen.