Roma: Vereinsgründung in Dortmund?

Die Roma in Dortmund rücken zurzeit aus dem Halbdunkel ins Rampenlicht. Mehrere Veranstaltungen beschäftigen sich mit den Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien. Wurde in den letzten Monaten viel über sie geredet, beginnt nun das öffentliche Gespräch auch mit ihnen. Zum Beispiel gestern Abend im Sozialen Zentrum mitten in der Dortmunder Nordstadt.

Vor sieben Jahren kam sie aus der Nähe von Plowdiw nach Dortmund. Sie hatte vier Kinder, der Mann war krank, die Familie arm. Anfangs hatte sie hier keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld. Die Romafamilie aus Bulgarien musste draußen übernachten. Die Frau mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut ist um die fünfzig und möchte ihren Namen nicht nennen. Aber sie ist mit drei anderen Romni, so die korrekte Bezeichnung für weibliche Roma, Mittwochabend ins Soziale Zentrum gekommen, um auf die Lebenssituation der Roma in Dortmund aufmerksam zu machen. Heute wäscht sie für dreihundert Euro im Monat Teller in einem türkischen Restaurant. Deutsch spricht sie nicht. Ihre mittlerweile erwachsene Tochter, die neben ihr sitzt, schon. Sie übersetzt geübt die Schilderungen der Mutter für die etwa sechzig Zuhörer.

Dann erzählen die Tochter und die beiden anderen Frauen von der schwierigen Orientierung im neuen Land, Problemen mit Ämtern und Wohnungen. Eine der Romni weint als sie von ihren Kindern berichtet. Die beiden jüngeren Kinder hat das Jugendamt in Obhut genommen, eine ältere Tochter ist drogenabhängig, die andere Prostituierte. Sie selbst hat keine Wohnung und übernachtet im Moment im Park. Sie zeigt Fotos, auf denen sie mit ihrem kleinen Sohn und der kleinen Tochter zu sehen ist. Die drei sehen darauf aus, wie durchschnittliche Familien so aussehen, gepflegte Kinder, stolze Mutter. Vier ganz normale Frauen mit ganz normalen Bedürfnissen und Wünschen, die das Pech hatten, in eine diskriminierte Minderheit hineingeboren worden zu sein.

Manche Zuhörer schlucken bei diesen Schilderungen, andere empören sich in der anschließenden Diskussion über die teilweise unwürdigen Lebensumstände der Roma auch in Dortmund. Interessierte Nachbarn sind zu der Veranstaltung gekommen, aber auch Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Vereine. Der Mieterverein Dortmund ist dabei, das Bündnis Dortmund gegen Rechts, das Straßenmagazin bodo, die Prostituiertenberatungsstellen Kober und Mitternachtsmission und der Planerladen sind da. Und natürlich das Soziale Zentrum, das Stadtteilarbeit macht und soziale Dienstleistungen anbietet. Hier in der Schwangerenberatung haben auch die Romni Hilfe gefunden.

Ebenfalls gekommen ist Iris Biesewinkel. Sie macht seit zehn Jahren Sozialberatung beim Rom e.V. in Köln. Die Roma-Initiative Köln entstand 1986/87, als fast tausend Roma-Flüchtlinge in die Stadt am Rhein kamen. Ein Jahr später gründete die Initiative den Verein Rom e.V., der seitdem durch Beratung, Aktionen und Veranstaltungen die Situation der Roma und Sinti zu verbessern hilft. Das Kölner Beispiel führte im Verlauf der Diskussion zu der Idee, auch in Dortmund einen Verein zu gründen. Einige Interessierte haben sich bereits zu Wort gemeldet. So stellt sich Günther Ziethoff, Leiter des Sozialen Zentrums, darunter eine „Informationsdrehscheibe“ vor: „Aufgabe eines solchen Vereins könnte sein, ein Netzwerk zu schaffen, das die vorhandenen Angebote bündelt und noch besser transparent macht.“ Auch bodo-Chefredakteur Bastian Pütter findet die Idee gut. Es geht nicht zuletzt darum, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, gegen die immer wieder verbreiteten Roma-Stereotype. Iris Biesewinkel hat die Interessierten eingeladen, sich die Arbeit des Rom e.V. vor Ort anzuschauen. Fortsetzung folgt.

Wer Interesse hat, bei der Vereinsgründung mitzumachen, kann sich zunächst bei barbara(punkt)underberg[at]ruhrbarone(punkt)de melden. Dann folgt bald eine Einladung per E-Mail.

Am kommenden Montag, 18. Juli, zeigt das Kino im Depot um 18 Uhr den Dokumentarfilm „Im Ghetto“, der die Lebenssituation der Roma in Stolipinowo, einem Vorort von Plowdiw, beschreibt. Im Anschluss gibt es ein Gespräch u.a. mit dem Regisseur Andreas Kraus und Orhan Jasarovski vom Landesverband der deutschen Sinti und Roma NRW.

Selber gucken, wie’s da ist – Touren durch die Nordstadt

Auch die BVB Tigers, ein Fanclub aus Belgien, waren schon hier. In der Nordstadt, da wo 1909 der Ballspielverein Borussia im „Wildschütz“ das Licht der Welt erblickte. Heute ist dort die Pommesbude Rot-Weiß, an der die geschichts- und geschichtenträchtige Tour „Weiße Wiese“ selbstverständlich vorbeiführt, ebenso wie an Hoesch und der Weißen Wiese selbst. Auf diesem Rasen haben sie angefangen, damals, direkt am Borsigplatz. Annette Kritzler leitet diese und viele andere Touren durch die Nordstadt. „Lecker is’ datt“ kann man bei ihr buchen, „Nordmarktgeschichten“ oder auch „Glaubensvielfalt“.

Annette Kritzler

Die Geographin lebt seit mehr als zwanzig Jahren im Dortmunder Norden. In derselben Wohnung in der vierten Etage eines liebevoll gepflegten Jugendstilhauses um die Ecke vom Borsigplatz. Aufgewachsen ist sie in Brechten, noch viel weiter im Norden von Dortmund, wo es mehr Bauernhöfe als Pommesbuden gibt. Auf Dauer war das nichts für sie, daher suchte Annette Kritzler ein multikulturelles Umfeld und eine günstige Miete. Beides fand sie zwischen Hafen, Nordmarkt und Borsigplatz. Ursprünglich hatte sie Buchbinderin gelernt, fand nach der Ausbildung keinen Job, war dann am Fließband gelandet. Um schnell festzustellen, dass es das nicht gewesen sein kann. So machte sie doch noch Abitur, ging an die Uni und beschäftigte sich dort mit Industriekultur und Tourismus. Schon während des Studiums machte sie Führungen im Schiffshebewerk Henrichenburg. „Da wusste ich dann, das ist meins.“ Führungen durch die Henrichshütte in Hattingen, das Hoesch-Museum und die Zeche Zollern kamen hinzu.

Annette Kritzler fühlt sich in der Nordstadt ausgesprochen wohl und geriet deswegen immer wieder in Erklärungsnot. Weil viele denken, im Stadtteil der Gestrandeten und Gestrauchelten stolpert der unbescholtene Bürger direkt hinter der S-Bahnlinie über eine

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Wohnen in der Nordstadt: „Man muss den Mut haben zu investieren“

Gepflegte Jugendstilhäuser, hochwertige Wohnungen und fröhlich krakeelende Kinder – im Dortmunder Norden. Ob Häuser im Müll versinken oder ein lebenswertes Obdach bieten, liegt wesentlich an den Hauseigentümern.

Innenhof des Schüchtermannkarrees
Innenhof des Schüchtermannkarrees

Ein paar spielen Verstecken, sieben oder acht Jungs kämpfen auf dem Fußballplatz um den Ballbesitz, einige von den Kleineren johlen im Sandkasten, eine Mutter sitzt mit ihrem Baby auf der Schaukel, schwingt langsam hin und her und schaut den Kindern zu. Sobald das Wetter es zulässt, sind die Kinder aus dem Schüchtermannkarree draußen. Sie spielen in dem großen Innenhof, der zu den Häusern ihres Karrees gehört. Das Schüchtermannkarree, benannt nach dem Dortmunder Industriellen Heinrich Schüchtermann, umfasst etwa zweihundert Wohnungen und erstreckt sich rund um die Ecke Bornstraße/Mallinckrodtstraße. Es liegt mitten in der Dortmunder Nordstadt, in der Nachbarschaft von vermüllten Problemhäusern, Drogenhandel und vom demnächst zu schließen versuchten Straßenstrich. Die Nordstadt gilt als Problembezirk. Armut, Arbeitslosigkeit und Migration prägen das Bild. Aber das ist nur eine der vielen Seiten.

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„Wir sind nicht kriminell“ – Prostituierte demonstrieren für Erhalt des Dortmunder Straßenstrichs

Foto: Barbara Underberg

Fröhlich, bunt und laut haben sie demonstriert. Etwa sechzig Prostituierte und mindestens gleich viele Journalisten, Fotografen, Parteienvertreter, Vertreterinnen der Prostituiertenberatungsstellen und wohl auch einige „Kunden“, so hieß es, liefen von der Dortmunder Nordstadt bis zum Rathaus. Mit Sprechchören wie „Wir lassen uns nicht vertreiben, der Straßenstrich muss bleiben“, Transparenten und Schildern, auf denen steht „Wir sind nicht kriminell“, wollen sie die Schließung des Straßenstrichs verhindern.

Das dürfte schwierig werden, da die CDU und große Teile der SPD sich einig sind, bei der nächsten Ratssitzung am 31. März das rasche Ende des Straßenstrichs an der Ravensberger Straße zu beschließen. Seit Monaten gibt es viel Wirbel um die Nordstadt – zunehmende Kriminalität, vermüllte Häuser, ständiger Freiersuchverkehr und genervte Anwohner füllen die Tageszeitungen.

Foto: Iris Wolf

Die Demonstration der Prostituierten war perfekt organisiert. Viele hatten laminierte Schilder um den Hals, um ihr Anliegen auf den Punkt zu bringen: „Ich bin Prostituierte. Ich bin kein Opfer und will keins werden“, „Ich bin Prostituierte. Das ist eine anerkannte Berufsausübung“ und „Die Polizei soll mich schützen, nicht jagen“. Die Rede von Dany, die seit fünf Jahren auf dem Straßenstrich arbeitet, hat jemand stellvertretend vor dem Rathaus verlesen. Wörtlich: „Wir haben Angst um unsere Arbeitsplätze und möchten nicht wieder in andere Gebiete ‚auswandern’, in denen wir wieder ohne Sicherheitsanlagen ungeschützt vor gewaltbereiten Kunden und Schutzgelderpressern arbeiten müssen.“ Die Probleme der Nordstadt würden durch die Schließung des Straßenstrichs nur verlagert und verschlimmert. Und weiter: „Wir fordern einen anderen Ansatz zur Lösung dieser Probleme, z.B. Unterstützung zur Integration.“

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NRW-Wissenschaftsministerin Schulze: „Wir müssen mehr in der Breite fördern“

Interview mit der nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerin Svenja Schulze. Sie ist seit Juli 2010 Mitglied der rot-grünen Landesregierung.

Das „Templiner Manifest“ der GEW formuliert Eckpunkte für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Was wollen Sie dazu beitragen?

Wir haben bereits eine Arbeitsgruppe eingerichtet, an der die GEW und mein Ministerium beteiligt sind. Darin klären wir, welches die konkreten Hebel eines Landesgesetzgebers sind, um die Beschäftigung an den Hochschulen zu verbessern. Der erste Hebel ist das Landespersonalvertretungsgesetz. Dort nehmen wir die wissenschaftlichen Mitarbeiter mit auf und weiten den Vertretungsanspruch an den Hochschulen wieder aus. Allerdings haben wir auf Landesebene durch die Hochschulautonomie nur begrenzte Möglichkeiten einzugreifen.

Die Autonomie der Hochschulen erschwert also Ihre Arbeit?

Ich stehe zur Hochschulautonomie, ganz klar. Niemand will an der Wissenschaftsfreiheit rütteln und natürlich auch nicht an der Autonomie der Hochschulen. Die NRW-Hochschulen bekommen pro Jahr drei Milliarden Euro Steuergelder. Es muss eine stärkere Diskussion darüber geben, wofür diese Mittel verwendet werden. Wir brauchen Leitplanken.

In den letzten Jahren wurde über viele Wettbewerbe vor allem die Exzellenz an den Hochschulen gefördert. Gut so?

Ich bin davon überzeugt, dass Exzellenz nur entstehen kann, wenn man auch die notwendige Breite hat. Man braucht eine Basis, auf der die Spitze stehen kann. In der Breite muss mehr gefördert werden, zurzeit wird zu einseitig auf Exzellenz gesetzt. Und wichtig ist auch, die Förderung nicht nur an kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen auszurichten, sondern die gesellschaftliche Verantwortung der Hochschulen zu stärken.
Wir wollen zum Beispiel unsere Industrie ökologisch umbauen und immer mehr erneuerbare Energie erzeugen und nutzen. Um das zu schaffen, brauchen wir auch Forschung, die sich heute noch nicht rechnet. Der Markt ist bei sozialen und ökologischen Fragen blind. Deshalb ist nicht zuletzt die Aufgabe von öffentlich geförderter Forschung, Lösungen für diese Fragen zu finden. Das Land will dafür gemeinsam mit den Hochschulen Verantwortung übernehmen.

Was tun Sie, um die Breite stärker zu fördern und mehr Menschen für ein Studium zu gewinnen?

Wir schaffen zum kommenden Wintersemester die Studiengebühren ab. Damit senken wir eine entscheidende Hürde, die den Hochschulzugang erschwert hat. Außerdem wollen wir die Hochschulen öffnen für Menschen mit beruflicher Qualifikation. Und wir wollen durch die Änderung des Hochschulgesetzes mehr Demokratie an den Hochschulen einführen. In den nächsten Monaten werden wir mit allen Beteiligten darüber diskutieren und gemeinsame Eckpunkte entwickeln.

Wie wollen Sie den Wegfall der Studiengebühren kompensieren?

Es geht um 249 Millionen Euro, die den Hochschulen aus Landesmitteln ersetzt werden. Das machen wir nach dem Leitmotiv „Das Geld folgt den Studierenden“, das heißt, auch die Hochschulen, die bislang auf Studiengebühren verzichtet haben, erhalten entsprechend ihrer Studierendenzahl Kompensationsmittel. Über die Mittelverwendung vor Ort entscheiden Kommissionen, die zur Hälfte mit Studierenden besetzt sein werden.

Wie sieht die Öffnung der Hochschulen konkret aus?

Wir müssen die Hochschulen zugänglich und attraktiv machen für Menschen, die bisher zu selten studieren. Es gibt immer noch zu wenig junge Frauen, es gibt zu wenig Studierende mit Migrationshintergrund, zu wenige Arbeiterkinder sowieso. Der Zugang für Menschen ohne Abitur, aber mit beruflicher Qualifikation soll erleichtert werden. Für all das brauchen wir neue und flexible Eingangsphasen ins Studium. Zurzeit entwickeln wir mit den Hochschulen ein Konzept dazu. Durch die Fernuni Hagen gibt es in NRW bereits wertvolle Erfahrungen, die wir nutzen wollen. Wenn man Berufstätige an die Hochschule holen will, muss zum Beispiel auch ein Teilzeitstudium möglich sein.

Wollen Sie an der Trennung von Universitäten und Fachhochschulen etwas ändern?

Auf Landesebene sind die Spielräume hier sehr klein. Allerdings denke ich auch, dass sich die Hochschullandschaft künftig weniger als noch heute an dieser Trennlinie orientieren wird. Das spezifische Profil einer Hochschule wird immer wichtiger. Die Universität Duisburg-Essen hat zum Beispiel vierzig Prozent Studierende aus hochschulfernen Schichten und ist gleichzeitig sehr forschungsstark. In dieser Konstellation ist das schon sehr ungewöhnlich und zeichnet die Uni aus. Ein anderes Beispiel ist die FH Aachen am Standort Jülich. Dort gibt es einen hervorragenden Campus mit sehr guter Studierendenbetreuung und ideale interdisziplinäre Forschungsbedingungen, die Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa anlocken.

Studierende und GEW kritisieren am Bolognaprozess u. a. die extreme Leistungsverdichtung und Verschulung. Was tun Sie, um das Studium wieder studierbar zu machen?

Im Bolognaprozess sind zum Teil die Ziele aus dem Blick geraten, es wurden Lehrpläne zusammengeschraubt, die nicht funktionieren. Da muss man nachbessern und auch entschlacken. Einige Hochschulen sind bereits dabei. Als Ministerium begleiten und unterstützen wir das. Außerdem rücken wir die Qualität der Lehre mehr in den Mittelpunkt und werden dem Parlament regelmäßig einen Qualitätsbericht vorlegen. Es geht dabei nicht um Zahlenfriedhöfe, sondern um kontinuierliche qualitative Begleitforschung.

Was bedeutet Bologna für die Lehrerausbildung?

Die Lehrerausbildung ist nun auch gestuft in Bachelor und Master. Gemeinsam mit dem Schulministerium sind wir gerade dabei, das Lehrerausbildungsgesetz umzusetzen und dafür zu sorgen, dass das sinnvoll geschieht. Wer unterrichten will, wird schließlich nicht Bachelor-Lehrer, sondern braucht auf jeden Fall den Masterabschluss.

Sie machen offizielle Hochschulbesuche nur, wenn Sie auch mit dem AStA sprechen können. Warum?

So bekomme ich die verschiedenen Sichtweisen am besten mit, das Gesamtbild wird dadurch runder. Es ist schließlich ein Unterschied, ob man eine Hochschule leitet oder dort studiert. Oft sprechen beide Seiten über die gleichen Themen, aber mit anderen Schwerpunkten. Dieser Austausch kostet vielleicht am Anfang etwas mehr Zeit, aber am Ende spart man Zeit, weil es weniger Widerstände gibt, wenn man alle Beteiligten von Beginn an einbezieht.

Das Interview erschien in der Ausgabe 1/2011 des GEW-Magazins „Erziehung und Wissenschaft“.

PCB-Skandal: Envio außer Kontrolle

Im Frühjahr kam der PCB-Skandal bei der Dortmunder Firma Envio ans Licht der Öffentlichkeit, nachdem es bereits seit einigen Jahren Hinweise auf mögliche PCB-Vergiftungen gab. Fast dreihundert Menschen haben nach den bisher laufenden Untersuchungen bis zu 25.000-fach erhöhte PCB-Werte im Blut. Seit Mai ist der Betrieb dicht, Reinigung und Sanierung des vergifteten Geländes am Dortmunder Hafen gehen in die Millionen. Die Ruhrbarone berichteten mehrfach, hier, hier und hier. Im August wurde ein Runder Tisch eingerichtet, der in dieser Woche zum dritten und vorerst letzten Mal getagt hat. Leiter des Runden Tisches ist Eberhard Weber, der zwanzig Jahre lang DGB-Chef in Dortmund und dem Östlichen Ruhrgebiet war.

Eberhard Weber, Leiter des Runden Tisches

Herr Weber, was waren die Aufgaben des Runden Tisches in den vergangenen Monaten?

Der Runde Tisch, von Landesumweltminister Remmel und Landesarbeitsminister Schneider eingerichtet, sollte das Handeln der Behörden transparent machen, Informationen besser und verständlicher vermitteln. Er sollte den direkten Kontakt zwischen Betroffenen und Behörden herstellen sowie Anregungen und Probleme direkt an das Arbeits- und Umweltministerium herantragen. Es ging also darum, Konfliktmanagement zu betreiben und die Dialogstrukturen zwischen den verschiedenen Beteiligten und Interessensgruppen zu stabilisieren und zu verbessern.

Unterstützt die Firma Envio als Verursacher Sie bei der Lösung der Probleme?

Die Geschäftsführung von Envio vernebelt, blockiert und behindert unter anderem mit allen juristischen Mitteln jeden einzelnen Schritt der Behörden. Der Geschäftsführer Dirk Neupert und der Berater des Aufsichtsrates, Stockmann, sind in keiner Weise kooperativ, sondern erschweren die Aufklärung in außerordentlicher Weise.

Bei Envio handelt es sich um ein komplexes Firmengeflecht. Zwei Gesellschaften, die Envio Recycling GmbH und Co. KG und die Envio Geschäftsführungs GmbH, haben Insolvenz angemeldet. Mit welchen Folgen?

Die Bezirksregierung Arnsberg hat im Zuge einer so genannten Ersatzvornahme mit der Reinigung des PCB-vergifteten Geländes begonnen. Die Kosten hierfür gehen in die Millionen. Mit der Insolvenz besteht kaum die Möglichkeit, dass die Bezirksregierung das Geld von Envio zurückbekommt. Das heißt, der Steuerzahler bezahlt höchstwahrscheinlich die Sanierung, nicht der Verursacher.

Die Firma macht sich also aus dem Staub?

Ganz offensichtlich ist das die Strategie des Unternehmens. Envio lehnt jegliche Verantwortung ab. Die Hauptversammlung der Envio AG hat beschlossen, den Firmensitz von Dortmund nach Hamburg zu verlegen. Envio sollte sich da aber keine falschen Hoffnungen machen – die Behörden in Hamburg kennen die skandalträchtige Firma inzwischen sehr genau. Übrigens: Das gleiche technische Verfahren wie in Dortmund wendet Envio weiterhin in Südkorea an und verdient damit richtig Geld.

Was müsste sich ändern, damit eine Firma sich nicht in dieser Weise aus der Verantwortung stehlen kann?

Dazu wären grundsätzliche juristische und andere Fragen politisch zu lösen. Wir waren uns am Runden Tisch einig: Dieser Skandal hat gezeigt, dass der Eigennutz eines Unternehmens in unserem Land offensichtlich einen höheren Stellenwert hat als das Gemeinwohl. Dies ist politisch wie juristisch betrachtet völlig inakzeptabel. Der Schutz der Arbeitnehmer, der Anlieger und die Interessen benachbarter Unternehmen müssen Vorrang haben vor wirtschaftlichen Einzelinteressen eines Unternehmens, das nach verbreiterter Auffassung kriminell gehandelt hat.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Envio. Müsste das nicht schneller gehen?

Die Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung, Umweltschutzdelikten, Betrug und Steuerhinterziehung. Natürlich wünscht sich die Bevölkerung, dass das schneller geht. Aber das Ganze ist rechtlich außerordentlich komplex. Es wäre eine Katastrophe, würde die Staatsanwaltschaft Klage erheben und Envio in einem Gerichtsverfahren als Gewinner aus dem Saal gehen. Daher müssen die Sachverhalte sehr sorgfältig recherchiert werden. Auch wenn eine höhere Dynamik wünschenswert wäre, gilt hier Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Die Bezirksregierung Arnsberg ist die zuständige Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde für Envio. Wenn in den vergangenen Jahren überhaupt Kontrollen stattgefunden haben, dann fast ausschließlich angemeldete – selbst nach Hinweisen auf mögliche PCB-Vergiftungen durch die Firma. Wie kann so etwas sein?

In Nordrhein-Westfalen wurde spätestens seit Anfang dieses Jahrzehnts der staatliche Arbeits- und Umweltschutz geschliffen, als überflüssige Bürokratie politisch diskreditiert. Hierfür stand insbesondere Wolfgang Clement. Anschließend hat Ministerpräsident Rüttgers diese Linie ab 2005 mit der Parole „Privat vor Staat“ weiterverfolgt. Der Arbeits- und Umweltschutz wurde massiv umstrukturiert und die personellen Ressourcen erheblich verringert. Seit dem Jahr 2000 wurden die Stellen in der Umweltschutzverwaltung im Regierungsbezirk Arnsberg um mehr als fünfzig Prozent gekürzt, im Arbeitsschutz um über dreißig Prozent. Damit ist ein wirksamer aktiver und vorbeugender Arbeits- und Umweltschutz nicht mehr möglich.

Das erklärt aber noch nicht, warum die wenigen Kontrollen angemeldet waren.

Die Bezirksregierung begründet das unter anderem damit, dass es notwendig sei, bei einer Kontrolle unmittelbar mit den kompetenten Personen aus einem Unternehmen in Kontakt zu treten. Ich halte diese Begründung für fadenscheinig. Eine wirksame Kontrolle ist nur dann möglich, wenn sie unangemeldet stattfindet. Dies gilt auch für nach ISO (International Standardization Organization) zertifizierte Unternehmen, deren Produktion und Verwaltung bestimmten Regeln folgt. Die Envio Recycling GmbH war zertifiziert. Der Wert dieser Zertifizierung in Bezug auf Umwelt- und Arbeitsschutz tendiert offenbar gegen null. Auch hier erwarten wir künftig von der Landesregierung wirksame Vorgaben an die zuständigen Genehmigungs- und Kontrollbehörden.

Wenn die Begründung der Bezirksregierung fadenscheinig ist, was ist dann der eigentliche Grund?

Die Bezirksregierung hat der Öffentlichkeit bisher nicht gesagt, dass sie aufgrund der mangelnden personellen Ressourcen nicht in der Lage ist, wirksame Kontrollen durchzuführen. Warum die Kontrollen fast immer angemeldet wurden, kann ich nicht nachvollziehen. Darüber gibt es viele Spekulationen, aber die helfen aktuell nicht weiter.

Arbeits- und Umweltschutz nicht wirksam kontrollieren zu können, war also von der Landesregierung politisch gewollt?

Ganz offensichtlich hat die Bezirksregierung bisher eine Politik nach Maßgabe „Genehmigung vor Kontrolle“ praktiziert. Der neue Arnsberger Regierungspräsident Gerd Bollermann bemüht sich seit seinem Amtsantritt um eine neue Offenheit und Transparenz der Bezirksregierung gegenüber der Öffentlichkeit. Dies ist allerdings noch nicht bei allen leitenden Mitarbeitern seines Hauses gleichermaßen angekommen. Die Bezirksregierung und ihre Mitarbeiter wären gut beraten, ihr Dilemma offen darzustellen und die Medien nicht als ihre Feinde zu betrachten. Für die zu geringen Ressourcen für einen wirksamen Arbeits- und Umweltschutz ist schließlich die Landesregierung verantwortlich.

Die Landesregierung hat eine interne und eine externe Untersuchung in Auftrag gegeben, um Lehren aus dem Envio-Skandal zu ziehen. Sie beklagen, dass die beiden Studien nach nunmehr vier Monaten immer noch nicht vorliegen. Woran hapert’s?

Behördenintern wird untersucht, wie sich die betroffenen Institutionen im Fall Envio verhalten haben. Zusätzlich haben das Arbeits- und das Umweltministerium im Juli/August eine externe Studie in Auftrag gegeben, die die Vorgänge rund um Envio untersuchen soll. Vor dem Hintergrund der Einzigartigkeit dieses Skandals hätte ich erwartet, dass zumindest die interne Evaluierung innerhalb von zwei Monaten vorgelegt worden wäre. Warum sich die Veröffentlichung so lange hinzieht, ist kaum nachzuvollziehen. Zumal die Landesregierung eine schnelle und umfassende Aufklärung versprochen hat. Auch hier wäre eine höhere Dynamik im Interesse der betroffenen Beschäftigten, Anwohner und Unternehmen wünschenswert. Nach aktuellem Diskussionsstand sollen beide Untersuchungen nunmehr Ende Januar, Anfang Februar veröffentlicht und auch am Runden Tisch diskutiert werden.

Was erwarten Sie von den Studien?

Der genaue Untersuchungsgegenstand ist uns nicht bekannt. Wir gehen aber davon aus, dass beide Studien Hinweise dazu geben, wo Fehlverhalten stattfand und wie in Zukunft ein wirksamer staatlicher Arbeits- und Umweltschutz aussehen muss. Aus Sicht des Runden Tisches müssen die personellen und anderen Ressourcen im Arbeits- und Umweltschutz deutlich aufgestockt werden. Außerdem fordern wir eine engere Zusammenarbeit zwischen Arbeits- und Umweltschutz. Darüber hinaus müssen Qualitätsstandards für Arbeit und Arbeitsbeziehungen definiert werden, denn auch die überbordende Inanspruchnahme von Leiharbeit hat zum Envio-Skandal beigetragen.

Wie bewerten Sie das Instrument des Runden Tisches zur Aufarbeitung des Envio-Skandals?

Es war hilfreich, um die Kommunikation zwischen allen Beteiligten zu verbessern. In Dortmund ist dieses Instrument erstmals zum Einsatz gekommen und war in der politischen Kultur dieser Stadt etwas Neues. Das Arbeits- und das Umweltministerium haben den Runden Tisch ins Leben gerufen. Problematisch war, dass dies im Vorfeld offenbar nicht hinreichend mit der Bezirksregierung, der Stadt Dortmund und den Fachbehörden verabredet wurde. Der Runde Tisch sollte die Kommunikation verbessern, Krisenmanagement betreiben und Empfehlungen erarbeiten. Er war kein Gremium, in dem politische Entscheidungen getroffen wurden. Dies wurde von Parteipolitikern nicht immer verstanden.
Runde Tische können eine sinnvolle Ergänzung zum repräsentativen parlamentarischen System sein. Sie können komplexe Probleme transparenter machen und Vertrauen schaffen. Die an der einen oder anderen Stelle noch immer favorisierte Macht- und Durchsetzungspolitik trägt heute nicht mehr. Wir brauchen erweiterte Formen der Kommunikation, um die politische Kultur in unserem Lande weiterzuentwickeln.

Der dritte und letzte Runde Tisch hat diese Woche stattgefunden. Was passiert nun?

Ich habe die Empfehlung an die Stadt Dortmund und die Bezirksregierung gegeben, das bestehende Netzwerk weiter zu stärken, eine „Kopfstelle“, vielleicht in Form eines Ombudsmanns einzurichten. Dazu ist es notwendig, dass sich die Stadt, die Bezirksregierung und das Land über die Ausgestaltung und die Aufgabenstellung verständigen. Denn eines ist sicher: das Thema Envio und die Folgen sind noch über Jahre zu bearbeiten.

Können Sie sich vorstellen, dieser Ombudsmann zu sein?

Für mich stellt sich diese Frage nicht.

Was ist das Fazit der Vergiftung durch Envio?

Ohne wirksame staatliche Kontrolle kann man Unternehmen, die Regeln und Gesetze gezielt umgehen, keinen Einhalt gebieten. Die Politik ist dafür verantwortlich, den Behörden entsprechende Kontrollen vorzuschreiben und sie mit den nötigen personellen, organisatorischen und finanziellen Ressourcen auszustatten.

Gründerinnenzentrum in der Nordstadt eröffnet

Es ist breit und hoch, manche finden es Furcht erregend, nicht wenige scheußlich. Das Terrassenhochhaus „Hannibal“ in der Dortmunder Nordstadt ragt zwischen den vielen Jugendstilbauten drall und schnörkellos heraus. Anfang der 1970er Jahre hat man hier an der Bornstraße kahlschlagsaniert und damals modernen Wohnungsbau angerichtet. Oben wird gewohnt, im Erdgeschoss ist Gewerbe, nach wie vor. Nun ist ein neuer Mieter eingezogen: das Gründerinnenzentrum.

Es will Frauen aus der Nordstadt und speziell auch Frauen mit Migrationshintergrund auf dem Weg in die Selbstständigkeit unterstützen. Das Gründerinnenzentrum hat zwei Mitarbeiterinnen, die die Frauen beraten und ihnen helfen, den unternehmerischen Dschungel von der Gründungsidee über den Businessplan bis zur Verwirklichung zu durchdringen. Bereits in den Monaten vor der offiziellen Eröffnung in dieser Woche haben die Beraterinnen ihre Arbeit aufgenommen. Ursula Wendler ist eine von ihnen und erzählt von zahlreichen Beratungsgesprächen: „Zwei Drittel der Frauen suchen eine Alternative aus der Arbeitslosigkeit.“ Häufig müsse man jedoch vom Schritt in die Selbstständigkeit abraten, damit eine Frau nicht vom Regen in die Traufe komme, nicht jede Idee sei tragfähig.

Das Gründerinnenzentrum gehört zum Nordstadt-Büro, einer Außenstelle der Dortmunder Wirtschaftsförderung, die Vieles rund um die lokale Ökonomie in der Nordstadt anschiebt. Wie nötig das ist, zeigen ein paar einfache Zahlen: Die Arbeitslosenquote beträgt 25, der MigrantInnenanteil mehr als sechzig Prozent, 37 Prozent der 52.000 Nordstadtbewohner beziehen Hartz IV.

Ursula Wendler und ihre Kollegin Anja Henkel sind in engem Kontakt mit den Migrantenselbstorganisationen vor Ort und sprechen dort Frauen, für die eine Selbstständigkeit in Frage kommen könnte, aktiv an. Migrantische Frauen, die selbstständig arbeiten, haben nicht zuletzt eine Vorbildfunktion für ihr gesamtes Umfeld. Und sie haben manchmal andere Ideen als deutsche Frauen. Die türkischen Männer treffen sich in ihren Cafés, Frauen haben dort keinen Zutritt. Warum also zum Beispiel nicht ein Frauencafé eröffnen, in dem sich die Frauen ungestört entspannen und austauschen können? Der Leiter des Nordstadt-Büros, Hubert Nagusch, berichtet, dass vor allem Frauen aus Osteuropa ganz häufig höchste Bildungsabschlüsse hätten und hier trotzdem kein Bein an den Boden bekämen. Auch für sie soll das Gründerinnenzentrum eine Anlaufstelle sein.

Das neue Zentrum bietet auch Räume für Existenzgründerinnen an. Auf 750 Quadratmetern ist Platz für etwa zwölf Gründerinnen. Drei ziehen im Januar ein, im Laufe des kommenden Jahres soll sich das Zentrum komplett füllen. Eine der drei Gründerinnen ist Familientherapeutin, eine bietet einen deutsch-russischen Büroservice und eine ist Fotodesignerin. Die Frauen zahlen hier im ersten Halbjahr gar keine Miete, ab dem siebten Monat vier Euro pro Quadratmeter, im zweiten und dritten Jahr fünf und sechs Euro. Wenn die Gründerinnen sich, so der Plan, nach drei Jahren etabliert haben, suchen sie sich neue Räume und machen Platz für neue Existenzgründerinnen. Bleiben sie über die drei Jahre hinaus, zahlen sie die Kostenmiete.

Iris Wolf kam für das Fotodesignstudium von Köln nach Dortmund, lebt in der Nordstadt und portraitiert sie auch. Dem dortigen Straßenstrich hat sie unter dem Titel „Wunschbox“ eine hoch gelobte Ausstellung gewidmet, die im Museum für Kunst und Kulturgeschichte gezeigt wurde. Bevor sie den endgültigen Schritt in die Selbstständigkeit wagte, hat sie parallel noch als Köchin gearbeitet. Dank eines Stipendiums der Kunststiftung NRW ist das vorbei und ab Januar hat sie ihr eigenes Atelier. Unten im „Hannibal“ in der Bornstraße.

Wem gehören die Medien?

Der Journalist und Autor Tom Schimmeck referiert und diskutiert am kommenden Donnerstag über „Medien, Macht und Meinungsmache“ (4. November, 19.30 Uhr, verdi Dortmund, Königswall 36, Eintritt frei). Der Abend richtet sich ausdrücklich nicht nur an JournalistInnen, sondern es geht um eine politische Diskussion über demokratische Öffentlichkeit und die Rolle der Medien.

Heribert Prantl schreibt über seinen Kollegen: „Wenn man seine Texte liest, denkt man sich: Karl Kraus ist ja eigentlich tot, Kurt Tucholsky auch. Tom Schimmeck erinnert an sie, an die ganz Großen unseres Metiers. Aber er ist er selber. Er ist Essayist, er ist Kommentator, er ist auch Prophet.“

Hier veröffentlichen wir, etwas gekürzt, die Rede, die Schimmeck beim Kongress „Öffentlichkeit und Demokratie“ Anfang Oktober in Berlin gehalten hat:

Wem gehören die Medien?

von Tom Schimmeck

„Wem gehören die Medien?“ war der Titel der Hausaufgabe, die ich für diesen Kongress bekommen habe. Das klingt zunächst nach einer Fleißarbeit mit vielen Schaubildern, mit Prozentangaben und Kästchen. In denen Namen wie Bauer, Burda, Holtzbrinck, Neven Du Mont stehen. Aus denen ersichtlich wird, dass der Westen der Republik publizistisch in der Hand der WAZ-Gruppe ist – Kenner reden von der Brost- und der Funke-Linie –, der Süden hingegen in der Hand der Südwestdeutschen Medien Holding, hinter der eher öffentlichkeitsscheue Eigner wie etwa ein Herr Schaub stecken. Außerdem gibt es da noch Verleger wie Ippen und Ganske und wie sie alle heißen. Und natürlich die mächtigen Witwen Springer und Mohn.

Den gehören die deutschen Printmedien, die „Holzmedien“, wie wir neuerdings gern und keck sagen. Schon weil der Begriff automatisch die Assoziation freisetzt, dass da wohl irgendwie der Wurm drin ist.

Wir haben es hier weitgehend mit alten Imperien zu, mit einer Hand voll Milliardären, die sich größtenteils in der Forbes-Liste der Reichsten der Welt wiederfinden. Bauer, Burda, Holtzbrinck sind für jeweils so um die 2 Milliarden Umsatz im Jahr gut. Springer bringt es auf 2,6 Milliarden. Bertelsmann, jener Konzern, der 1835 mit dem Verkauf eines christlichen Liederbuchs begann, spielt mit seinen 1200 Einzelfirmen und Beteiligungen von Random House bis RTL in einer anderen Liga, kommt weltweit auf über 15 Milliarden. Das ist bereits die Sphäre, in der, noch etwas weiter oben, auch Disney und Rupert Murdochs News Corporation spielen.

Das Auslandsgeschäft, die globale Ausrichtung, wird aber auch für die anderen immer wichtiger. Längst sind deutsche Verlage tonangebend in Osteuropa. Gruner+Jahr etwa, eine Tochter von Bertelsmann, ist von den USA bis nach China aktiv, die Georg von Holtzbrinck GmbH in über 80 Ländern präsent. Die Bauer Media Group – das ist jene Hamburger Firma, die anno 1875 mit dem Druck von Visitenkarten begann, und wo seither wohl noch kein einziges aufklärerisches Wort erschienen ist –druckt heute mehr als 300 Zeitschriften in 14 Ländern, betreibt außerdem Dutzende Radiosender. Alle haben inzwischen auch ihre Online-Portale, produzieren Firmenblätter, machen sowieso in TV, Merchandising und so weiter.

Paul Sethe, einer der fünf Gründungsherausgeber der FAZ, spitzte die Zustände schon 1965 sehr knapp zu: „Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“
200 wäre heute vielleicht ein bisschen hoch gegriffen.

Und auch der verlegerische Impetus hat sich stark verändert. Früher war der Verleger der Patriarch, der Talente um sich sammelte. Da durften auch ein paar dabei sei, die gar nicht seiner Meinung waren. Als Konfetti. Zum Schmuck. Als Hofnarren.

Inzwischen aber hat auch hier – Oskar Negt sprach gestern davon – die rein betriebswirtschaftliche Logik durchgesetzt. Die Inhaber sind zunehmend verunsichert über die Zukunft ihrer „Holzmedien“. In den Obergeschossen der Verlagshäuser herrscht eine Mischung aus Resignation und Aggression. Nicht, dass diese Imperien unmittelbar dem Untergang geweiht wären. Aber die hoch gesteckten Renditeziele sind in den letzten Jahren doch zeitweise deutlich verfehlt worden. Das Plus stimmte nicht mehr. Weshalb die Medieneigner die Unternehmensberater in Marsch setzten, die Bergers, McKinseys und Co. Allesamt natürlich Experten in Sachen demokratischer Öffentlichkeit. Die zogen mit dem Rechenschieber in die Redaktionen. Und kamen – Überraschung – zum Ergebnis, dass Qualitätsjournalismus doch verdammt teuer ist. Also wurde entlassen, entlassen, entlassen. Oh nein, Verzeihung: Freigesetzt.
Ja, das klassische „Geschäftsmodell“ der Blätter hat Probleme. Aber das Untergangsgeschrei war auch enorm nützlich, um eine höhere Rendite zu sichern.

Meldung vom September 2010:
Das erste Halbjahr 2010 verlief für den Bertelsmann-Konzern außerordentlich positiv. Auf 755 Millionen Euro bezifferten die Gütersloher das Operating EBIT. Im gleichen Vorjahreszeitraum hatte es bei 497 Millionen Euro gelegen. Der Netto-Gewinn betrug 246 Millionen nach einem Minus von 333 Millionen vor einem Jahr. Der Konzernumsatz landete bei 7,4 Milliarden Euro. Die starken Zuwächse führt das Bertelsmann-Management vor allem auf gestiegene Anzeigenerlöse bei den Töchtern RTL Group und Gruner+Jahr zurück. Der Hamburger Verlag konnte seinen Vorsteuergewinn im ersten Halbjahr von 55 auf 130 Millionen Euro steigern.
Eindeutig: Eine Krise

Zweite Meldung. Gut zwei Wochen alt:
Die erste Tarifrunde Tageszeitungen am 14. September in Berlin endete anders, als von den Gewerkschaften DJV und ver.di erhofft. Statt über angemessene Gehaltserhöhungen für die rund 14.000 Redakteurinnen und Redakteure an Tageszeitungen zu verhandeln, stellten die Zeitungsverleger Forderungen an die Flächentarifverträge in den Raum. Weil sich die Zeitungsbranche in strukturellen Schwierigkeiten befinde, so die BDZV-Vertreter, seien Abstriche unausweichlich.
Sie können gar nicht mehr anders als kürzen, streichen, „abbauen“.

Meldung 3, auch ganz frisch:
Auf stabile Anzeigenumfänge in den ersten acht Monaten dieses Jahres blicken die Zeitschriftenverleger zurück. Von Januar bis August nahmen die Anzeigen in den Zeitschriften ebenso viel Raum ein wie im gleichen Vorjahreszeitraum. Das ermittelte die Zentrale Anzeigenstatistik des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger. Die stabile Anzeigenlage macht sich offenbar auch positiv in den Verlagskassen bemerkbar.

Immer mehr Medieninhaber betreiben ihr Geschäft, als würden sie Schrauben, Schnittkäse oder Sonnenschirme verkaufen. Sie haben kein Anliegen mehr das größer ist als Geld. Besonders gut sichtbar sind die Folgen eines rein renditeorientierte Betrieb bei den Privatsendern. Seit 2007 sind Finanzinvestoren auf diesem Sektor direkt aktiv: Die Permira Beteiligungberatung GmbH sowie Kohlberg Kravis Roberts & Co (KKR) befehligen ProSiebenSat1. Diese Leute machen keinen Hehl daraus, dass sie sich genau null Sekunden lang für die gesellschaftliche Rolle ihrer Sender interessieren. Information? Aufklärung? Was ist das? Was kostet das? Kriegen wir die Zuschauer auch billiger? Es ist halt nur ein Investment. Durch Druck, Betriebsverlegungen und Entlassungen trimmen sie den Börsenkurs genau so lange, bis sie den besten Preis bekommen. Verglichen damit wirkt manch Altverleger schon wieder wie ein Musterdemokrat. Selbst die FAZ sprach angesichts des Treibens im Münchner Sender einmal von „Heuschreckenlogik“.
Womit geklärt wäre, wem Printmedien und Privatsender „gehören“. Im Sinne von: in Besitz sein.

Und dann haben wir da noch die öffentlich-rechtlichen Sender, die Anstalten, wie es so schön und manchmal allzu treffend heißt. Das sind diese großen Häuser mit diesen endlos langen Korridoren, in denen die Machtkämpfe besonders kompliziert sind.

Meiner Ansicht nach ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk eines der schönsten Geschenke, die uns die alliierten Siegermächte, vorneweg die Briten, nach 1945 gemacht haben. Aus der verheerendsten Propagandawaffe der Nazis wurde ein zumindest potentiell demokratisches Medium, das obendrein, zumindest potentiell, im Besitz aller ist. Umso betrüblicher, dass die Anstaltsrealität zuweilen krass vom Idealzustand abweicht. Im vergangenen November feuerte das ZDF auf Druck eines Roland Koch mal eben seinen Chefredakteur. Das machte einigen Wirbel. Es gab laute Proteste. Doch letztlich fügten sich alle. Im Mai stieg Regierungssprecher Ulrich Wilhelm (CSU), also die oberste Sprechblase der Regierung Merkel in Berlin, mal eben in den Flieger nach München und ließ sich zum Intendanten des ach so staatsfernen Bayerischen Rundfunks küren. Nahtlos. Der Rundfunkrat wählte ihn mit 40 von 44 Stimmen. Dort ist angeblich die Gesellschaft repräsentiert. Es ist eine Farce. Eine Frechheit. Eine Beleidigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und damit der ganzen Gesellschaft. Ein weiteres Beispiel für schamlose Medienmachtpolitik. Und es wirkt fast schon wieder ein guter Witz, dass sich Frau Merkel bei der Suche nach einem Nachfolger für den Herrn Wilhelm ausgerechnet beim ZDF bedient hat. Hurra, könnte man rufen, das Perpetuum mobile ist erfunden.

Vor allem die Christenunion zeigt immer wieder, dass sie ein gestörtes Verhältnis zum Grundauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat, ihn eher als Werkzeug betrachtet. Und sich im Zweifel auf die Seite der Medien-Privatbesitzer schlägt, mit denen sie irgendwie enorm gut befreundet zu sein scheint. Die Verleger haben ihren Spaß mit dieser Regierung. Ihr wichtigstes Schlachtfeld ist derzeit das Internet. Der Markt der Zukunft. Wo die Verleger mehr verdienen wollen, etwa mit Hilfe eines neuen sogenannten „Leistungsschutzrechtes“, dass ihnen – nicht den Urhebern – das Inkasso für Online-Inhalte erleichtern soll.

Zugleich feuern die Medienbesitzer, vor allem der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und der Verband Privater Rundfunk und Telemedien seit Jahren aus allen Rohren gegen die Online-Präsenz der Öffentlich-rechtlichen. Die sollen aus dem Netz gedrängt werden. Unter tatkräftiger Mithilfe vieler Politiker. … Dank eines neuen Medienstaatsvertrages sind ARD und ZDF seit Neustem gezwungen, zur Löschung ihrer Inhalte im Internet zu schreiten. Eine Massenvernichtung von Information. Stoff, für den wir Gebühren zahlen. Und der weg muss, damit bei anderen die Kasse stimmt.

Es ist an der Zeit sich verstärkt mit den Dirigenten dieses Orchesters auseinanderzusetzen. Da ist nicht nur die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, über deren keckes Treiben wir uns so gerne lustig machen. Meinungsmache ist eine globale Industrie geworden. Immer mehr sucht sie unser aller Sicht auf die Verhältnisse zu bestimmen. Keine Figur von Rang tritt mehr in die Öffentlichkeit ohne eine Armada von Imageberatern, Agendasettern und Marketingexperten. Politische Entscheidungsprozesse sind in allen Stadien den Pressionen einer kolossalen Lobby-Maschinerie ausgesetzt. Journalisten werden geschickt umschmeichelt und mit Geschichten gefüttert. Keine Party steigt mehr ohne Eventmanager. Selbst Kriege werden heute unter Feuerschutz von mindestens einem Dutzend PR-Agenturen geführt.

Zu diesem Bild gehört auch das vermeintliche unpolitische Wirken der Zerstreuungsindustrie. Die Welt der Promis, der Lightshows und des menschelnden Schwachsinns. Sie führt zur Entkoppelung breiter Massen vom gesellschaftlichen Diskurs. Sie kreiert eine Art Anti-Welt. Eine Öffentlichkeit, die Wirklichkeit verweigert. Sie befördert das Auseinanderdriften der Gesellschaft, vertieft den Graben zwischen Habenden und Habenichtsen. Verschärft das Unten und Oben.

Unten macht sich ein fatalistischer Verdruss über die sogenannten Eliten breit. Während oben die Verachtung gegenüber dem sogenannten einfachen Volk wächst. Die Mittelschicht lebt derweil in Angst und zeiht einen wachsenden Drang zur Abgrenzung gegen alles Fremde, dass ihr den Platz streitig machen könnte.

Wem gehören die Medien? Wem sollten sie idealerweise gehören? Die Antwort ist einfach: Allen. Uns.
Medien spiegeln und formen Gesellschaft. Medien sind der Ort, wo unsere Wirklichkeit beschrieben, reflektiert, debattiert und bewertet wird. Wo die Gesellschaft zu sich spricht.
Zivilisation – das ist die Zügelung von Macht und Gewalt in einer und durch eine informierte Öffentlichkeit.
Medien sind die Vehikel dieser öffentlicher Kontrolle. Oder sollten es doch sein. Deshalb nennt man sie die vierte Gewalt.

Ja, es gibt andere Öffentlichkeiten: den Marktplatz, die Parteien, die Gewerkschaften, Vereine, Initiativen, NGOs. Doch auch, was hier besprochen und getan wird, erschließt sich einer großen Zahl von Menschen nur über Medien.

Es ist elementar für die Demokratie, wer mitreden darf, wer den Ton angibt. Wie laut abweichende Meinungen werden dürfen. Und am Ende immer, wer die Entscheidungen trifft. Die „Elite“ und ihre Experten, die exklusiven Clubs? Die Börse, die Bürokratie, die Billionäre? So kann es nicht gehen.

Das Problem ist nicht nur ein strukturelles. Es hat auch etwas mit der Haltung des Einzelnen zu tun. Vor allem in meinem Beruf, dem Journalismus. Der ja so etwas wie der Maschinenraum der Öffentlichkeit ist.

Der Politik- wie der Wirtschaftsjournalismus haben sich im neuen Jahrtausend schon gründlich blamiert. Wirtschaftsressorts verkamen zu marktfundamentalistischen Sekten. Deutsche Politschreiber haben sich 2005 mit einer großen Merkelei lächerlich gemacht. 2009 gaben sie sich dann betont gelangweilt – was keinen Deut besser war. Die publizistischen Alphatiere fielen in eine postdemokratische Attitüde, fanden Demokratie plötzlich ziemlich lahm und langweilig und die Politiker sowieso alle doof. Global sind wir Journalisten in diesem Jahrtausend bereits an George W. Bush, Waldimir Putin, Jörg Haider und Silvio Berlusconi gescheitert. Aus höchst unterschiedlichen Gründen. Die Öffentlichkeit steckt nicht nur in Deutschland in der Krise.

Die Journalismus hat einen Haltungsschaden. Auch, zum Beispiel in den USA. „Das renommierte Corps der Hauptstadtkorrespondenten“, resümierte der Pulitzer-Preisträger Russell Baker zum Ende der Ära Bush, habe sich „mit Lügen abspeisen und zur Hilfstruppe einer Clique neokonservativer Verschwörer machen lassen“.

Trick des Rechtspopulismus es ist, der Komplexität einer sich globalisierenden Welt die simple Formel entgegenzubrüllen, Schuld zuzuweisen: Den Fremden, den Muslimen, den Juden, den Linken, den … – jedenfalls immer den anderen. Er schafft Fronten und Feindbilder. Es bündelt die Angst der Menschen und zieht sie an ihr durch die Manege.
Hier spätestens zeigt sich, dass Medienfragen Machtfragen sind. Dass haben wir bei Berlusconi gelernt. Der in Italien schon dreimal gesiegt hat. Weil er jede Menge Medien besitzt. Und weil er es geschafft hat, die Emotionen der Menschen zu kapern.

Genug Misere. Reden wir von der Zukunft.
Fragen wir uns:
Wie eine Öffentlichkeit herstellen – oder wiederherstellen, die mehr kann, als nur die fetteste Sau durchs Dorf reiten?
Kann der Markt es richten?
Was tun, wenn auch auf diesem Sektor ein Marktversagen eintritt?

Jürgen Habermas hat 2007 zur Rettung des seriösen Zeitungswesens eine gesellschaftliche Alimentierung nach Art des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorgeschlagen. Weil Leser, Hörer und Zuschauer nicht nur Konsumenten sind, sondern – Zitat – „zugleich Bürger mit einem Recht auf kulturelle Teilhabe, Beobachtung des politischen Geschehens und Beteiligung an der Meinungsbildung“. Weil der durch die Verfassung garantierte Rechtsanspruch auf mediale Grundversorgung nur durchsetzbar sei, wenn Medien unabhängig von Werbung und Sponsoreneinfluss bleiben.
Staatsknete für die Zeitungen? Die Reaktionen waren überwiegend unbegeistert.

Es gibt auch andere Modelle: Stiftungen etwa, die unabhängigen Journalismus fördern. Wie wäre es zum Beispiel mit einer deutsche Filiale des „Center for Investigative Reporting“? Oder mehr Rechechestipendien, wie sie etwa vom Netzwerk Recherche oder der Otto-Brenner-Stftung vergeben werden? Man könnte hier moderne investigative Auftragsdienste schaffe, nach dem Vorbild des amerikanischen „Spot us“ – Recherche sozusagen on demand, im bezahlten Leserauftrag.

Doch wenn über demokratische Öffentlichkeit reden, vor allem über Gegenöffentlichkeit, nimmt das Internet die absolute Schlüsselrolle ein. Es wächst rasant. Es liefert nicht nur Unmengen von Informationen. Es verändert auch die Kommunikation.

Sicher: Das Internet ist auch full of shit. Es erhöht das ohnehin lärmende Grundrauschen. Und viele chatten sich einfach nur ins Nirwana. Größere Zusammenhänge haben es auch im Internet oft nicht leicht. Man kann eine große Reportage, eine komplexe Analyse, nicht einfach in 150 Textkrümel zerbröseln und versimsen oder vertwittern.

Und trotzdem ist das Internet ein demokratisches Wunder. Es ist, als ob ein guter Geist allen Erdenbürgern – fast allen, auch der Zugang zu Computern ist begrenzt – eine Druckmaschine in die Hütte gezaubert hätte. Und dazu, was noch viel wichtiger ist, ein blitzschnelles, weltweites Vertriebssystem.
In vielen Ländern entstehen online neue, gute Medien. In Frankreich etwa haben viele gefeuerte Redakteure neue digitale Projekte aufgezogen, Internet-Zeitungen wie Rue89 oder mediapart.

Ein paar Bausteine zum Schluss:
1. Die Enteignung Springers gelang nicht. Das war vielleicht ganz gut so. Die Linke hätte sich ohnehin nie auf einen Chefredakteur einigen können. Was bleibt: Die Gesellschaft muss die Medieninhaber viel stärker in die Pflicht nehmen. Sie handeln nicht mit Schrauben oder Schnürsenkeln. Sie haben eine enorme demokratische Verantwortung.

2. Wir brauchen eine öffentlich-rechtliche Renaissance, einen Rundfunk, der tatsächlich von den gesellschaftlich relevanten Gruppen gesteuert wird. Wir müssen dem politische Erstickungstod von Anstalten wie etwa dem Hessischen Rundfunk entgegentreten. Und die Entleerung der Hauptkanäle verhindern

3. Wir brauchen ein anderes, freieres, zornigeres, couragierteres journalistisches Selbstverständnis. Zu viele werden gebrochen durch lebenslange Praktika, durch den Druck des Marktes. Zu viele schwimmen mit im Mainstream.

Übrigens, nebenbei: Es ist – das Wort hab ich lange nicht mehr benutzt – auch eine Klassenfrage. Wir haben immer besser ausgebildete Journalisten, aber die feinere Mittelschicht ist hier kolossal überrepräsentiert. Und mit ihr eine bestimmte Lebenswirklichkeit, eine bestimmte Wahrnehmung. Auch ein Grund, warum ein Thema wie Mindestlohn es so schwer hat.

4. Wir brauchen Strukturen wie Stiftungen und Vereine, die unabhängigen Journalismus fördern.

5. Wir müssen mehr große Internet-Experimente wagen. Magazine, Foren und Portale aufbauen, die echte Öffentlichkeit schaffen. Und Wege finden, damit sie Erfolg haben und sich tragen.

Warum müssen? Ganz einfach: Ohne Öffentlichkeit gibt es keine Demokratie.
Und die gehört uns.

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Gott wohnt in der Nordstadt – Ein Portrait von beiden

3,80 Euro für Pommesmayo, Currywurst, Cola. Wir sind im Herzen der Nordstadt. 55.000 Menschen wohnen in diesem Dortmunder Stadtteil, in dem sich prachtvolle Altbauten wie Perlen aneinanderreihen. Hier leben all die Abgehängten und Gestrandeten dieser Gesellschaft, die, denen Drogen und Alkohol durch den Tag helfen, die ohne Jobs und Geld, die Hälfte mit Migrationshintergrund. Und Gott, Boris Gott.

Der Musiker wohnt zurzeit am Hafen, einen Steinwurf vom PCB-Verseucher Envio entfernt. Die Nordstadt beginnt direkt hinter dem Hauptbahnhof, seit zehn Jahren ist Gott hier, gekommen aus Kehl am Rhein, dem Sauer- und dem Münsterland. 1977 haben seine Eltern sich scheiden lassen, da war er gerade fünf. Seine Mutter war damals eine der ersten Alleinerziehenden, sie lebten von Sozialhilfe, „Armut war für mich ziemlich präsent“, sagt er. Die Schattenseiten des Lebens sind bis heute sein Thema. Und so kam er wohl auch in die Nordstadt, der er viele seiner Lieder gewidmet hat. In „Bukowski-Land“ zum Beispiel reimt sich Bordsteinrand auf Nordstadtstrand. „Hier sind alle irgendwie fremd, und in dieser Fremdheit ist man wieder gleich“, beschreibt Gott das Lebensgefühl.

Sucht und Wahnsinn

Zunächst hat Boris Gott Diplompädagogik studiert, dann als Sozialarbeiter in einem Obdachlosenbrennpunkt in Ahlen gearbeitet. Später war er rechtlicher Betreuer in Mülheim. „Auch da hatte ich es mit Extremen zu tun, mit Leuten, die am Rand leben. Als Betreuer ist man von Sucht und Wahnsinn, von Demenz und von Armut umgeben“, erzählt er aus dieser Zeit. Gott und ich sitzen zunächst vorm Café Fink, direkt am Nordmarkt, einer der dunkelsten Seiten der Stadt. Das fällt jedoch nicht auf, weil die Sonne an diesem Spätsommertag auf die Menschen mit den Bierflaschen in der Hand scheint und noch die finstersten Ecken erhellt. Viele erhabene Häuserzeilen mit Gründerzeitflair schmücken die Straßen, viele saniert, viele nicht. Die Nordstadt ist das größte zusammenhängende Altbaugebiet der Region.

Seit einem Jahr gibt es das Café Fink, von der Straße aus erkennt man es nur an der roten Fassade. Kein Schild weist den Weg – dazu wäre ein Bauantrag nötig gewesen. Vor einigen Jahren gab es viele Kampfhunde auf dem Nordmarkt, heute kriegt man hier für kleines Geld Maultaschen auf schwarzen Gemüsegnocchis in Senfsauce. Dem Sänger gefällt die Stimmung in seinem Stadtteil: „Was woanders hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist hier ganz offensichtlich. Im Grunde ist es ein harmonisches Miteinander, ich bin noch nie angemacht oder überfallen worden. Wenn die Leute hier Stress haben, dann untereinander in ihren Gruppen.“ Die Migrationsdebatte hält er vor allem für ein Medienproblem: „Man sieht immer nur entweder den türkischen Bollo-Gangsta-Rapper oder den toll integrierten Superaufsteiger.“

Überzeugter Spießer

Vor zwei Jahren hat Gott seinen Job an den Nagel gehängt und arbeitet seitdem hauptberuflich als Musiker. Einfach war die Entscheidung nicht. „Mit Musik Geld verdienen zu wollen, ist schon sehr idealistisch, und ich bin überzeugter Spießer“, erklärt er. Mittlerweile hat er sogar sein eigenes Label gegründet, Nordmarkt Records. Im November erscheint die neue Platte. Musikalisch ist er Autodidakt, spielt und singt, seit er vierzehn ist. Herausgekommen sind dabei so Zeilen wie die im Stück „Irgendwo in DO“: „Ein Penner krakeelt, grad ist Gott explodiert. Wenn das stimmt, wird das kein guter Tag.“ Apropos Gott. Es ist ein Künstlername, und Boris ist nicht der uneheliche Sohn von Karel Gott, der heißt nämlich wirklich so, fast zumindest. Trotzdem sagt er: „Karel Gott hat mich durchaus beeinflusst, Biene Maja fand ich damals großartig.“

Ein gewisser Schlagereinfluss lässt sich nicht verhehlen. Meine allererste Assoziation war ein Mix aus Stephan Sulke und Rio Reiser. Der Vergleich freut den Musiker, er summt „Uschi, mach kein Quatsch“. Selbst nennt er seine Musik Folkpop mit Ü 30-Blues, wahlweise Ruhrpottpop. Die eingängigen Melodien bringen auch seriöse Ü 60-Damen zum begeisterten Mitklatschen, gleichzeitig kichern sie bei mancher Textzeile verlegen. Beim bodo-Jubiläum letztens selbst gesehen.

Arbeiter- und Straßenstrich

Wir fahren ein Stück mit dem Auto. Direkt an den Nordmarkt grenzt die Schleswiger Straße, bekannt für den bulgarischen Arbeiterstrich. Dunkelhaarige Männer jeden Alters stehen hier vor den Häusern und warten auf Arbeit. Tagelöhner, die zur türkischsprachigen Minderheit in Bulgarien gehören. Für ein paar Euro am Tag entrümpeln sie Wohnungen, schleppen Steine, übernehmen Hilfsarbeiten. Oft haben sie keine eigene Wohnung, sondern teilen sich die Betten, schlafen in Schichten wie zur Zeit der Industrialisierung. Manche übernachten in den Autos, die vor den Häusern parken.

Weiter geht es, überall Gewusel, viele Menschen, viel Verkehr, vorbei am Baumarkt. Hinter Hornbach beginnt der Straßenstrich. Stark geschminkte, langbeinige Frauen in sehr engen Leggins auf sehr hohen Schuhen sind auf dem Weg zur Arbeit. Der Straßenstrich an der Bornstraße grenzt im Westen an das riesige Gelände der Westfalenhütte, deren Fläche etwa dreimal so groß ist wie das der Dortmunder Innenstadt. 25.000 stolze Hoeschianer haben in der Hochphase hier gearbeitet, heute sind es noch 1.300. Ein Viertel der Menschen im Stadtteil hat keine Arbeit.

Pommes Rot-Weiß


Dann kommen wir zur Pommesbude am Borsigplatz. Sie bietet nicht nur unschlagbare Preise, sondern auch echte Dortmunder Tradition. Genau hier war früher der „Wildschütz“, die Kneipe, in der 1909 der BVB gegründet wurde. Heute heißt der Laden „Pommes Rot-Weiß“ und drinnen hängen viele Erinnerungen an Schwarz-Gelb. Herbert Grönemeyer ist mit seiner Bochum-Hymne und der häufig widerlegten Behauptung, der VfL mache mit seinem Doppelpass jeden Gegner nass, reich und berühmt geworden. Gott winkt ab, er interessiert sich nicht für Fußball und möchte dem örtlichen Ballsportverein kein Lied widmen.

Weiter zum Hafen. Trotz des Spätsommertages weht der Wind nordseegleich. 1899 löschte hier der erste Dampfer seine Fracht, gebaut worden war der Hafen für die Montanindustrie. Eisenerz wurde importiert, Kohle exportiert. Heute hat die Logistik das Ruder übernommen, ungezählte Container stapeln sich im Hafen, Waren werden aus aller Welt und in alle Welt verteilt. Viel Importkohle wird umgeschlagen. Boris Gott mag den Hafen, geht gern hier spazieren.


Unfreiwillig hip

An den Hafen schließt sich der Fredenbaumpark an. Er gehört zu den großen Parkanlagen der Stadt und grenzt direkt an den Dortmund-Ems-Kanal. Da ist er also, der Nordstadtstrand. „Im Sommer kann man hier super schwimmen gehen, das wissen viele Leute gar nicht“, erzählt der Sänger. Gott ist damals zufällig in der Nordstadt gelandet, aber „es war Liebe auf den ersten Blick. Schicksal.“ Was er noch an seinem Stadtteil mag: „Die Leute hier sind unfreiwillig hip geworden, weil die Achtziger zurückgekommen sind und sie immer noch die Klamotten aus den Achtzigern tragen.“

Licht und Schatten, Schwarz und Weiß, das sind seine Themen, ganz persönlich und auch in seiner Musik. Er mag die Extreme, sieht den Stadtteil als Metapher für das Leben an sich. Auf der Bühne trägt er ein schwarzes Hemd und eine weiße Weste, weiße Schuhe. Sein „Ruhrpott-Dreikampf“ führte den Musiker von der Kneipe in die Pommesbude zum Arbeitsamt. Er spielte an jeweils zwanzig Orten, zuletzt am 1. Mai bei der „Hartz IV Tour Ruhr 2010“ vor zwanzig Arbeitsämtern.


Im November erscheint die neue CD mit dem Titel „Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein“. Da gehts um den „Bahnhofs-Blues“, der ähnliche Hitqualitäten hat wie seinerzeit „RTL & Rohypnol“, um „Sonnenschein“ und „Niemandsland“. Manchmal verlässt Gott das Ruhrgebiet und ist „Nackt in Brunsbüttel“.

Wir fahren zurück, vom Kanalufer wieder mittenrein, ins dunkle Herz des Ruhrgebiets. Wie heißt es bei Gott? „Heute ist ein schöner Tag, hier im Norden meiner Stadt. Junkies leuchten, Mütter schreien, es ist schön hier zu sein.“

(Alle Fotos: Barbara Underberg)

Schöne Schachtzeichen

Über dem ganzen Ruhrgebiet sind sie seit heute zu sehen. Zwar war nicht an allen Standorten viel los, an manchen war – entgegen den Ankündigungen auf der Seite schachtzeichen.de – nur der Ballon mit einem Aufpasser. Aber es ist rundum einfach schön anzuschauen. Hier ein Foto mit Blick auf die Schachtzeichen über der ehemaligen Zeche „Lothringen“ in Bochum-Gerthe.