„Griechenland ist überall“

Das Institut Solidarische Moderne hat sich in einem heute veröffentlichten Positionspapier für eine Finanztransaktionssteuer, öffentliche Rating-Agenturen und größere Spielräume der Europäischen Zentralbank (EZB) ausgesprochen.

Heute wurde mit dem Titel „Griechenland ist überall“ das erste Positionspapier des Instituts Solidarische Moderne (ISM) veröffentlicht. Die Autoren Elmar Altvater, Sven Giegold, Birgit Mahnkopf und Hermann Scheer schlagen Maßnahmen vor, um Finanzspekulationen gegen Staaten und Währungen und ihre Gefahren für Demokratie und Wirtschaft zu beenden. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in Europa ist das zentrale Element. Darüber hinaus fordert das ISM die sofortige Gründung öffentlicher Rating-Agenturen und die Erweiterung des Handlungsspielraums der EZB, damit diese nicht nur Banken, sondern auch Regierungen Kredite zum Niedrigstzinssatz gewähren kann. Das darf sie gemäß ihrer Satzung nämlich bisher nicht.

Tobin-Steuer

Das Konzept der Finanztransaktionssteuer geht auf die sogenannte Tobin-Steuer zurück. James Tobin schlug bereits in den 1970er Jahren vor, 0,05 bis 1 Prozent Umsatzsteuer auf internationale Devisengeschäfte zu erheben. Attac hat dieser Idee in Deutschland zu Popularität verholfen.

Aus dem Positionspapier: „Gesellschaften sind vor der Finanzspekulation und ihren zerstörerischen Folgen zu schützen – indem die Politik sich ihr Primat über die Finanzmärkte zurück erobert.“ Deutschland wird in dem Papier mit seiner Exportüberschusspolitik und dem wachsenden Niedriglohnsektor mitverantwortlich gemacht für die Notlage anderer EU-Staaten. Das ISM spricht sich dafür aus, dass in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn, ein anti-zyklisches Investitionsprogramm und eine Vermögenssteuer eingeführt wird.

Längerfristig plädieren die Autoren für eine Diskussion über die Wiedereinführung vereinbarter Wechselkurse und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik in der Eurozone. Sie sehen die EU am Scheideweg. Wenn das europäische Integrationsprojekt scheitere, habe dies katastrophale politische, wirtschaftliche und soziale Folgen.

Institut Solidarische Moderne

Das Institut Solidarische Moderne wurde vor einigen Monaten ins Leben gerufen, um das politische Vakuum zu füllen, das die Parteien hinterlassen haben. Vertreter von SPD, Grünen und Linken sind dabei, Wissenschaftler, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen. Es geht um eine übergreifende gesellschaftliche Debatte über die entscheidenden Zukunftsfragen von Demokratie, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt.

Die Diskussion über eine Regulierung der Finanzmärkte läuft auf Hochtouren. Monatelang hatte sich die Bundesregierung vehement gegen die Finanztransaktionssteuer zur Wehr gesetzt. Stattdessen wollten Merkel und Westerwelle eine lahme Bankenabgabe, die in der nächsten Krise nicht einmal die örtliche Sparkasse retten würde. Nun ist Bewegung in die Debatte gekommen, heute hat sich die Koalition geeinigt, sich auf europäischer Ebene für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer einzusetzen.

Rüttgers: Mitbestimmung? Nicht der Rede wert.


Seit er Johannes Rau beerbt hat, empfängt er in jedem Jahr kurz vor dem 1. Mai Gewerkschaften und Betriebsräte. Diesmal in der Bochumer Jahrhunderthalle. Er selbst wurde vor der Halle von einem gellenden Pfeifkonzert und „Schwarz-Gelb macht arm“-Transparenten empfangen. Etwa 150 Demonstranten waren dem Aufruf von verdi Bochum/Herne gefolgt und machten anlässlich des alljährlichen Arbeitnehmerempfangs des Ministerpräsidenten ihrem Ärger Luft.

Die Demonstranten blieben draußen, die geladenen Gewerkschafter und Betriebsräte, um die dreihundert dürften es gewesen sein, entschwanden ins Innere der Jahrhunderthalle. Dort redeten nacheinander NRW-Arbeitsminister Franz-Josef Laumann, der IG Metall-Chef in NRW, Oliver Burkhard, und Jürgen Rüttgers, wahlfischender Ministerpräsident.

Franz-Josef Laumann, von dem es heißt, er sei der sozialdemokratischste Arbeitsminister in NRW seit zig Jahren, und der bis hinein in Gewerkschaftskreise einen guten Ruf genießt, hat seinen Job ordentlich gemacht. Oliver Burkhard auch. Burkhard ist für Guntram Schneider eingesprungen, der sich im Moment darauf konzentriert, Laumanns Nachfolge anzutreten.

Abschaffung der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst

Burkhard hat gesagt, was man von ihm erwartet: Die Bankenabgabe reiche nicht aus, man brauche einen starken und handlungsfähigen Staat, der Mindestlohn müsse höher sein als 7,50 Euro, die Rente mit 67 gehöre weg und bei der Bildungspolitik gehe es um Integrieren statt Selektieren. Sein Rat an Rüttgers: „Augen auf bei der Wahl des Koalitionspartners“.

Am Schluss kritisierte Burkhard die faktische Abschaffung der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst durch die Regierung Rüttgers. Rüttgers hat mit seiner Landtagsmehrheit das Landespersonalvertretungsgesetz (LPVG) 2007 so geändert, dass die Personalräte bei wichtigen Entscheidungen, die die Beschäftigten im öffentlichen Dienst betreffen, kein Mitspracherecht mehr haben. Die Landesregierung hat das damals als „Bürokratieabbau“ verkauft und gegen erhebliche Widerstände der Beschäftigten und der Gewerkschaften durchgesetzt.

Dann war Rüttgers dran. Sagte, er wolle keinen Wahlkampf machen und hob dann doch ab und zu die Stimme, um zu reden wie auf einem CDU-Parteitag. Verhaltener Applaus, manchmal. Nach wenigen Minuten kamen drei Leute nach vorne und demonstrierten mit Transparenten gegen den Leiharbeitsmissbrauch am Uniklinikum Essen. Rüttgers hat das komplett ignoriert. Das Publikum auch, es hat keine Reaktion von Rüttgers gefordert. Alles still, alles brav.

„Griechen mit 3000 Euro in Frühpension“

Obwohl Jürgen Rüttgers extra angekündigt hatte, auf die von Burkhard eingebrachten Themen eingehen zu wollen: kein Wort über die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst. Stattdessen Wahlkampfgetöse vom „Schulkrieg“. Kein Wort über die 12.000 Stellen, die Rüttgers im öffentlichen Dienst abbauen will. Stattdessen am Schluss ein Statement gegen die griechische Verschwendungssucht. Wohl in der Hoffnung, da einen gemeinsamen Gegner entdeckt zu haben und so von den anderen Themen ablenken zu können. Rüttgers wörtlich: „Es kann nicht sein, dass wir deutsches Steuergeld nach Griechenland schicken und sagen, macht damit, was ihr wollt. … Was soll man einem Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst in Deutschland sagen, wenn er liest in der Zeitung, dass da PostmitarbeiterInnen mit Renten von 3000 Euro in der Frühpension sind.“ Dabei ist Neid doch gelb, nicht schwarz.

Der Ministerpräsident gibt das sauer verdiente Steuergeld lieber für ein schickes Buffet aus, da weiß man, was man hat. In der Jahrhunderthalle war für etwa fünfhundert Leute eingedeckt, viele der feinst gedeckten Tische blieben leer. Ob die vermutlich üppigen Reste bei der Wattenscheider Tafel gelandet sind?

Konstantin Wecker über Krieg, Neoliberalismus und übers Einmischen


Er hat eine Meinung und die sagt er auch. Und das seit vierzig Jahren. Wo andere es sich irgendwann bequem machen, ist er lieber unbequem, singt gegen Krieg und Faschismus. Am 21. März tritt er in der Lichtburg Essen auf, gemeinsam unter anderem mit Stoppok und Bettina Wegner bei der Matinee „KünstlerInnen für den Frieden“. Wer ihn dort sehen und hören will, kann sich hier informieren.

Herr Wecker: Wo sehen Sie die Friedensbewegung heute?

„Nie wieder Auschwitz“ – diese unsägliche Begründung von Joschka Fischer für den Jugoslawienkrieg hat der Friedensbewegung den Rest gegeben. Als ich gegen diesen Krieg gesungen habe, habe ich selbst bei meinem Publikum gemerkt, dass plötzlich die Hälfte nicht mehr auf meiner Seite war. Jeder dachte: Schröder und Fischer, das sind doch unsere Leute. Wenn die für den Krieg sind, dann wird es wohl richtig so sein. Das hat viele so sehr überzeugt, dass nur noch ein kleiner Haufen Aufrechter übrig blieb.

Die Friedensbewegung hat es in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland nicht ganz leicht gehabt. Das liegt auch an den neoliberalen Think Tanks, die es geschickt geschafft haben, jede Form von Engagement zu desavouieren, ins Lächerliche zu ziehen. Leute wie ich werden zum Beispiel als Gutmenschen bezeichnet. Wenn heute ein paar Leute mit einem Schild dastehen und gegen den Krieg demonstrieren, wird das ins Lächerliche gezogen. Ich finde es bewundernswert, gerade in dieser Zeit, dass es noch Menschen gibt, die durchhalten und sich als Teil der Friedensbewegung betrachten.

Die Neoliberalen und ihre Think Tanks haben in den letzten zwanzig Jahren wahnsinnig viel erreicht und die gesamte Gesellschaft verändert. Sie haben sich Worte angeeignet. Zum Beispiel den Begriff „Reform“ – früher dienten Reformen einer gerechteren Gesellschaft, heute machen Reformen die Gesellschaft immer ungerechter. Es ist unglaublich, wie die Neoliberalen es geschafft haben, den Sinn dieses Begriffs umzudrehen.

Warum machen Sie mit bei „Künstler für den Frieden“?

2003 war ich im Irak. Ich wurde häufiger vorwurfsvoll gefragt, was ich denn da wolle, ich würde doch nicht glauben, dass ich den Krieg verhindern könne. Natürlich wusste ich, dass ich diesen Krieg nicht verhindern kann. Aber es war wichtig, ein Zeichen zu setzen. Seit ich denken, kann engagiere ich mich für den Frieden. Das hat auch mit meiner Familiengeschichte zu tun. Mein Vater hatte den verwegenen Mut, unter Hitler den Kriegsdienst zu verweigern. Er war Antimilitarist, und das hat sich in der Familie fortgesetzt. Ich bezeichne mich selbst als Pazifisten, ganz bewusst, weil ich meine, dass es nur mit dieser Utopie möglich ist, wirklich alle Formen des Kriegerischen und Militärischen zurückzudrängen.

Im Übrigen bin ich nach wie vor der Meinung, dass es zur Rolle und Aufgabe der Kunst und der Künstler gehört, sich politisch einzumischen. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Gleichschaltung gehöre ich damit zu den letzten Mohikanern, aber das ist dann eben so. Ich bleibe bei meiner Auffassung: Kunst muss sich positionieren!

Im Mai findet die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag statt. Inwiefern sehen Sie Atomwaffen als konkrete Bedrohung?

Natürlich fühle ich mich bedroht von Atomwaffen, und zwar in erster Linie durch das einzige Land, das schon einmal Atombomben geworfen hat. Es sind die Vereinigten Staaten von Amerika, die die Katastrophen in Hiroshima und Nagasaki verursacht haben. Ich frage mich, warum das nie erwähnt wird. Heute wird so getan, als wären die USA die Retter dieser Welt, diejenigen, die uns vor dem Bösen bewahren. Alle Länder, die Atomwaffen besitzen, sind eine Bedrohung. Keines dieser Länder denkt doch ernsthaft daran, zunächst einmal vor allem die eigenen Atomwaffen zu vernichten. Es geht doch immer nur darum, dass die anderen keine haben sollen. Jede Atomwaffe ist eine zu viel.

In Afghanistan herrscht seit vielen Jahren Krieg, zurzeit gerät der Iran in den Fokus der internationalen Politik. Was macht für Sie das Wesen des Krieges aus?

Immer wenn die Kriegstrommel gerührt wird, wird gelogen. Es wurde bis jetzt in allen Kriegen gelogen. Es ist das Wesen des Krieges, dass er mit gigantischen Lügen eingeleitet wird. Kein Volk der Welt will gerne Krieg führen. Nur mit Propaganda und Lügen kriegt man die Menschen dahin, dass sie Krieg führen wollen. Ich glaube mittlerweile überhaupt nichts mehr. Ich bin damals in den Irak gefahren, weil ich vor Ort sehen wollte, was wirklich los ist. Viel habe ich darüber gelesen und geahnt, dass es Lügen sind. Als ich selbst dort war, habe ich ein ganz anderes Bild bekommen als das, was unsere Medien gezeichnet haben. Zu dieser Zeit habe ich deshalb auf meiner Internetseite den Bereich „Hinter den Schlagzeilen“ eingeführt. Bis heute veröffentlichte ich dort andere Meinungen als die gängigen und andere Sichtweisen als die vorherrschenden und mache sie den Menschen zugänglich.

Kriege wie in Afghanistan sind deswegen willkommen, wenn man weiß, dass sie endlos sind, und dass man sie nicht gewinnen kann. Was ist denn schon auch ein gewonnener Krieg? Man will Kriege gar nicht gewinnen, weil die Waffenindustrie nur am Leben erhalten werden kann, wenn es ständig Krieg gibt. In der Welt gibt es zwei ganz große Industriezweige: die Pharmaindustrie und die Waffenindustrie. Deutschland ist nach wie vor der drittgrößte Waffenexporteur der Welt, da kann man sich auf Dauer nicht aus den Kriegen heraushalten. Bis zum Irakkrieg galt Deutschland ja noch als Land des Friedens. Das geht jetzt nicht mehr. Das lassen die anderen Länder sich nicht mehr bieten, dass ein Land viel Geld mit Waffen verdient, aber bei den Kriegen nicht mitmacht. Ich finde es so ekelhaft, dass die Bellizisten wieder Wortführer sind, mit ihren scheinmoralischen Argumenten. Um es mit Bertolt Brecht sozusagen: „Krieg wird sein, solange auch nur ein Mensch am Krieg verdient“.

Viele Menschen haben die Hoffnung, dass sich mit Barack Obama die Rolle Amerikas in der Welt verändert. Wie sehen Sie das, nachdem er nun gut ein Jahr im Amt ist?

Obama verkörpert bis heute für viele Menschen Hoffnung. Auch weil er der erste schwarze Präsident ist. Das ist ein Schlag in die Magengrube jedes Republikaners, jedes aufrechten Rechten. Das allein schon ist ein Genuss. Aber man muss auch sehen, dass Obama in ein System eingebunden ist. Dass er kein Friedensfürst ist, war allen klar. In Amerika wird kein Pazifist zum Präsidenten gewählt. Aber es gibt viele Gründe, ihn nach wie vor zu mögen. Im Unterschied zu Bush kann er zum Beispiel ganze Sätze sprechen. Man muss dankbar sein, dass Obama gewählt wurde, und natürlich muss man ihm weiter den Rücken stärken.

Sie beziehen öffentlich und offensiv linke Positionen. Wie ist Ihr Verhältnis zu Parteien, zur Linken insbesondere?

Ich bin sehr froh, dass es die Linke gibt, keine Frage. Aber ich bin kein Mitglied und habe auch keinen Wahlkampf gemacht, das mache ich für niemanden mehr. Früher habe ich für die Grünen Wahlkampf gemacht, zu Petra Kellys Zeiten. Da ging es um die Bewegung und darum, Petra Kelly zu unterstützen. Aber die Grünen haben mich zu sehr enttäuscht. Heute bin ich froh, dass es die Linke gibt und ich bekenne mich auch dazu, sie zu wählen, weil ich keine Alternative sehe. Schon oft in der Geschichte war es so, dass von links wichtige Anstöße kamen, um bestimmte Ideen überhaupt populär zu machen. Aber ich bin auch ein Freund einiger aufrechter Sozialdemokraten. Wenn man irgendwo in die Provinz kommt und dort gibt es einen sozialdemokratischen Bürgermeister, dann muss man den natürlich unterstützen. In Bayern zum Beispiel ist so jemand ja praktisch ein Linksaußen.

Seit Kurzem gibt es das „Institut Solidarische Moderne“, in dem sich zahlreiche Einzelpersonen aus den drei Parteien SPD, Linke und Grüne sowie Gewerkschaften, Wissenschaft, Kultur und Kunst zusammengetan haben. Was halten Sie davon?

Ich werde mich demnächst mit Andrea Ypsilanti, einer der InitiatorInnen, treffen. Die Idee eines linken parteiübergreifenden Think Tanks, der das Ziel hat, der neoliberalen Ideologie etwas entgegenzusetzen, finde ich gut. Die Neoliberalen verkaufen ihre Politik immer als ideologiefrei und alternativlos, dabei sind genau sie es, die gezielte Ideologie betreiben. Ich muss mir diese neue Initiative erst genauer anschauen, um zu sehen, ob ich mich dort einbringen kann. Bisher erscheint mir das sehr soziologisch. Es müsste vielleicht eine Gruppe geben, die sich mit Kultur und Kunst beschäftigt, das fände ich wichtig. Es wurde auf jeden Fall Zeit, dass so etwas ins Leben gerufen wird, und vielleicht kann diese Initiative sich in die gesellschaftliche Meinungsbildung einmischen.

Wie optimistisch sind Sie, dass Ihr Engagement Früchte trägt?

In einem Lied über die Weiße Rose habe ich einmal geschrieben, es geht ums Tun und nicht ums Siegen. Ich glaube nicht, dass ich auch nur annähernd eine friedliche Welt erleben werde, meine Kinder wahrscheinlich auch nicht. Das heißt aber nicht, dass wir diese Ideen nicht weiter tragen müssen. Als Künstler bin ich nichts weiter als ein Mosaiksteinchen. Das waren Künstler und andere engagierte Menschen schon immer. Wahrscheinlich wäre diese Welt aber noch viel schrecklicher, wenn es das über die Jahrtausende nicht immer gegeben hätte. In einem Konzert habe ich erzählt, „vor vierzig Jahren bin ich angetreten, um diese Welt mit meinen Liedern zu verändern. Wenn ich mir die Welt heute anschaue, kann ich nur sagen, ich war es nicht.“ Daraufhin haben mir ganz viele Leute geschrieben, ich hätte bei ihnen ganz persönlich etwas bewirkt, ihnen Kraft gegeben. Manche haben auch geschrieben, ich hätte sie politisiert, ihnen Mut gemacht, zu ihrer eigenen Meinung zu stehen. Und das ist doch schon mal was. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht die Welt verändern kann, so ist es doch nicht sinnlos.

Wie viel Unterstützung haben Sie in Ihrem künstlerischen Umfeld?

Es machen nicht mehr sehr viele mit. Ich hoffe, dass sich bei der jungen Generation wieder etwas ändert. Durch die Proteste an den Hochschulen habe ich Kontakt bekommen zu einigen jungen LiedermacherInnen, die dort mitgemacht haben. Insofern habe ich die Hoffnung, dass es wieder mehr Leute gibt, die sich trauen, sich zu engagieren. Aber auch hier habe ich das Gefühl, die neoliberale Vorherrschaft hat einige Künstler abgehalten, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Es ist erstaunlich, wie wenige sich insgesamt lautstark äußern und engagieren. Ich sage zwar meine Meinung und mische mich ein, aber eigentlich bin ich ja Künstler, und das will ich auch sein, kein Politiker. Nach wie vor glaube ich viel mehr an die Poesie als an die Politik.

Wo ist die Hoffnung für Sie?

Bei Erich Fromm habe ich den schönen Satz gelesen, „Hoffen heißt, auch an etwas weiter glauben, selbst wenn man es zu Lebzeiten nie verwirklichen kann“. Hoffnung hat nichts mit der eigenen Wunscherfüllung zu tun, sondern damit, daran zu glauben, dass eine Idee sich weiter tragen kann. Dazu gehören viele Menschen. Niemand ist alleine wirklich großartig. Das Jahrhundert der Diktatoren hat gezeigt, was einzelne Menschen, die die Welt beherrschen wollten, an Schrecken verbreiten und Katastrophen anrichten können. An einer neuen Idee und an einer neuen Gesellschaft müssen viele Menschen arbeiten. Ein einzelner kann eine Idee weiter befördern und in die Welt tragen, aber nie und nimmer ein System errichten, das ein gerechtes System wäre. Das geht nur durch die Arbeit und die lebendige Kraft vieler Menschen.

Foto: Richard Föhr

Zeltfestival Ruhr vergrault Konzertbesucher

30 Euro kostet eine Karte für Tim Fischer beim Zeltfestival Ruhr. Da denkt man ja erstmal, stolzer Preis und der, der das veranstaltet, wird schon wissen, was er tut. Tim Fischer hätte Freitag Abend beim Zeltfestival auftreten sollen. Nachdem er sich den Zeltplatz angeschaut hat, ist er lieber im Hotel geblieben.

Sein Manager musste den enttäuschten KonzertbesucherInnen die Nachricht überbringen. Man habe nichts davon gewusst, dass direkt nebenan Polka und noch ein weiteres Konzert stattfinden. Tim Fischer, erfolgreicher Chansonnier, wäre mit seinem Zarah Leander-Programm sang- und klanglos untergegangen. Daher habe man kurzfristig entschieden, das Konzert abzusagen.

Letztes Jahr gab es das Zeltfestival zum ersten Mal und es lief recht erfolgreich. Von weitem sah ich immer nur ein großes Zelt und dachte, dort spielt jeden Abend ein Highlight und das ist auch gut so. Weit gefehlt. Das Ganze ist eine Mischung aus Weihnachtsmarkt und Festival, allerdings auf engem Raum und komplett eingezäunt. Ganz viele kleine Zelte stehen dort und auch ein großes, wo jeweils Kunsthandwerkgedöns verkauft wird. An sich nicht schlecht.

Draußen sind die Fressbuden – durchaus edel, von Livingroom (deren Geschäftsführer Lukas Rüger ist Mitveranstalter des Festivals) usw. – ähnlich wie bei „Bochum kulinarisch“. Es kostet natürlich Eintritt, auf den Zeltplatz überhaupt draufzukommen. Für Nicht-Konzertbesucher vermutlich zwei Euro, diese Info kann man der Internetseite nicht eindeutig entnehmen. Jedenfalls ist der ganze Zeltplatz sehr trubelig, überall laufen Menschen rum, palavern, kaufen ein, essen und trinken. Die Geräuschkulisse ist also auch ohne weitere Konzerte beachtlich.

Der Manager von Tim Fischer erklärte, der Veranstalter, der Fischer eingeladen hätte, habe behauptet, nichts von den akkustischen Konkurrenzveranstaltungen direkt nebenan gewusst zu haben. Selbst wenn das nicht stimmt – wie unprofessionell muss man sein, Musiker und KonzertbesucherInnen einer solchen Zumutung auszusetzen? Chansons mitten auf dem Jahrmarkt – super Plan.

Tim Fischer sitzt also im Hotel, die Konzertbesucher können zusehen, wie sie ihr Geld zurückbekommen. Das Zeltfestival Ruhr ist eine kompakte Kommerzveranstaltung, was ja zunächst nichts Schlimmes ist. In diesem konkreten Falle ging der Schuss allerdings nach hinten los. Weniger ist manchmal mehr. Ich zahle gern 30 Euro für eine Eintrittskarte – für EIN gutes Konzert, nicht für drei gleichzeitig mit Hintergrundrauschen.

Werbung

Über zwanzig Jahre IBA Emscher Park, einen Bürgermeister fürs ganze Revier und eine große Bürgerinitiative – Interview mit Christoph Zöpel

Die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA) hat zwischen 1989 und 1999 mit mehr als hundert Projekten im nördlichen Ruhrgebiet etliche Veränderungen in Gang gesetzt. Dazu gehören der Emscher Landschaftspark, der ökologische Umbau des gesamten Emschersystems, die Route der Industriekultur, das Weltkulturerbe Zollverein, der Landschaftspark Duisburg-Nord und viele andere mehr. Barbara Underberg sprach mit dem Erfinder und Initiator der IBA, dem damaligen NRW-Stadtentwicklungsminister Christoph Zöpel. Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter und dem IBA-Chef Karl Ganser hat Zöpel vorgeführt, was möglich ist, wenn man nicht macht, was üblich ist.
Außerdem hat SPD-Mitglied Zöpel konkrete Vorschläge, was im Ruhrgebiet heute passieren müsste, um die Region zu stärken. Er erwartet, dass im Vorfeld der Landtagswahlen in der Fünfmillionenstadt „Ruhr“ noch einiges in Bewegung gerät.

 

Herr Zöpel, stimmt es, dass Sie und Karl Ganser die IBA bei einem Spaziergang erfunden haben?

Richtig ist, dass ich mit Karl Ganser und Wolfgang Roters, seinem Nachfolger im Ministerium, bei einer Wanderung in den Augsburger Wäldern darüber geredet habe. Aber natürlich war die IBA die konsequente Fortsetzung der Stadtentwicklungspolitik, die ich als Minister und Karl Ganser als Abteilungsleiter damals über acht Jahre entwickelt hatten. Und die ließ sich im Ballungsraum Ruhr schlechter durchsetzen. Deshalb suchten wir nach einer neuen Methode, vor allem im nördlichen Ruhrgebiet was zu machen.

Sie wollten also dem regionalen Beharrungsvermögen etwas entgegensetzen?

Jein. Die Verständigung mit den Oberbürgermeistern und Oberstadtdirektoren hat zu den leichteren Übungen gehört. Aber es gab eine Grundauseinandersetzung: Viele kommunalpolitisch Verantwortliche und auch das Landeswirtschaftsministerium meinten, die Wiederherstellung besserer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse im Ruhrgebiet würde über die Reindustrialisierung erfolgen. Industrieflächen wurden weiter gepflegt in der Hoffnung, da käme wieder irgendwas hin, nach wie vor wurden zu breite Straßen gebaut und so weiter.

Die Botschaft der IBA war: Es wird Zeit, in diesem durch die Industrialisierung zerstörten Gebiet endlich Stadtentwicklung zu betreiben, die es bis dahin schlicht nicht gab. Die städtebauliche Entwicklung sollte nach dem Rückgang der Industrie auch zur Herausbildung der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft passen. Viele Stadtplaner haben uns dabei unterstützt. Auf der anderen Seite wollte eine Allianz vieler Wirtschaftsförderer, der Ruhrkohle und anderer Großunternehmen, dass Industrie sich weiterhin ungestört, auch ökologisch ungestört, verbreiten darf. Dieser Streit musste irgendwann mal geführt werden.

Was ist der größte Gewinn durch die IBA?

Heute ist breit akzeptiert, dass aus der vor der IBA völlig ungeplanten Industrielandschaft Stadt wird. Und zwar unter Einbeziehung bedeutender baulicher Dokumente, die von der Industrie übrig geblieben sind. Wir haben diese Konzeption „erhaltende Stadterneuerung“ genannt.

Wirtschaftlich steht die Emscherregion heute immer noch schlecht da, auch im Vergleich zu den anderen Teilregionen des Ruhrgebiets.

Ich empfehle immer meine Eröffnungsrede zur IBA – dort kam das Wort Wirtschaft nicht vor. Die IBA war eine Veranstaltung, die vom Stadtentwicklungsministerium inszeniert wurde. Eine Städtebauausstellung hat nicht die geringste Chance, kurz- und mittelfristig Wirtschaftseffekte zu erzeugen. Die Umstrukturierung einer Industrielandschaft, die einseitig konzentriert ist auf schwerindustrielle Arbeitsplätze und Chemie, kann möglicherweise langfristig positive Effekte für eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft bringen. Ein solcher sektoraler Wandel dauert aber mindestens eine Generation.

Niemand hat den Wirtschaftsminister oder die Industrieunternehmen daran gehindert, in der gleichen Zeit alle Maßnahmen anzustoßen, die sie für sinnvoll hielten. Die IBA war keine Konkurrenz zur Wirtschaft. Sie hat eher etwas anderes dokumentiert, nämlich die völlige Hilflosigkeit der Wirtschaftspolitik, Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Bauausstellung kann nicht primär Arbeitsplätze schaffen. Dazu braucht man im nördlichen Ruhrgebiet andere Maßnahmen, nämlich die Beendigung der Ausbildungsvernachlässigung, den Aufbau von Arbeitsplätzen, die für Frauen geeignet sind, usw..

Was ist in der Region falsch gelaufen?

Am schlimmsten war für das nördliche Ruhrgebiet, dass sich Staat, Unternehmen und Gewerkschaften darauf verständigt haben, die Leute mit etwas über 50 Jahren auszumustern und sich selbst zu überlassen. Das hat eine Mentalität erzeugt, die Arbeitsleben mit Industriearbeit gleichsetzt. Die gibt es noch heute. Die Leute haben auch ihren eigenen Enkeln nicht vermittelt, dass es nie wieder Industriearbeitsplätze geben wird, und wenn doch, werden sie nach drei Jahren nach Rumänien verlagert wie zum Beispiel bei Nokia. Das ist auch gut so. Und es zeigt, Industrie kann inzwischen jeder auf der Welt, jedes Land kann technisch Bergbau oder Stahlindustrie betreiben. Deutschland bringt sich in der Wirtschaftskrise jetzt um, weil es Exportweltmeister ist. Das war abzusehen. Das ist die logische Konsequenz einer grundsätzlich falschen Wirtschaftspolitik.

Was hat bei der IBA nicht geklappt?

Viel kritisieren möchte ich gar nicht. Einige Projekte, bei denen es um neuen Wohnungsbau ging, haben nicht so gut funktioniert. Es macht wenig Sinn, für einen bestimmten Lebensabschnitt modellhaft Siedlungen zu bauen. Als Erstes gescheitert war eine Wohnsiedlung nur für Frauen. Nach zehn Jahren sind die Kinder aus dem Haus, die Frauen haben andere Wohnbedürfnisse und ziehen weg. Das ist das Problem, wenn man zu spezifisch baut, und vielleicht war da auch ein bisschen viel Ideologie im Spiel.

Das wäre das Einzige. Während ich alle konzeptionellen Dinge nach wie vor richtig finde. Ohne die IBA hätte es zum Beispiel die Emscher-Renaturierung nicht gegeben. Das ist vermutlich die größte Wiederherstellung öffentlichen Raums in der Welt, auf jeden Fall in Europa. In dem berühmten Entwicklungsprogramm Ruhr von 1968 steht, wir brauchen ein neues Klärwerk an der Emschermündung. Das haben wir bei der Eröffnung der Bauausstellung 1989 verkündet – so lange dauern solche Prozesse. 2020 werden wir eine renaturierte Emscher inklusive aller Nebenbäche haben. Es muss erkennbar sein, dass das hier ein integrierter urbaner Raum ist, gestaltete Kulturlandschaft. Besonders gut wird das an den Landmarken sichtbar. Das ist sicherlich die genialste Idee, die Ganser hatte, die hat er auch alleine gehabt. Darüber haben wir bei der Eröffnung noch nicht gesprochen.

Manche IBA-Projekte wirken wie Inseln, ohne Bezug zu ihrer Umgebung, zum Stadtteil. Der Wissenschaftspark in Gelsenkirchen zum Beispiel oder auch Zollverein in Essen, beide inmitten sozial benachteiligter Stadtteile.

Ja gut, sollten wir den Rest abreißen? Beim Wissenschaftspark kann man darüber reden, ob man ein derartiges Gebäude des ausgehenden 20. Jahrhunderts in ein etwas traditionelles Stadtviertel stellen kann. Aber es ist nicht weit entfernt von der Innenstadt, es liegt direkt neben der ehemaligen Zeche Rheinelbe mit weiteren IBA-Projekten und es dokumentiert, dass man mit Glas und Solarenergie heute Häuser bauen kann. Gelsenkirchen ist durch den Wissenschaftspark nicht hässlicher geworden.

Davon völlig zu unterscheiden sind die großen Industriedenkmäler. Die haben nur dann eine Chance, wenn sie als Kathedralen des Ruhrgebiets tatsächlich Stadtteilmittelpunkte werden. Im Landschaftspark Duisburg-Nord geschieht dies und in Hattingen mit der ehemaligen Henrichshütte. Zollverein in Essen-Katernberg ist auf dem Weg, aber es wird 25 Jahre dauern. Diese riesigen Industriedenkmäler haben ganz unterschiedliche Funktionen. Zollverein ist erhaltenswert als Höhepunkt von Zechenarchitektur, es ist gerade noch ästhetischer Bauhausstil. Danach begann Bauhaus als industrialisierte Massenbauweise verheerend zu wirken.

IBA-Projekt: Zollverein in Essen

Ob Zollverein erhalten bleibt oder nicht, war eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich ganz allein treffen musste, und die sich noch nicht einmal Ganser zutraute, der sich sonst fast alles zutraute. Zollverein wirkt monumental, aber es wird dauerhaft nur überleben, wenn es das Zentrum eines neuen attraktiven Stadtteils mit Bedeutung wird.

Der Kontrast zwischen dem Designstandort Zollverein und den benachteiligten, teilweise heruntergekommenen Stadtteilen Katernberg, Stoppenberg und Schonnebeck drum herum ist immens. Spielte das eine Rolle?

So werden Entscheidungen nie getroffen. Eines Tages wurde Zollverein zugemacht. Das war 1986. Dann kommen Wirtschaftsförderer und überlegen, welche Industrie sie hier ansiedeln könnten. Dann kommen Denkmalschützer und gucken sich die Architektur an, ein monumentales Bauwerk. Das kannte ja vorher keiner, das war nicht-öffentlicher Raum. Noch nie zuvor ist ein Industriebauwerk dieser Größe erhalten worden, nachdem der Bergbau weg war. Ganser rief mich an und sagte, das kannst nur noch du entscheiden. Dann war ich da, ganz alleine mit meiner Familie, es war Heiligabend. Das alles abzureißen wäre ein riesiger kultureller Verlust. Da kann man nur entscheiden, das Ding bleibt als Denkmal stehen. Neujahr wurde das öffentlich, und es hieß sofort, der Minister ist verrückt.

Erst fällt die Entscheidung und danach überlegt man, was man damit macht. Kein Mensch denkt abstrakt darüber nach, was man mit dem größten Bauwerk des Ruhrgebiets machen könnte, wenn man es erhält. Wenn Sie dafür tausend Leute versammeln, entwickeln die fünfhundert Ideen. Die diskutieren so lange, bis die Ruhrkohle eines Morgens alles gesprengt hat, und zwar aus Versehen. Nach der Entscheidung konnte sich entwickeln, was künftig auf dem Gelände passiert.

Ich gebe zu, dass ich damals nicht informiert war, ob daneben sozial benachteiligte Menschen wohnen oder nicht. Die Frage habe ich mir auch nicht gestellt. Heute kümmert man sich ganz anders um Katernberg, als man sich um Katernberg gekümmert hätte, wenn Zollverein abgerissen worden wäre. In 25 Jahren wird das als einer der tollsten Standorte neuer metropolitaner Landschaft weltweit anerkannt werden.

Eine Losung der IBA war „Planung durch Projekte“. Haben Sie Konflikte vermieden, indem Sie die traditionellen Ruhrgebietsstrukturen, die ja für die Schwäche der Region mitverantwortlich sind, unangetastet ließen?

Das wäre der Auftrag des Ministerpräsidenten gewesen. Johannes Rau war immer leidenschaftlich gegen die Integration des Ruhrgebiets. Er hat den Regionalverband Ruhr bekämpft, er fühlte sein Landeswappen dadurch gefährdet. Ich schätze ihn sehr, aber ihm die IBA abzuringen war eine schwierige Anstrengung. Die IBA war, mit Unterstützung bestimmter Gremien, die Veranstaltung eines genialen Stadtplaners, aber sie können Karl Ganser nicht vorwerfen, dass er nicht gleichzeitig noch die Städte des Ruhrgebiets zusammengelegt hat. Die IBA war eine Ausstellung, sie konnte ja nur mit Projekten zeigen, was alles geht. Um so besser, wenn einige davon eine langfristige Wirkung haben.

Wie sind Sie mit den Betonköpfen zurechtgekommen?

Die Ruhr-Universität wurde aus Beton gebaut, sie hat eine hohe Symbolik. Sie gehört weg. Als ich Karl Ganser gefragt habe, ob er die IBA leiten will, haben wir wieder einen langen Spaziergang gemacht von diesem Haus aus hinunter ins Lottental Richtung Uni. Wir haben uns gemeinsam vorgenommen, dass nie wieder so etwas passieren darf wie die Ruhr-Universität. Die IBA hätte es nie gegeben, wenn Ganser und ich nicht beschlossen hätten, die Ruhr-Universität ist ein Verbrechen.

Die IBA kam zustande, weil ein Minister zusammen mit einem genialen Mitarbeiter gesagt hat, so wie das bisher gemacht wurde, geht es nicht. Wir müssen zeigen, dass es anders geht. Mit denselben, trotz derselben Personen, trotz der Betonköpfe, trotz eines Wirtschaftsministeriums, das das nicht wollte. Es gab viel berechtigte Kritik an der Industrielastigkeit der nordrhein-westfälischen SPD, was bis heute so ist. Aber dafür war Ganser nicht zuständig. Ihm ist es gelungen, schlicht etwas anderes zu machen, als die gemacht hätten, und dafür Leute zu begeistern. Das Gesamtsystem konnte er nicht aushebeln.

Aber es verändert sich auch was in den Köpfen. Zum Beispiel gibt es eine Generation neuer Baudezernenten. Die Veränderung zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Stadt Bochum mit vierzig Jahren Verzögerung nun einen Masterplan Universitätsstadt macht. Ich bin mit dem Bochumer Baudezernenten Ernst Kratzsch völlig einig, dass man die Uni wenigstens äußerlich verschönern und sie in die Stadt einbinden muss, wenn man sie schon nicht abreißt.

Ein Beispiel für mangelnde regionale Zusammenarbeit ist der schlechte Nahverkehr im Ruhrgebiet.

Ich unterstütze die Nahverkehrsinitiative „10-10-60“ von Uwe Knüpfer und Professor Klaus Tenfelde – in maximal zehn Minuten kann jeder eine Haltestelle erreichen, muss dort maximal zehn Minuten warten und erreicht binnen sechzig Minuten jeden Punkt in der Region. Das ist auch mit der vorhandenen Organisationsstruktur umsetzbar. Erforderlich ist dazu überwiegend ein Investitionsprogramm in Fahrzeuge. Man muss entscheiden, für die Einstiegsphase ein höheres Defizit zu akzeptieren. Das kann keine einzelne Stadt machen, und das ist sicherlich das Haupthemmnis. Traut man sich das, wird es zweifellos neue Fahrgäste anlocken. Wie gut es funktionieren kann, sieht man an der U-Bahn-Strecke 35 zwischen Bochum und Herne.

Was würden Sie im Ruhrgebiet verändern?

Das Wesentlichste ist eine gemeinsame Außendarstellung. In Essen gibt es natürlich weniger Touristen als in Frankfurt, aber in Ruhr gibt es mehr als in Berlin. Wenn die Cranger Kirmes so lange dauern würde wie das Oktoberfest in München, wäre es das meistbesuchte Volksfest Deutschlands. Ruhr ist die drittgrößte Stadt Europas nach Paris und London. Auf dieser Ebene kann man nur mitspielen, wenn man auch als Fünfmillionenstadt auftritt. Ruhr muss als dezentrale Stadt akzeptiert werden, das ist aber nichts Besonderes, alle großen Städte dieser Art sind dezentral.

Alle Aufgaben, die bereits jetzt überstädtisch wahrgenommen werden, sollte man einer neuen gemeinsamen zentralen Instanz geben. Also alle Aufgaben, die beim Landschaftsverband, bei den Regierungspräsidenten, beim Regionalverband Ruhr, bei der Emschergenossenschaft und beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr erledigt werden. Gäbe man die alle einer neuen, für ganz Ruhr geltenden Stadtebene, wären dort ausreichend Kompetenzen gebündelt und sie bräuchten den Städten gar nichts wegzunehmen. Zusätzlich könnte man überlegen, einige große Kultureinrichtungen zu koordinieren.

Zum Vergleich: Bremen hat nicht nur keinen Regierungspräsidenten, sondern nicht einmal eine Landesregierung über sich. Ich gehe so weit zu sagen, die Fünfmillionenstadt Ruhr braucht keinen Regierungspräsidenten. Niedersachsen hat alle Regierungspräsidien abgeschafft. Wenn Ruhr etwas mit dem Land zu tun hat, verhandelt es das mit dem Land. Der Mann an der Spitze hieße „Erster Bürgermeister von Ruhr“, und die Jungs in Essen und Dortmund heißen weiter Oberbürgermeister und behalten auch ihre Kompetenzen. Der Erste Bürgermeister und seine direkt gewählte Kommunalvertretung hätten zunächst einmal alle Kompetenzen, die jetzt schon übergeordnete Instanzen haben. Aber die hat er alle.

Halten Sie das für durchsetzbar?

Das ist eine andere Frage. Es ist aber zwingend erforderlich.

Ihre Partei …

Die sind da zurückhaltend, das weiß ich. Wenn Frank Baranowski als Gelsenkirchener Oberbürgermeister und Chef der Ruhr-SPD einen direkt gewählten Regierenden Bürgermeister für das Ruhrgebiet fordert, freut mich das. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Gerade die großen, am Rand gelegenen Ruhrgebietsstädte wie Dortmund haben sich solchen Überlegungen immer verweigert.

Ullrich Sierau, der Dortmunder Oberbürgermeisterkandidat der SPD, war mein Büroleiter. Der sieht das so wie ich.

Aha?

In Dortmund gibt es zweifellos ein merkwürdiges Dortmunder Eigenständigkeitsbewusstsein. Sierau kommt aus Wolfsburg.

Die Hauptdebatte ist, ob den Städten was weggenommen wird. Wenn man alle Kompetenzen bündelt, die derzeit bei den Regional- und Mittelbehörden liegen, wäre das nicht der Fall. Da kann ich Helmut Schmidt zitieren aus einer Zeit, in der er noch gar nicht so luzide war wie heute: "Das kann hier gar nicht klappen, so wie das hier regiert wird." Er hatte sich schildern lassen, was es hier alles an Behörden gibt.

Seit Jahrzehnten gibt es Diskussionen über die Strukturen im Ruhrgebiet, an Erkenntnissen herrscht kein Mangel. Was müsste passieren, damit sich real etwas verändert?

Ich vermute, dass man eine große Bürgerinitiative organisieren muss, als Landesinitiative, um ein Landesgesetz zu initiieren. Die großen Parteien werden sich nur auf Strukturveränderungen einlassen, wenn das auch ein Thema bei den Bürgerinnen und Bürgern wird. Ich freue mich über Baranowski, dass er das jetzt anstößt. Ein anderer Oberbürgermeister aus der Region hat mir neulich erklärt, es gibt nur einen einzigen Weg, grundsätzliche Veränderungen durchzusetzen: Nach der nächsten Wahl muss das ein Oberbürgermeister in die Hand nehmen, der nach fünf Jahren nicht wieder gewählt werden will. Und der muss einen Plan machen, der in Kraft tritt, wenn wir alle nicht wieder gewählt werden wollen. Da ist was dran.

Der RVR hat heute viel mehr Kompetenzen als er zwischen der kommunalen Gebietsreform 1975 und dem neuen RVR-Gesetz 2003 hatte. Es beginnt sich zu ändern. Bisher hat noch kein Ministerpräsident so entschieden wie Rüttgers gesagt, dass die Dreiteilung des Landes in Rheinland, Westfalen und Ruhr kommen wird und das Ruhrgebiet eine eigene Verwaltungsstruktur braucht. Das hätte Rau nie gesagt, im Gegenteil. Ich setze darauf, dass im Vorfeld der Landtagswahlen etwas passiert. Der neue Landtag muss sich dann dieser Sache stellen. Für die SPD stellt sich eine merkwürdige strategische Frage: Ist sie dagegen, weil es die CDU macht?

Auf die Antwort sind wir gespannt.
Herr Zöpel, für das offene Gespräch vielen Dank!

(Fotos: Zöpel: privat, Zollverein: Underberg)

Gemeinsam gegen rechte Gewalt in Dortmund

Heute hat der Rat der Stadt Dortmund eine Resolution gegen rechte Gewalt beschlossen. Es heißt dort u. a.: „Der Rat der Stadt Dortmund appelliert an den Polizeipräsidenten, jede rechtlich zulässige Möglichkeit auszuschöpfen, die für den 5. September 2009 geplante rechtsradikale Demonstration in unserer Stadt zu verbieten.“

Und weiter: „Der Rat sagt seine verstärkte Unterstützung für friedliche Aktionen gegen Rechtsradikalismus zu und bittet die Dortmunder Bürgerinnen und Bürger, den Rechtsradikalen keine Möglichkeit der Verbreitung von rechtsradikalem Gedankengut und damit verbundener Gewalt und Kriminalität in unserer Stadt zu geben.“ Anlass waren die Angriffe von Neonazis auf die DGB-Kundgebung am 1. Mai.

Vor der Verabschiedung der Resolution haben der Dortmunder DGB-Chef Eberhard Weber und der Polizeipräsident Hans Schulze Stellungnahmen zu den Vorfällen am 1. Mai abgegeben. Weber erklärte, die Neonazis seien in Dortmund in den letzten Jahren beständig mehr geworden und inzwischen in die Alltagskultur eingebrochen. Das Problem sei lange verharmlost worden.

Die Neonazi-Attacken am 1. Mai hatten eine neue Qualität, aber bereits in der Vergangenheit gab es gewalttätige Übergriffe auf Parteibüros der Grünen und der Linken und auf bekannte Antifas.

Schulze sagte, es habe im Vorfeld des 1. Mai keine konkreten Hinweise auf Angriffe in Dortmund gegeben. Die Gefahrenlage wurde im Vorfeld bewertet und dementsprechend der Einsatz der Polizeikräfte bemessen. Es waren in jedem Fall deutlich zu wenige Polizisten vor Ort und diese waren in Sommeruniform und ohne Ausrüstung unterwegs, also in keiner Weise auf einen solchen Einsatz vorbereitet. Der Angriff der Rechtsextremen sei nicht vorherzusehen gewesen, meinte Schulze. Aber: „In Zukunft werde ich die Gewalttätigkeit der Rechtsextremen angemessen berücksichtigen. Das gilt auch und besonders für die Versammlung am 5. September.“

Im Anschluss gaben alle im Rat vertretenen Parteien Stellungnahmen ab. Sieht man mal davon ab, dass CDU und FDP wie immer linke und rechte Gewalt in einen Topf warfen, waren sich die demokratischen Parteien auf breiter Front einig und verabschiedeten gemeinsam die Resolution gegen rechts.

Bitte nicht wiederwählen! DVU-Volksverdreher Branghofer verbreitet im Dortmunder Stadtrat rechte ParolenBitte nicht wiederwählen! DVU-Volksverdreher Branghofer verbreitet im Dortmunder Stadtrat rechte Parolen
Foto: Ruhrbarone

Allerdings sitzt auch die DVU im Dortmunder Stadtrat, mit drei Vertretern hat sie sogar Fraktionsstatus. Max Branghofer verbreitete für die Rechten genau die Propaganda, die man von ihnen erwartet. Die Aggressionen seien am 1. Mai nicht von den Neonazis ausgegangen, sondern von ausländischen Teilnehmern der DGB-Kundgebung. Das ist derart billig, platt und doof, dass man nur hoffen kann, dass die Dortmunder bei der kommenden Kommunalwahl diese völkischen Volksverdreher nicht nochmal in den Stadtrat wählen.

Anfang 2008 hat die Stadt einen Sonderbeauftragten gegen rechte Gewalt eingesetzt. Zurzeit wird in Dortmund an einem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus gearbeitet.

Nazi-Angriff auf DGB keine Überraschung

 

Der Dortmunder DGB-Chef Eberhard Weber hat die Polizei bereits am 30. April auf die möglichen Gefahren, die für den 1. Mai von rechts drohen, hingewiesen. Damit widerspricht er entschieden der Darstellung der Dortmunder Polizei, der Angriff der Neonazis auf die DGB-Kundgebung sei eine Überraschung gewesen.

So hatte sie begründet, dass zunächst zu wenig Polizeikräfte vor Ort waren, um die friedlichen Gewerkschaftsdemonstranten vor den rechten Attacken zu schützen. Bereits am Spätnachmittag des 30. April hat Weber die Polizei darauf aufmerksam gemacht, dass in Hannover der geplante Aufmarsch der Neonazis am 1. Mai verboten bliebe und somit eine neue Lage entstanden sei. Er habe unter Angabe einer Internetadresse auch einschlägige Textpassagen vorgelesen: „Demo ist verboten – Werdet anderswo aktiv! Bleibt nicht zu Hause! Besucht die anderen angemeldeten Demonstrationen oder reagiert mit kreativen Aktionen flexibel! Widerstand lässt sich nicht verbieten! Sprung auf marsch, marsch!"

 

Die Polizei habe sich dies laut Gewerkschafter Weber interessiert angehört und zugesagt, den Staatsschutz um Aufklärung zu bitten. Das Ergebnis ist bekannt. Die Dortmunder Polizei muss sich fragen lassen, ob sie die rechte Bedrohung immer noch nicht ausreichend ernst nimmt. Der dortige Polizeipräsident Hans Schulze ist für seine liberale Genehmigungspraxis rechter Aufmärsche bekannt.

Weber: „Die fehlende Aufklärung trotz meiner Hinweise, eine geradezu dilettantische und naive Einschätzung der Sicherheitslage durch die Verantwortlichen und die als borniert empfundene Argumentation des Innenministers stellen sich für mich inzwischen als Sicherheitsrisiko dar.“ Wolf hatte gesagt, es hätten keine konkreten Hinweise für gewalttätige Übergriffe vorgelegen.

Für den 5. September planen die Neonazis wieder einen großen Aufmarsch in Dortmund. Wenn er vor dem Hintergrund der aktuellen Attacken nicht doch noch verboten wird, sollte das Ruhrgebiet an diesem Tag gemeinsam in Dortmund Flagge zeigen gegen rechts. Am kommenden Donnerstag diskutiert der Dortmunder Stadtrat über die Vorfälle.

Jazzatlas Ruhr

Gestern Abend wurde im Dortmunder Jazzclub domicil der Jazzatlas Ruhr vorgestellt. Ein Projekt der Ruhr2010, also des Kulturhauptstadtbüros. Es handelt sich, so der Untertitel der CD-Rom, um „eine Reportage in Texten, Bildern, Tönen von Michael Rüsenberg“. Grimme-Preisträger Michael Rüsenberg hat im Jazzatlas Ruhr die WDR-Reihe „Jazzstädte“ fortgeschrieben. Die CD ist konventionell aufgebaut, die Navigation ist einfach. Man kann sich informieren über die Jazz-Akteure, -Orte, -Projekte und -Festivals im Ruhrgebiet. Eine ehrenwerte Sache.

Zwei Dinge fallen allerdings auf. Die Präsentation im domicil war ein wenig seltsam, mutete an wie mit heißer Nadel gestrickt. Die CD kam offenbar frisch aus der Presse. Michael Rüsenberg, der sie vorstellte, hampelte ziemlich herum mit der Navigation. Das Ganze war langatmig und unsexy, eine vertane Gelegenheit. Die vorgestellte Multimedia-CD soll sich laut Kulturhauptstadtbüro an Künstler, Multiplikatoren und Fachpublikum wenden. Sehr merkwürdig ist, dass – natürlich – ein Internetauftritt mit den Inhalten der CD geplant ist. Allerdings erst irgendwann demnächst. Warum macht man eine Präsentation vor der Presse, wenn es für die Öffentlichkeit noch gar nix zu melden gibt? Normalerweise läuft es doch so, dass ein neuer Internetauftritt vorgestellt wird und just im Moment des Starts der Pressekonferenz geht er online. Hier nicht. Liebe Öffentlichkeit, voraussichtlich im Mai finden Sie unter www.jazzatlas-ruhr.de viele schöne Infos über Jazz im Ruhrgebiet.

Das andere, was auffällt, und es hat vielleicht mit dem Alter derjenigen zu tun, die es machen: Diese CD ist eigentlich ein Buch. Ein Buch mit ein paar O-Tönen. Sehr viel Text, unübersichtlich. Internet funktioniert so nicht. Es ist kleingedruckt, absatzlos, erschlagend. Das hätte man deutlich nutzerfreundlicher machen können. Multimedia bedeutet nicht: Buch plus ne handvoll O-Töne. Wobei die O-Töne auch keine Musik sind, sondern längere Interviewpassagen mit Musikern und Machern, die im Text selbst etwas zusammengekürzt wurden. Alles ganz schön, aber irgendwie auch eine verpasste Gelegenheit. Das hätte man moderner machen können. Es sieht ein bisschen so aus wie Internetauftritte aussahen zu Beginn dieses Jahrtausends. Was knapp zehn Jahre her ist. Ein bisschen Musik gibt es zur Illustration allerdings auch. Was von Eckard Koltermann, Jan Klare und Co. Spielt hier aber nicht die Hauptrolle.

Kurz: Man fragt sich, was uns die Macher damit sagen wollen.

Das anschließende Konzert von „The Dorf“ war super!

Foto: The Dorf / Foto: Michael Gruendel

Werbung

Zum Thema „Neuer Essener Imagefilm“

Könnt Ihr Euch an die Kampagne "Der Pott kocht" erinnern? Das war vor knapp zehn Jahren. Ich erinnere mich an eine Diskussion im damaligen KVR, bei der einhellig die Politiker aus verschiedenen Ruhrgebietsstädten und Parteien nachfolgendes Bild als Plakatmotiv abgelehnt haben mit der Begründung "So grau sind wir doch gar nicht" und "Bei uns ist es doch auch schön". Ernsthaft. Meiner Meinung nach war das damals eines der witzigsten und treffendsten Motive. Schaut man sich an, was zehn Jahre später so an Imagewerbung gemacht wird (neben dem Essener Bombastfilm auch so’n Quatsch wie "Bochum macht jung"), könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich nahezu nichts verändert hat. Mit etwas mehr Humor und Selbstironie wäre dieser wunderbaren Region sicher mehr gedient als mit dem ewig gleichen und langweiligen "Das können wir auch" und "Bei uns ist auch alles ganz groß und ganz toll".