Die schwarze Pyramide im grauen Beton

Hochhausbauten, verschwindende Existenzen. Das Leben im Staate ist trist und monoton. Herr K. steht in der U-Bahn. Dieselben Fahrten zur Arbeit, dieselben Gänge im Wohnblock, dieselben Rituale jeden Tag. Dann ein Brief – überraschend und unerwartet. "Ihrem Antrag auf Suizid wurde stattgegeben." Das Leben geht weiter. "Jeder Tag gleicht dem anderem. Jeder Tag, auch der Tag nachdem ich starb."

Black Pyramid – Eine Semesterarbeit von Johann Kasuch und Christopher Grabinski, Fachhochschule Düsseldorf. (HD-Link zu vimeo.com)

?ahhh!? wie Arcor ? ein Leidensbericht

Foto: Arcor-Pressebild

Seit eineinhalb Monaten terrorisiert mich eine Frau. Das Ungewöhnliche an diesem Fall: Die Dame existiert nicht mal und hat einen ganzen Konzern im Rücken. Sie wohnt in meiner 36-Quadratmeter-Wohnung, hat gleich fünf Verträge bei Arcor abgeschlossen und kostet mir den letzten Nerv. Die Maschinerie eines Großkonzerns reagiert nur schwerfällig, wenn man ihr falsche Datensätze einspeist. Vertreter entwickeln auf der Jagd nach Provisionen ungeahnt kriminelle Energien. Was dabei rauskommt, ist absurd und anstrengend.

Kapitel 1: Ein Kasten voller Briefe

17. Dezember, kurz nach Acht. Feierabend. Ich öffne meinen Briefkasten und sechs Umschläge fallen mir entgegen, fünf von Arcor, einer von der Telekom. Seit einem dreiviertel Jahr hatte ich nichts mehr von Arcor gehört. Sie hatten meinen Umzug vermasselt, ich musste fast vier Monate ohne Internet arbeiten, wir sind nicht im Guten auseinandergegangen. Jetzt ist als Adressat eine Sabine Schlange angegeben, wohnhaft bei mir und Neukunde bei Arcor. Geschwätzig muss diese Sabine sein. In den Umschlägen stecken insgesamt vier Simkarten über vier verschiedene Handyverträge und eine Benachrichtigung, dass zum Ende des Jahres ihr DSL-Anschluss aktiviert werde.

„Guten Tag Frau Schlange, vielen Dank für Ihren Auftrag.“ Ich bin irritiert und habe nicht mal ein Haustier.

Kapitel 2: Ein Name wie eine Geschlechtskrankheit

Knapp zehn Minuten stecke ich in der Warteschleife der kostenfreien Störungsannahme, rauche eine Kippe nach der anderen. Mein Fuß wippt aufgebracht. Ich rechne mit einer zähen Diskussion und einer Spüle voller Geschirr, die bis morgen kein Wasser sehen wird. Der Typ, der sich schließlich meldet, klingt sympathisch, sein Name eher wie die Bezeichnung einer Geschlechtskrankheit. Ich frage nach, mache einen Scherz und bringe ihn zum Lachen. Dann erkläre ich ihm die Problematik. Mein erster Verdacht: Irgendein Bursche oder ein Mädel in den Outbound-Callcentern hat meine alten Datensätze aufgefrischt, eine Sabine Schlange ins Leben gerufen und für fünf Verträge die Provisionen kassiert. Mein Kundenbetreuer, nennen wir ihn S., ist einsichtig, ähnliche Fälle – meint er – scheinen häufiger vorzukommen.

Er: „Es sei denn, Sie haben eine Umwandlung hinter sich…“

Ich: „Wie bitte?“ Dann beruhigend und eine Oktave tiefer: „Nein, nein, das können Sie ausschließen. So wichtig ist mir Arcor nicht.“

Er glaubt mir und nimmt die Stornierung auf. Betrugsversuch und Vertragsfälschung. Immer wieder lande ich für Rückfragen in der Warteschleife. Gut eine Stunde dauert unser Gespräch. Am Ende versichert S. mir, dass er alles in die Wege geleitet, ich keine weiteren Unannehmlichkeiten zu erwarten habe, mich ein Mitarbeiter in jedem Falle anrufen und mir ein Entschuldigungsschreiben zugesandt werde.

Ich: „Das Schreiben ist mir egal. Ich will nur meine Ruhe haben.“ S. gibt mir Recht.

Mein Geschirr bleibt ungespült und ich misstrauisch. Einen Anruf habe ich nie erhalten.

Kapitel 3: Arcor – Reloaded

19. Dezember. Wieder ein Brief. „Guten Tag Frau Schlange, am 08.01.2009 steht Ihnen Ihr Anschluss mit Arcor-Internet 6000 zur Verfügung.“

Klar, denke ich, der war bereits raus, kann vorkommen, und werfe das Schreiben zu den anderen auf die Fensterbank. Vier Tage später der nächste Umschlag. Adressat: Andreas Schlange. Ich stutze. Schlange wer? Langsam macht sich eine Identitätskrise breit.

„Sehr geehrter Herr Schlange, vielen Dank für Ihre Mitteilung vom 18.12.2008. Sie informierten uns, dass Sie eine Auftragsbestätigung erhalten haben, obwohl Sie keinen Auftrag erteilt hatten. Den Sachverhalt werden wir prüfen und umgehend Maßnahmen einleiten, damit sich dieser Vorfall nicht wiederholt.“ Der Wisch fliegt auf die Fensterbank.

Exkurs: Das DSL-Paket

Kurz nach Weihnachten finde ich einen kleinen grünen Zettel in meinem Briefkasten. Ein Paket konnte nicht zugestellt werden. Es wartet abholbereit in der nächsten Packstation. Ich befürchte Arcor, hoffe allerdings auf Geschenke. Am 2. Januar stapfe ich durch den Nieselregen zur Post, scanne das grüne Kärtchen ein, bestätige den Empfang mit meiner Unterschrift, damit sich die Schiebetür der Packstation öffnet und ich das Geschenk bekomme. Dann die Enttäuschung. Der Empfänger ist natürlich die Sabine, der Absender Arcor, und mir schnürt sich der Hals zu. Rein in die Post und das Paket zurückgehen lassen.

Die Dame hinter ihrem Schalter: „Das geht nicht.“

Ich: „Wieso? Ich will das Paket nicht entgegen nehmen und ungeöffnet zurückschicken.“

Die Dame hinter ihrem Schalter: „Sie haben den Empfang mit Ihrer Unterschrift bestätigt. Wenn Sie es zurückschicken wollen, muss ich Ihnen die normalen Versandkosten berechnen.“ (Anmerkung: knapp 7 Euro)

Ich: „Ich musste aber unterschreiben, damit sich die scheiß Tür an dieser Packstation öffnet. Sonst hätte ich doch nicht gesehen, von wem und für wen dieses Paket ist. Auf diesem verdammten Schein steht nur Schlange.“

Die Dame hinter ihrem Schalter bleibt hart und unser Gespräch führt sich im selben Wortlaut weiter. Gute fünf Minuten, vielleicht auch mehr. Dann nehme ich das Paket unter den Arm und laufe schnaubend durch das Dreckswetter zum nächsten Arcor-Laden. Das Geschäft ist voll, ich warte und lege schließlich dem Mitarbeiter das Paket auf den Tresen.

Ich. „Ein etwas komplizierter Sachverhalt aber ein eigentlich ganz einfaches Anliegen.“ In angebrachter Kürze erkläre ich dem Burschen meine Theorie von den gefälschten Callcenter-Verträgen und mache ihm deutlich, dass ich dieses verdammte DSL-Equipment im Laden lasse werde. Er gibt sich verständnisvoll, bestätigt mir auf Nachfrage, dass so etwas durchaus öfter vorkäme, und versichert mir eindringlich, dass er das Paket nicht entgegennehmen könne. Die zweite mühsame Diskussion beginnt, während sich hinter mir Kunde nach Kunde in die Schlange reiht.

Er schließlich: „In Ihrem Paket ist ein Retour-Schein. Den können Sie ausfüllen, auf das Paket kleben, und es bei der nächsten Post zurückschicken. Völlig kostenfrei.“

Ich: „Ich fasse das Paket nicht mehr an.“

Er: „Ich bitte Sie, Herr Schlange.“

Ich: „Nein.“

Er: „Och.“

Die Schlange aus wartenden Kunden hinter mir macht ihn sichtlich nervös. Er öffnet das Paket, füllt den Retour-Schein aus und klebt das Paket wieder zu. Ich – kein Unmensch – honoriere seine Hilfsbereitschaft, nehme das Paket zurück und laufe wieder zur Post. Derselbe Schalter, dieselbe Dame – sie schaut mich mitleidig an – ich lächle gequält, gebe ihr das Paket und fahr nach Hause.

Fazit: eineinhalb Stunden gestohlene Zeit, das Bedürfnis zu trinken und ein Paar durchnässte Schuhe. Danke Arcor.

Kapitel 4: Arcor immer noch Reloaded

10. Januar. „Guten Tag Frau Schlange, wie wir Ihnen in unserem letzten Schreiben mitgeteilt haben, ist es notwendig, dass die Deutsche Telekom AG Vorarbeiten für Ihren Anschluss ausführt. Dieser vereinbarte Termin kam nicht zu Stande.“ Als nächstes Datum wird der 22. Januar vorgeschlagen, Bereitschaft von 8 bis 16 Uhr. Ich sehe davon ab, den Termin zu stornieren. Die angegebene Hotline-Nummer kostet aus dem deutschen Festnetz 49 Cent pro Minute. Von meinem Handy aus sicher das Dreifache.

Wieder vier Tage versetzt gleich zwei neue Schreiben: „Guten Tag Frau Schlange, Sie kündigen Ihren Anschluss, da es bei der Beratung durch einen unserer Vertriebsmitarbeiter zu Missverständnissen kam. Schade, dass wir Sie aus diesem Grund als Kunden nicht behalten können.“

Es gab kein Gespräch, es gibt keine Kundin, es wird keine Partnerschaft geben.

Der zweite Brief ist förmlicher. „Sehr geehrte Frau Schlange, vielen Dank für Ihren Anruf vom 17.12.2009.“ – Ich hätte doch noch tiefer sprechen sollen, denke ich – „Sie haben sich über einen unserer Außendienstmitarbeiter geärgert und bitten um sofortige Stornierung Ihres Arcor-Auftrages. … Wir verstehen, dass Sie aufgrund der Geschehnisse Ihr Widerrufsrecht in Anspruch nehmen.“

Danke, allerdings flattert mir drei Tage danach eine Rechnung ins Haus. 30,82 Euro. Mir wird netterweise angeboten, den Betrag der Rechnung gutschreiben zu lassen. Ich muss lediglich bei der Hotline anrufen und mindestens fünf Euro mehr an meinen Handy-Anbieter abdrücken.

Kapitel 5: Das Ende?

Eine Dame der Verbraucherzentrale bestätigt mir, dass es immer wieder zu gefälschten Vertragsabschlüssen bei den diversen Telefonanbietern käme. Studenten, die ihr Leben im Callcenter finanzieren, erzählen mir vom Druck Abschlüsse zu machen, der miesen Bezahlung und der Konsequenz dem Datenpfusch. Also Anruf bei der Arcor-Pressestelle: Ich schilder die Sachlage, sie wollen einen Fall überprüfen, ich geb meine Daten – besser gesagt, die von der Sabine. Es ist Freitag 16.30 Uhr und mir wird ein Rückruf in den kommenden Tagen versprochen.

Und der kommt dieses Mal auch. Montag um kurz nach 10 direkt der erste: technischer Support. Der kleinen Arcor-Maus geht es während unseres Gespräches allerdings weniger um die Einzelheiten des Falles vielmehr um die Info, wer denn behauptet hätte, dass solche Betrugsfälle häufiger vorkämen. Ich halte mich an die relevanten Aspekte des Falles, unser Gespräch ist nicht sehr ergiebig, ich warte wieder auf den Rückruf der Pressestelle. Der folgt dann am Mittag. Ein kompetenter Mann, wie ich sofort merke. Mit sonorer Stimme erklärt er mir, dass doch alles ganz anders sei. Die gefälschten Verträge kämen von Außenvertretern eines Vertriebspartners. Es seien Adressen aus dem Telefonbuch oder gleich von der Haustür abgeschrieben worden und so in die Konzernmaschinerie gelangt. Den Rückruf zur Vertragsbestätigung und zum Datenabgleich habe man umgangen.

Doch kein Grund zur Sorge: Arcor habe bereits personelle Konsequenzen gezogen, sowie Strafanzeige gegen den Vertriebspartner gestellt. Natürlich seien auch die Lücken im Sicherungssystem geschlossen worden.

„Aber Herr Schlange, Sie sind mir nicht nur als Journalist und Kunde wichtig, Arcor liegt vor allem auch der Mensch am Herzen. Wären Sie nun Frau Schlange, hätten Sie schon längst zur Entschuldigung einen Blumenstrauß bekommen. Bei Ihnen bin ich mir allerdings noch unsicher.“

Für einen kurzen Moment habe ich eine Flasche Scotch vor Augen, verzichte dann aber auf weitere Post von Arcor und verabschiede mich.

Am nächsten Tag dann ein erneuter Anruf: „Herr Schlange, das hatte ich gestern vergessen. Aus systemtechnischen Gründen könnte Ihnen noch eine Rechnung zugesandt werden. Ignorieren Sie diese bitte. Der Betrag wird Ihnen gutgeschrieben.“

Letztes Kapitel: Ein sauberes Paar Socken nach soviel Scheiße

Die Verbraucherzentrale rät: Kommen falsche Verträge ins Haus, sofort reagieren, dem Unternehmen mitteilen, dass kein Vertrag zustande gekommen ist. Rein vorsorglich sollte vom Widerrufsrecht gebraucht gemacht werden und gegebenenfalls der Vertrag wegen arglistiger Täuschung angefochten. Ebenfalls wichtig – gerade im Fall eines Telefonanbieters: Die Telekom benachrichtigen, dass der Port nicht freigegeben werden darf. Sonst kann es passieren, dass man sich mit dem falschen Vertrag rumschlägt, und plötzlich das Telefon gesperrt ist, weil der neue Anbieter bei der Telekom Antrag gestellt hat, den Port zu übernehmen.

Dies Ärgernis blieb mir erspart. Dennoch: Jeder normale, nicht völlig lethargische Kunde dreht im Angesicht dieser maschinell erstellt Briefeflut durch. Es scheint, als käme ein stählerner Koloss in Bewegung, der sich ungerührt von Beschwerden und Einwänden bewegt und nichtmals merkt, ob ihm der mickrige Kunde vors Schienenbein tritt. Der verbockte Umzug lief ähnlich ab. Vier Monate lag ich in der Briefeschlacht mit Arcor, seitenlange Schreiben, Chronologien der Gespräche, horrende Telefonrechnungen für die Servicenummer. Alles vergebens. Immer wieder dieselben ignoranten Formschreiben – ohne nur das kleinste Einlenkung zum Problem. Dann der letzte verzweifelte Versuch: Anruf bei der Pressestelle. Rückruf am nächsten Tag, am darauffolgenden war der Vertrag gekündigt und drei offenstehende Monatsraten gutgeschrieben.

Ich hatte Glück, ich konnte über die Journalisten-Schiene zu einer Lösung kommen. Jedem anderen Kunden bleiben nur die Hotline-Berater, die kaum Zugriffe haben, keinen Ermessensspielraum und lediglich zur läppischen Adressänderung geschult wurden. Rechtliche Schritte kosten – Zeit, Geld und Nerven.

Es ist zum Kotzen, womit sich Leute rumschlagen müssen, weil irgendeinem Unternehmen Fehler unterlaufen. Es ist erniedrigend und ernüchternd, wie wenig Einfluss man auf die Zahnräder der Konzerne hat. Für Frust und verlorene Zeit kann kein Schadensersatz gestellt werden. Ein Blumenstrauß hilft da auch nicht, ist mehr ein schlechter Scherz mit Zuckerguss. Ich ziehe vor jedem den Hut, der sich durch diese Scheiße quält und am Ende noch ein sauberes Paar Socken findet.

Leben im Leistungsbunker

„Kinder werden heutzutage vom Leben entfremdet“ Der Diplom-Psychologe Hubert Couturier, Lehrer für Psychologie und Sport an einem Wattenscheider Gymnasium, bietet seit über 25 Jahren einen psychologischen Beratungsdienst für Schüler an. Zusätzlich führt er eine therapeutische Praxis in Hattingen. Im Gespräch mit den Ruhrbaronen berichtet er von den Belastungen der Jugendlichen, dem Verlust der Selbstständigkeit und dem Weg hin zu einem freien Denken.

Ruhrbarone: Herr Couturier, was sind – aus Ihrer Erfahrung – Probleme, mit denen sich Schüler heutzutage auseinandersetzen?

Hubert Couturier: Natürlich kann ich hier nur die Probleme ansprechen, denen ich auch konkret in meinem Beratungsdienst begegne. Aktuell – besonders angesichts der verkürzten Schulzeit bis zur Stufe acht – gehören mit Sicherheit die stetigen Arbeitsüberlastungen und zu hohen Leistungsanforderungen zu den Hauptproblemen. Diese stehen wiederum in Verbindung mit fehlender Unterstützung von Seiten der Eltern oder des sozialen Umfeldes. Gerade die Vereinsamung, die viele Schüler empfinden, ist da eine massive Belastung. Der Zehnjährige, der mich aufsucht, ebenso wie der Abiturient fühlt sich häufig allein. Allein gelassen mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, und allein gelassen mit der Angst, diese nicht bewältigen zu können. Die Angst zu versagen ist ein Thema, das über der gesamten Problematik im Lebensbereich Schule stehen kann. Es ist die subjektive Angst von Schülern, den Anforderungen ihres Lebens nicht gewachsen zu sein.

Woher kommt dieser Druck?

Der Druck kommt von mehreren Seiten – von Eltern, der Gesellschaft, aber auch von den Lehrern. Er summiert sich und baut aufeinander auf. Systematisch wird den Kindern eine Zukunftsangst suggeriert und schon in jungen Jahren verinnerlicht. Du musst Top sein, um es in dieser Gesellschaft zu etwas zu bringen.

Wie äußert sich dies bei den Kindern?

Sie setzen sich ab einem bestimmten Punkt selbst unter Druck. In meinen Beratungsgesprächen höre ich immer wieder den Satz: „Ich muss gute Noten schreiben, damit ich später einen guten Beruf bekomme.“ Die Kinder haben in einem dafür untypischen Alter bereits eine Leistungsorientiertheit angenommen, der sie oftmals nicht gerecht werden können.

Hat diese Belastung in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen?

Selbstverständlich. Die Probleme der Jugendlichen hängen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. In den vergangenen sieben bis acht Jahren ging das gesellschaftliche Denken deutlich in die Richtung: Du musst Leistung erbringen und Karriere machen, damit du etwas bist! Von allen Seiten strömt dieser Gedanke auf die Kinder ein. Vor 20 Jahren kam es beispielsweise kaum vor, dass Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren bereits konkrete Vorstellungen ihres Lebensweges und ihrer späteren Berufe hatten. Heute begegne ich Elfjährigen, die mit absoluter Überzeugung sagen: „Ich werde Diplom-Ingenieur.“ Noch bevor Kinder in der Lage sind, sich mit ihrer Zukunft auseinander zu setzen und Erwartungen kritisch zu hinterfragen, sehen sie sich in einen Leistungsbunker gepfercht.

Demnach sind Jugendliche heute höheren Stressbelastungen ausgesetzt?

Auf jeden Fall! Stress hat mit dem Empfinden von Druck zu tun. Ursprünglich kommt dieser Druck von außen, allerdings wird er mit der Zeit von den Kindern verinnerlicht, weiterproduziert und damit auch potenziert. Selbst in Fällen, in denen keine übersteigerten Erwartungen von Seiten der Eltern wirken, setzen sich die Kinder zum Teil selbst diesem hohen Maß an Belastung aus.

Wie gehen diese Kinder dann mit dem Stress um?

Sie haben zum Teil so gut wie keine Freizeit, weil ihre schulischen Anstrengungen derart ausgedehnt werden, dass kaum Platz für Freiräume bleibt. Sie bekommen – ob aus eigenem Antrieb oder von Seiten der Eltern – Förderunterricht verordnet. Aus meinem Beratungsdienst kenne ich beispielsweise keinen Schüler, der nicht wenigstens in einem Fach Nachhilfe bekommt. Und das unabhängig von der Note. Eine Schülerin, die ich derzeit betreue und die in all ihren Fächern zwei bis drei steht, nimmt in drei Fächern Nachhilfe.

Was hat das für Konsequenzen, wenn einem Kind die Freizeit genommen wird?

Den Kindern fehlt einfach ein Entwicklungsraum. Ein Bereich, in dem sie durch eigenes Erfahren lernen können – durch eigene Entscheidungen, die sie selbstbestimmt fällen ohne die Vorgabe von Erwachsenen. Das Kind entscheidet, mit wem es sich umgibt, wo es hingeht, gegen welche Regeln es verstoßen möchte oder nicht. In der Schule wird letzten Endes nur durch Vorgaben gelernt. Es ist ein klar verordnetes Lernen. Das selbstständige Lernen allerdings, das so nur in der Freizeit möglich ist, ist für das Kind notwendig, um eine Freiheit des Denkens zu entwickeln.

Das hat zur Folge?

Die Kinder werden – ich will es mal marxistisch formulieren – entfremdet, entfremdet vom Leben. In jedem Falle werden sie aber, wenn man es weniger pathetisch sagen möchte, realitätsfern. Und daraus bildet sich wiederum weitergedacht eine sehr schmalspurige Lebensperspektive.

Welche psychischen Erkrankungen resultieren aus einer derartigen Entwicklung?

In erster Linie sicherlich Depressionen. Dann Ängste und Angststörungen, häufig beides zusammen.

Auf welche Anzeichen sollten Eltern und auch Lehrer achten?

Pauschal gesagt auf Veränderungen. Ein Warnsignal ist, unabhängig von den Entwicklungen in der Pubertät, die natürlich mit Veränderungen einhergehen, wenn relativ plötzlich das Verhalten eines Jugendlichen umschwenkt. Beispielsweise im Umgang mit anderen Personen, das kann Isolation vom Freundeskreis bedeuten aber auch ein hohes Maß an Aggressivität und Streitsucht. Meistens bewegen sich die Verhaltensänderungen zwischen den Polen: extremer Rückzug oder extreme Offensivität. Der Schüler gerät aus seiner Mitte, driftet in Randbereiche ab. Plötzliche und deutliche Leistungsabfälle sind ebenfalls Indikatoren für Probleme.

Eine Schwierigkeit für Außenstehende, Warnsignale zu erkennen, ist jedoch, dass häufig Veränderungen geschehen, die nicht direkt beobachtet werden können, die sich dann leider erst rückblickend aufzeigen lassen.

Führen diese Verhaltensänderungen nicht auch wieder zu neuen Problemen und damit zu Stress?

Natürlich. Fällt jemand aus der Norm und verhält sich in den Augen der anderen unnormal, neigen einige Kinder dazu, diesen zu mobben. Mobbing in unterschiedlichen Varianten hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das betroffene Kind wird ausgegrenzt, fühlt sich noch stärker isoliert, allein gelassen und erfährt damit wieder ein zusätzliches Maß an Stress.

Kommt es auch zu Burnout-Fällen bei Jugendlichen?

Durchaus. Wenn Kinder einfach nicht die Talente haben, um ihren Anforderungen gerecht zu werden und dennoch weiter unter Druck gesetzt und vergeblich in Förder- und Nachhilfeunterricht geschickt werden, dann geben sie irgendwann auf, wirken schlapp und ausgelaugt. Im Extremfall verlieren sie jegliche Perspektive. Zum Teil wäre es in diesen Fällen sinnvoller, einen Schulwechsel vorzunehmen. Viele Eltern halten allerdings weiterhin an der Schulform Gymnasium fest. Zum Teil ist es mein Eindruck, dass es den Eltern is wichtiger ist, dass ihr Kind einen erwünschten Abschluss erlangt als dass es dem Kind gut geht. Dies muss so nicht immer beabsichtigt sein, dennoch ist es das Resultat. Leider gehen einige Eltern kaum auf Vorschläge ein, die eigentlich zum Wohle des Kindes gedacht sind.

Was raten Sie Schülern, um diesem Druck zu entgehen? Was sind also Präventionsmaßnahmen, um nicht in einer psychischen Erkrankung zu enden?

Das Erste wäre, die Belastungen durch sinnvolle Arbeitsstrukturierung zu senken. Schüler sollten für sich eine Art Zeitmanagement entwickeln, das heißt, Hausaufgaben zu erledigen oder zu lernen, wenn sie es wirklich wollen. Sie sollten anfangen ihren Tagesablauf selbst zu strukturieren und Entscheidungen treffen. Natürlich kollidiert das häufig mit den Vorschriften der Eltern und ist in vielen Fällen schwer umzusetzen. Auch die Schule hat da Probleme, dies den Eltern zu vermitteln. Sie haben zu Hause einfach die „Territorialgewalt“.

Wenn die Schüler dann vor ihren Aufgaben sitzen, sollten sie nicht blind durcharbeiten, sondern zeitlich dosieren, auch mal Pausen einplanen und sich Erholungen gönnen. Die Jugendlichen müssen lernen ihre Freiräume, also ihre Freizeit zu schützen. Gegebenenfalls müssen dafür unnütze Tätigkeiten, wie den halben Nachmittag spielend vor dem Computer zu verbringen, reduziert werden.

Dies hilft jedoch nur den Schülern, denen es an Zeit fehlt. Was ist mit den Kindern, die gewisse Erwartungen einfach nicht erfüllen können?

Ein neues Zeitmanagement ist der erste Schritt, um Belastungen zu reduzieren. Ebenso ist es notwendig für das Kind, die Leistungserwartungen, die gestellt werden, für sich zu relativieren, das bedeutet, eine kognitive Umstrukturierung vorzunehmen. Es ist nicht schlimm, wenn mal eine Klassenarbeit schief läuft, oder es mal eine schlechte Note gibt. Es gilt sich von dem gesellschaftlichen Denken freizumachen, immer nur der Erste sein zu müssen. Gerade Kinder im kritischen Alter von 10 bis 14 Jahren schauen bevorzugt Sendungen wie DSDS oder Germanys Next Topmodel. Was dort gezeigt wird, ist eine entwürdigende Art mit Menschen umzugehen, die den Ansprüchen nicht genügen. Dies verinnerlichen die Kinder. Über längere Zeiträume hinweg zeigt diese Infiltration des Denkens natürlich immer größere Auswirkungen.

Der Schüler will lernen. Wie geht er es am Besten an?

Das Kind muss anfangen, den Weg des Lernens nicht als notwendiges Übel zu empfinden, sondern als Weg, etwas zu entdecken. Es sollte verinnerlichen, dass es aus eigener Kraft etwas erreichen kann und daraus Freude und Bestätigung ziehen. Reframing ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Bergriff. Der Schüler stellt etwas, hier das vorgegebene Lernen an der Schule, in einen anderen Rahmen. Er lernt nicht, weil es von außen verlangt wird, sondern weil er persönlich etwas davon hat. Da kann auch mit (Selbst)Belohnung, also einer gewissen Form der Konditionierung gearbeitet werden. Wenn das eine erledigt ist, gönne ich mir etwas Gutes. Lernen sollte als positiv empfunden werden.

Dieser Ansatz verlangt allerdings Eigeninitiative des Schülers. Was sind Gründe, warum viele Kinder sich ihrer Situation ergeben?

Da der Druck von außen auf die Kinder einwirkt – also external erzeugt wird – neigen Schüler immer stärker dazu, ihre Misserfolge auch external zu attribuieren und sie eben nicht internalen Faktoren zuzuschreiben wie der erbrachten Leistung oder dem eingesetzten Lernaufwand – welche für das Kind veränderbar wären. Die Schüler werden von außen bestimmt, bekommen die Noten, die Rückmeldungen von anderen. Wenn dazu gehäuft Sätze vorkommen im Sinne von „Du bist zu mehr nicht fähig“, legt das dem Schüler natürlich nahe, dass an seiner Situation nichts zu ändern ist. Es wird den Kindern systematisch ein Gefühl der Hilflosigkeit vermittelt, welches wiederum eine der klassischen Ursachen einer Depression ist. Die externale Kausalatttribuierung führt ganz einfach zu einer Abnahme der Selbstständigkeit und damit letztlich auch der Bereitschaft selbst zu denken. Es kommt ja schließlich eh alles von außen.

Wie ist dem zu entgegnen?

Die Kinder lernen einfach nicht Verantwortung für sich und ihre Taten zu übernehmen. Hier wäre es wichtig, dass Eltern sich sukzessive im Laufe der Entwicklung des Kindes zurücknehmen, ihnen Eigenständigkeit zugestehen. Das gelingt leider nicht immer, weil Eltern oftmals der Auffassung sind, sie müssten Kontrolle ausüben, damit ihr Kind Leistung erbringt. Diese Vorwegnahme von Entscheidungen ist das Schlimmste für eine freie Entwicklung der Kinder hin zur Selbstständigkeit und zieht sich leider durch alle Bereiche: Der Lehrer macht Vorschriften, ebenso die Eltern. Indirekt wird auch durch die Gesellschaft und die Medien Druck ausgeübt. Es ist einfach immer schwieriger geworden, überhaupt Entscheidungen zu treffen.

Ein gesellschaftliches Problem also?

Wir reden hier ja von Randbereichen. Es ist immer ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren, sowohl von gesellschaftlichen als auch familiären. Es gibt auf der einen Seite die vernachlässigten Kinder, auf der anderen die überbehüteten. Zwischen diesen zwei Extremen, zwischen Über- und Unterforderung, bewegen wir uns. Im Falle der überbehüteten nehmen die Eltern den Kindern jede Entscheidung vorweg, im Falle der vernachlässigten können die Kinder überhaupt nicht entscheiden, weil sie von Anfang an mit Entscheidungen überfordert worden sind, anstatt behutsam an sie herangeführt zu werden. Das ist in den vergangenen Jahren massiver geworden, die Randbereiche – meiner Erfahrung nach – größer.

Ich glaube allerdings, dass alle Kinder nach einer gewissen Zeit der Anleitung Verantwortung für sich übernehmen. Nur dann können sie merken, dass sie ihr Leben selbst in der Hand haben und entsprechend etwas ändern können.

Was wären Präventionsmaßnahmen von Seiten der Behörden beziehungsweise der Schulen?

Abstrakt gesagt Freiräume für die Kinder zu schaffen, ihnen die Möglichkeit bieten, überhaupt Entscheidungen treffen zu können und ihnen die entsprechende Zeit dafür zuzugestehen. Und das meine ich nicht im Sinne irgendeiner Kuschelpädagogik, es geht vielmehr darum der Entwicklung und den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden.

 

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