Emotionales Armdrücken

Andreas Bittl und Dagny Dewath/Foto: Birgit Hupfeld

Heute Abend  ist es wieder so weit: Das Fräulein Julie spielt im Rottstr.5-Theater verrückt. Was passiert, wenn ein alter, Frauen hassender Schwede, Foucault und eine Rasierklinge aufeinander treffen? Kürzung in ihrer schönsten Form. Mit „Fräulein Julie“, einer Tragödie von August Strindberg, holt das Bochumer Rottstr5-Theater Herrschafts- und Geschlechterdiskurse auf die Bühne. Arne Nobel pflastert den strindbergschen Stände-Switch mit den wackeligen Steinplatten triebhaften Kalküls und naiver Begierden, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Es ist der rasante Absturz in die Perspektivlosigkeit eines nimmergrünen Beziehungsgeflechts.

Weil der Lieblingswein von Strindberg und Michel Foucault Bier ist, trafen sie sich zu einem Sit-In in der Rottstr5. Strindbergs Tragödie von 1888 ist sein meist gespieltes Stück. Aber noch nie hat es eine Inszenierung gegeben wie jene, die aktuell im Rottstr5-Theater zu sehen ist: In einer postatomaren Zeit nach der Bombe wurde das feudale System revitalisiert. Ein bisschen Mad Max, aber immer noch Reclam. Mit Mut zur Klinge und Kürzung verhelfen Dramaturgie und Regie Strindbergs Klassiker zu appellativer Durchschlagskraft, mit der sich nahtlos an aktuelle Diskurse anknüpfen lässt.

Das Miteinander generiert sich orientierungslos. Im Wust aus Menschen, Geschlechtern, Hierarchien fällt es schwer, auf Augenhöhe unerschlossenes Land, ohne Gepäck aus der alten Welt zu betreten. Die Beteiligten hängen noch immer in und an den tradierten Herrschaftsverhältnissen und müssen einsehen: Ein Befehl klingt immer unfreundlich, auch wenn er auf den Wunsch eines anderen hin ausgesprochen wird.

Naturalistisches Küchendrama

Regisseur Arne Nobel ist dafür bekannt, dass er seinen Inszenierungen gerne ein gewisses Quantum Radikalität verpasst. Im Original liefert die Figurenkonstellation den Tod der Köchin nicht mit. Als Repräsentantin der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung bildete sie ursprünglich das Gegengewicht zum sittenwidrigen Verhältnis von Julie (Dagny Dewath) und Jean (Andreas Bittl). Doch wird der Tod der Köchin in der Spielversion des Off-Theaters letztlich zur logischen Konsequenz dieses aufreibenden Küchendramas.

Jean (Andreas Bittl) hofft auf seinen Aufstieg/Foto: Birgit Hupfeld

Monsieur Jean, der Knecht des Fräuleins, ist eigentlich verlobt mit Kristin, der Köchin des Hauses (Kerrin Banz). Er ist viel gereist, ein bisschen gebildet und deswegen überzeugt, er würde ihr als Verlobter nicht schaden. Gleichsam erwacht das Interesse der Herrin des Hauses an Jean, ihrem Untergebenen. Noch gilt, wenn sie befiehlt, muss er gehorchen. Jean will rauf und Julie will runter. Was folgt ist eine Nacht erotischer Verwirrung, eine Anleitung zum Unglücklichsein, ein naturalistisches Küchendrama. Das Setting der Story wird mithilfe des Bühnenarrangements komplettiert, in dem die Darsteller ständig ihre Plätze wechseln. Die Grenzen zwischen Ernst und Scherz, Hierarchie und Haltlosigkeit verschwimmen zunehmend.

Jean und Julie erobern einander, bezwingen und demütigen sich. Die Ebenen dieses kurvenhaften Emotionsverlaufs geraten ins Wanken, beinah wie bei Jean Genet wechseln ständig die Machtverhältnisse sowie ihre Maskeraden und plötzlich ist man mitten drin im Kampf um Herrschaft und Geschlechterverhältnisse. Fräulein Julie muss schon bald einsehen, dass sie nicht weiß, wie die Welt von unten aussieht. Jean und sie erahnen, aber unterschätzen die prägende Kraft der Klassenunterschiede. In der Sexszene der beiden sind ihre Körper auf ihre Silhouetten reduziert. Ihre Wirkmächtigkeit verdankt sie nicht zuletzt dem hervorragenden Einsatz des Lichts. Der Akt selbst ist kein wildes Rammeln, sondern entbrennt in stilvoller Körperästhetik hinter einem riesigen, halbdurchsichtigen Vorhang und verweist als Moment der Verschleierung auf die triebhaften Kräfte, die unter der sichtbaren Oberfläche der Zurückhaltung brodeln. Das Verlangen kulminiert in Begehren und entlädt sich im Akt. Die Entflammten bleiben nach der Apokalypse der Zweisamkeit in einer emotionalen Ruine zurück, bei der sich Drohung und Bedrohung abwechseln. Von Mäßigung, Halt und Orientierung sind sie weit entfernt.

Ruine eines Verlangens

Am Ende müssen Jean und Julie einsehen, dass es nicht reicht, „auf Purple Haze zu schlafen“, damit ihre Träume wahr werden. Beide ringen um Kontrolle, statt um Liebe. Sie will, dass er gut zu ihr ist. Er jedoch begreift nicht. Schließlich beschwert sich die hintergangene Köchin, sie wolle nicht länger in einem Haus wohnen, in dem man keinen Respekt mehr vor der Herrschaft hat. Ein Fehler. Am Ende kommt Solidarität nicht einmal unter den beiden Frauen auf, als Julie vorschlägt, man könne zu dritt fliehen. Nein, in diesen Verhältnissen verträgt man sich nicht.

Zwei, die keineswegs zimperlich miteinander umgehen/Foto: Birgit Hupfeld

Mittendrin findet sich die Darbietung einer großartigen Dagny Dewath, zwischen Dominanz und Geworfenheit und ein Andreas Bittl, der spielt als befände er sich in einem Rammstein-Video. Präzise zeichnen sie alle kaleidoskopischen Zersplitterungen der Emotionalität nach. Charmant richten sie einander mit ihren Worten und ihrem Spiel regelrecht hin. Dewath gelingt es mit der Intensität ihrer Mimik, alle Nuancen von Raserei, über Wut, bis hin zu quälender Verzweiflung zu erörtern, bis plötzlich sogar den Zuschauern die Tränen in den Augen stehen. Es gibt diese großen Szenen, in denen man ihr jede Regung, jedes Wort abnimmt. Alle Schauspieler verleihen dieser beeindruckenden Darbietung streckenweise ein geradezu erschütterndes Maß an Authentizität. Ihr leidenschaftliches Spiel straft die Wirklichkeit des Lebens als bloß verblassten Abglanz radikaler Emotionalität Lügen.

Am Ende geht es wie so oft um die verlorene Ehre. Sie fragt ihn, ob er wisse, was ein Mann einer Frau schuldet, die er entehrt hat. Er bedauert, dass das Gesetz nicht vorsieht, was mit einer Frau geschieht, die einen Mann verführt. Da waren sie wieder, die Geschlechterverhältnisse. Diese Inszenierung glänzt mit Aktualität, weil sie nicht bloß eine theatralische Lektion ist. Sie zeigt Ertrinkende auf dem Kampfplatz der Hierarchie, Scham und Schande, die noch immer keine antiquierten Zwangsvorstellungen sind.

Die nächste Vorstellung findet heute, um 19.30 Uhr statt.

Über die Bürde der Literatur

"Die Bergwerkarbeit im Stollen der Geschichte brauchen wir, nicht Belletristik", findet Autor Enno Stahl. Foto: Kirsten Adamek

Wer über die Zeit des Nationalsozialismus spricht, dem hört man zu? Im Anschluss an die Lesung und Diskussion mit Enno Stahl und Carsten Marc Pfeffer kam es zu Irritationen. Unter dem Titel „Heimat & Weltall“ trafen sich die beiden Autoren auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Bochum im Rottstr5-Theater. Ein Besucher der Lesung und der Autor Enno Stahl empfanden die von Stahl geäußerten Sachverhalte als unzutreffend und missverständlich im Artikel zur Lesung wiedergegeben. Daher erhielt Enno Stahl die Möglichkeit, noch einmal dezidiert zu den strittigen Fragen Stellung zu nehmen.  Herausgekommen ist ein Interview mit durchaus streitbaren Thesen.

Weshalb haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Weil ich musste.

Was ist Ihre größte Motivation auch nach Jahren noch immer als Autor tätig zu sein?

Dass ich muss. Und zwar der guten, alten Aufklärung wegen.

Wie würden Sie Ihre literarische Arbeit beschreiben? Wie gehen Sie vor?

Oft ist da nur ein guter Titel. Und ein übergreifendes Erkenntnisinteresse: Medien, soziale Herkunft, urbanes Leben. Dann schält in Bildern und Sequenzen eine Geschichte heraus. Diese versuche ich, durch Material und Quellenrecherchen zu untermauern, d.h. ich versuche damit, Bereiche zu verstehen und darzustellen, die ich nicht aus eigner Anschauung kenne, um die Sache möglichst realistisch und plausibel zu gestalten. Als Letztes kristallisieren sich über zahlreiche Überarbeitungsprozesse Stil und Form des Buches heraus: die Perspektive, die Erzählweise, der Ton. Jedes meiner Bücher verlangt einen eigenen, einen anderen Ton. Deshalb wirken sie bisweilen recht unterschiedlich.

Geht es Ihnen beim Schreiben auch darum, alte literarische Formen aufzubrechen? Wenn ja, welche und inwiefern?

Das vordergründige Aufbrechen tradierter Formen bestimmte die erste Phase meiner Arbeit, so war ich, denke ich, einer der ersten deutschen Spoken-Word-Autoren, das heißt, versuchte, das Medium Lesung weg zu bringen von dieser Wasserglas-und-Blumenstrauß-Ästhetik, vielmehr Intensitäten zu erzeugen, Bewegung und körperliche Action auf der Bühne, wie wir das in den Achtziger Jahren von den Independent-Bands kannten. Auch speiste ich Kunst- und Performance-Elemente ein, zelebrierte LAUT!gedichte mit verzerrter Gitarre oder Schrott-Drums. In meinen Texten, insbesondere den Erzählungen des Bandes „Trash me!“ provozierte ich den Betrieb, indem ich das Ideal hehrer Dichtung decouvrierte, nurmehr das Alltäglichste zum Material meiner Literatur machte (der Lektor eine der größten deutschen Verlage, heute dessen Leiter, sagte: „Das ist gegen den Betrieb geschrieben!“, wurde also verstanden). Gleichzeitig aber „experimentierte“ ich – in der (Anti-)Tradition der Wiener Gruppe – mit fragmenthaften Formen („Die Affenmaschine“, 1988; „Firenze Geometrica“, 1989; „Entropics 1990“, 1991) oder mit parallelen Handlungsschienen („piratebrut!, 1994; „Stete Geburten, Novelle“, 1994). Später, als auch solche Formen der Aufbrüche allzu beliebig wurden, weil fast jeder so was machte, selbst das Establishment, kam ich zu konzentrierteren Erzählformen. Auch deshalb, weil mir klar wurde, dass auf dem „Avantgarde“-Sektor kein freies Gelände mehr zu finden ist: Hinter dem Nullpunkt der Literatur ist eben tatsächlich – nichts.

Auch die Trash-Literatur konnte ich in der Form nicht mehr weiterführen, da sie soziale Bilder nur wiedergibt, nicht aber interpretiert, daher keine wirklich kritische Kraft besitzt. Heute sind meine Stil- und Formbrüche weniger zu spüren, sie finden sich aber in „2PAC AMRU HECTOR“ (2004) in der Ebenen- und Materialmontage, in „Diese Seelen“ (2008) in der untergründigen Verästelung der Geschichten. Das nächste Buch wird ein innerer Monolog, aber nicht wie bei „Molly Bloom“ in der kurzen Zeit vorm Einschlafen, sondern als Mittel zur Wiedergabe eines Plots. Darauf wird wieder ein stark konstruierter, mit viel Originalmaterial montierter Roman folgen.

Auf Markus Tillmanns Frage, ob Literatur aufrütteln kann, sagten Sie, die Vorstellung, dass Literatur aufrütteln kann, sei Ihnen egal. Was haben Sie damit ausdrücken wollen?

Diese Frage wurde immer wieder an Literatur gestellt. Mittlerweile haben wir aber gemerkt, dass die Zeiten, in denen Literatur Revolutionen auslösen konnte wie bei Rousseau und Voltaire, längst vorbei sind. Heute ist Literatur eine im kapitalistischen Verwertungssystem vollkommen integrierte Kulturtechnik. Wie der Film wird sie von ihrem Publikum nicht mehr als etwas Sublimes wahrgenommen, etwas, das in der Lage wäre, die Welt wirklich aus der Distanz kritisch zu betrachten, sondern als Unterhaltung. Wahr und richtig daran ist, dass man der Literatur zu viel aufbürdet, wenn man von ihr verlangt, aufzurütteln in einer Welt von Snuff-Videos, Beschneidung, Elendsflüchtlingen und Massenmord, Bilder und Fakten, die schon für sich Aufstände erzeugen müssten.

Die Folgenlosigkeit der Literatur ist nun so oft festgestellt worden, dass mir die Frage danach einfach schon egal ist. Sie impliziert die Frage, ob ich das mache, was ich mache, um aufzurütteln. Da das aufgrund der genannten Umstände kaum möglich sein kann, beschäftige ich mich damit nicht, sondern mache das, was ich tun muss, weil ich es als meine soziale und künstlerische Verpflichtung ansehe.

Wie ist Ihre Aussage, es sei „belästigend, dass die nachfolgenden Generationen immer noch nationalsozialistische Geschichten erzählen müssen“ zu verstehen?

Was haben sie damit zu tun? Die Autoren der jüngeren Generation, die über ihre Großeltern, Urgroßmütter, Urgroßonkel und Ururgroßtanten usw. schreiben, haben keine echte Kenntnis mehr von dieser Zeit, außer aus dem Fernsehen. Oft gehorcht die Themenwahl allein einem durchsichtigen Erfolgskalkül: Wer über die Nazizeit spricht, dem hört man zu. Sprechen sollten aber jene, die dazu berufen sind: Zeitzeugen oder Historiker, die über ein intensives Quellenstudium immer mehr und neue Details über das Schreckensregime zu Tage fördern. Ich selber arbeite an einem wissenschaftlichen Projekt, bei dem das literarische Leben der NS-Zeit rekonstruiert wird. Man kann nicht behaupten, dass alle kleinsten Rädchen, Stellschrauben und Funktionsmechanismen der Nazidiktatur bis ins Letzte bekannt wären. Die Bergwerkarbeit im Stollen der Geschichte brauchen wir, nicht Belletristik.

Die Ubiquität der literarischen Nazierzählungen verwässert das Thema. Ebenso wie im deutschen Film werden diese Stoffe zumeist an Einzelschicksalen, besonders ungewöhnlichen Ereignissen, Plots und Protagonisten (Rosenstraße, Aimée & Jaguar etc.) aufgezogen. Die tatsächlichen Nazigräuel lassen sich aber nur als Kollektivhorror erzählen (Schindlers Liste). Fällt diese bio-politische Dimension unter den Tisch, führt das eben nicht zur Aufwertung der Einzelschicksale, sondern zu einer Verharmlosung des Terrors. Hier gibt es natürlich Ausnahmen.

Noch mehr stört mich allerdings, dass die fortgesetzte Behandlung von NS-Themen, der ja politische Verantwortlichkeit automatisch zugemessen wird, den Blick auf die Gegenwart verschließt, die durchaus nicht ohne Grauen ist. Verglichen mit der Nazizeit leben wir aber tatsächlich in der besten aller Welten!

Wenn indes in monatelangen Verhandlungen darum gerungen wird, ob HARTZ-IV-Empfänger 5 Euro mehr im Monat kriegen dürfen oder nicht, wenn trotz vermeintlich steigender Beschäftigungszahlen die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in Deutschland permanent steigt, so groß ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, wenn Leute für drei Euro sechzig die Stunde arbeiten, weil die Angst vor Arbeitslosigkeit, also vor sozialem Abstieg, der Würdelosigkeit, dem Ausschluss noch viel bedrängender ist als das Gefühl der Ausbeutung, wenn geistige und seelische Verwahrlosung zunehmend grassiert, eine verfehlte Ausländerpolitik zu unlösbaren Integrationsproblemen geführt hat, alles das, was die Berliner Funktionselite aus Politik, Showgeschäft und Sport mit mitleidiger Teilnahmslosigkeit zur Kenntnis nimmt oder in unzähligen Selbstdarstellungs-Talkshows leidenschaftlich diskutiert – in einer solchen Zeit frage ich mich doch, warum nachwachsende Autoren nicht darüber schreiben, über ihre Gegenwart, das, was sie kennen, was sie umgibt und was zu bekämpfen dringend erforderlich wäre.

Sie haben sich als „bekennender sozialer Realist“ bezeichnet. Was meinten Sie damit?

Sozialer Realismus ist ein Begriff, den ich in einigen Aufsätzen zu definieren versucht habe (Literatur in Zeiten der Umverteilung, 2005 – Sukultur-Leseheft oder Kurzfassung hier: http://ennostahl.de/t_essays.php?id=64, Der sozial-realistische Roman – Sukultur-Leseheft oder hier: http://ennostahl.de/t_essays.php?id=10).

Besser wäre vielleicht noch: Analytischer Realismus.

Wie gestaltet sich Ihrer Ansicht nach das Verhältnis von Literatur zu Politischem?

Das lässt sich so allgemein kaum beantworten. Jede Form von Literatur transportiert eine bestimmte Gesinnung, entweder bewusst oder unbewusst. Trivial- und Unterhaltungsliteratur, aber auch Vieles, was in den Kaderschmieden des deutschen Schrifttums Leipzig und Hildesheim zusammengeschrieben wird, enthält sich vordergründig jeder politischen Aussage, ist gerade darum zutiefst affirmativ, wirkt sich also durchaus politisch aus. Weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur müssen daher – meiner Ansicht nach – einer ideologiekritischen Analyse unterzogen oder anders gesagt: dekonstruiert werden. Doch auch das Gegenteil existiert: Literatur, die sich explizit jeder Politizität enthalten möchte, sich selbst für eher konservativ hält, kann außerordentlich politisch sein. Gutes Beispiel dafür Hans Henny Jahnn.

Ab wann ist für Sie Literatur als Kunstform auch politisch?

Besser wäre die Frage: Ab wann ist sie kritisch? Wenn sie ihre eigenen Voraussetzungen kennt und überprüft, den sozialen Standpunkt des eigenen Sprechens mit einbezieht, wenn sie die unmittelbare Realität mit all ihren sozialen und politischen Aporien in den Blick nimmt, mit den Mitteln der Literatur Missstände namhaft macht – das gilt, wie man leicht erkennt, für sehr viele Werke der Weltliteraturgeschichte von Grimmelshausen über Laurence Sterne, Heine, Stendhal, Flaubert, Zola, Cechov, selbst Joyce.

Ist politisches Engagement auch Aufgabe von Autoren?

Natürlich. Ob dieses Engagement allerdings darin besteht, sich einer Sitzblockade einzureihen oder das zu tun, was der Autor am besten kann: schreiben, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das werte ich nicht, sondern halte beides für gut und legitim.

Wie halten Sie es selbst damit in Ihren Büchern? Wie viel Politisches steckt in Ihrer eigenen literarischen Arbeit?

Ich glaube, das habe ich ausreichend beantwortet. Zudem beantwortet es der Literaturbetrieb auf seine Weise: Schauen Sie sich einfach die Rezensionen an, auch bestimmte Nicht-Rezensionen sprechen da eine deutliche Sprache.

Welche Frage hätten Sie bei der Podiumsdiskussion im Anschluss an die Lesung gerne gestellt bekommen?

Da habe ich keine Präferenzen, sondern bin ganz offen für die Bedürfnisse und die kreative Neugier der Rezipienten.

Was war nach der Lesung und der Podiumsdiskussion Ihr persönliches Resümee des Abends?

Es war gut. Auch wenn von einer Podiumsdiskussion – aus Zeitmangel – keine Rede sein konnte. Es war ja nur ein Gespräch zwischen Autoren und Moderator. Tatsächlich hörte ich später, dass manch einer aus dem Publikum sehr gerne noch Fragen gestellt hätte.

Mit welchem Eindruck hätten Sie Ihre Zuhörer am liebsten auf den Weg nach Hause entlassen?

Unterhaltendes und Nützliches erfahren zu haben.

Heimat & Weltall – Es kommt darauf an, was man weglässt

Blogger Carsten Marc Pfeffer / Foto: Chantal Stauder

Frank Zappa trifft auf Radiohead: Literarische Altersmilde und ironisch-provokative Selbstinszenierung trafen sich auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Bochum auf dem Betonboden, der die Welt bedeutet. Der Autor Enno Stahl und der Blogger Carsten Marc Pfeffer gewährten bei ihrer Lesung im Bochumer Rottstr5-Theater Einblicke in ihr literarisches Schaffen. Die Autoren treffen sich im Punk und Trash, arbeiten jedoch grundverschieden. Der eine rüttelt an den Tabus, der andere packt sie sanft in Watte.

Im anschließenden Autorengespräch befragte Germanistikdozent Markus Tillmann die zwei zur Situation deutschsprachiger Gegenwartsliteratur und der Suche nach neuen literarischen Formen.

Carsten Marc Pfeffer ist die Nervosität deutlich anzumerken. Es dauert jedoch nicht lange, bis er seinen Flow gefunden hat. Der Bochumer ist Blogger, Musiker und Dramaturg. Pfeffer liest zwei Beiträge aus seinem Local Heroe`s Diary: Weil es Liebe ist und Ein Fest für Boris (A-Seite). Pfeffer sagt, dass er zwar früher schon viel herumprobiert habe, aber eigentlich noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehe. Das ist es jedoch, was seine Texte authentisch wirken lässt. Das Eckige, das Kantige, die Brüche sind es, die schließlich verfangen. Pfeffers Texte besitzen Aktualität, Präsenz und zeugen vom Versuch des Experimentellen. Die schöpferische Zerstörung von literarischen Formen betreibt er souverän und gerne provokativ. Pfeffer erklärt, er modelliere so lange, bis er es selber glaube. Das Publikum belohnt den Mut und die semantischen Grenzübertritte.

„Ein bisschen Ecstasy in den Tee wäre die gerechte Strafe.“

Autor Enno Stahl/Foto: Kirsten Adamek

Enno Stahl ist promovierter Germanist, Schriftsteller und Performer. 1988 gründete im Anschluss an seine Mitherausgeberschaft der Literaturzeitschrift ZeilenSprung den KRASH Verlag. Gefeiert wird er für seine „vitale, wendige High Speed Prosa“, mit der es ihm gelingt, Sozialisation literarisch einzufangen. Dazu widmet er sich einer Schau der Arbeitslosenwelt und den damit verknüpften Auswirkungen auf die menschliche Mentalität. Hierbei bedient er sich einer besonderen Erinnerungstechnik, bei der er zurückgeht zu Vergangenem und es in die Gegenwart holt. Stahl erklärt, man müsse viel „dran rummachen, dass die Sprache so schnörkellos und schlicht wird“.

Stahl ist „bekennender sozialer Realist“. In seinen Büchern widmet er sich Orten, Wegen und Pflanzen. Ein Aufbrechen alter literarischer Formen? – Nein. Das sei nicht das, was er will. Ein Abbild der Gegenwart möchte er liefern, Bilder die irgendwie „peppig“ sind. Seine Texte müssen auch nicht chronologisch gelesen werden, sagt er. Stattdessen könne man als Leser eine eigene Lesart finden. Stahl gibt zu, er sei auch ein wenig punksozialisiert. Aber Worte wie „Prollschlampe“ klingen in dem ausgearbeiteten und glatt gefeilten literarischen Kontext, in den Stahl sie bettet, brav und anständig. Er schreibt über die 80er Jahre, die Penne und Krawattennudeln, lässt seine Charaktere „Der letzte macht das Licht aus“ sagen und beschreibt aufgetragenen Lippenstift als „kitschigen Kranz“. Die Auszüge, die Stahl aus seinem aktuellen Buch Heimat und Weltall aus dem Jahr 2009 liest, sind deutlich temporeicher als die Passagen aus seinem Roman Diese Seelen von 2008.

Recherchieren für die Gegenwart

Ob Literatur aufrütteln helfen kann, sei ihm egal, sagt Stahl. Stattdessen plädiert er für eine grundsätzliche Kritik der demokratischen Gesellschaften, „die – wie alle immer sagen – die beste aller möglichen Welten sei“.

Er findet es belästigend, dass die nachfolgenden Generationen immer noch nationalsozialistische Geschichten erzählen müssen. Er vermutet, dass er es vielleicht nicht ertragen kann und nicht ertragen will, politisch tätig zu sein. Er ist auch der Ansicht, Literatur müsse nicht per se politisch sein, sie werde es lediglich durch Ideologiekritik. Stahl hat etwas gegen inhärente Politizität und „diese Neue Subjektivität“. Indem er ein bestimmtes soziales Milieu schildert, hebt er politische Angelegenheiten in seinen Protagonisten auf, so dass die Dinge auf einer Metaebene anders werden und Gestalt annehmen. Für Pfeffer hingegen ist Literatur als Kunstform „immer schon politisch, weil sie immer auch eine Differenz aufmacht.“

Kulturhauptstadtjahr 2010 – Eine Bilanz für Bochum

Bochumer Kulturdezernent Michael Townsend/Foto: Stadt Bochum

Für den Bochumer Kulturdezernenten Michael Townsend war das Kulturhauptstadtjahr 2010 ein „Durchlauferhitzer“ für Kulturinstitutionen. Im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets zog er Bilanz für Bochum. Dabei ging er offensiv mit der kritischen Berichterstattung diverser Medien und der dort kommunizierten Skepsis um. Der Kulturdezernent räumte ein, dass es insgesamt Verbesserungen bedürfe, was die Kommunikation zwischen den einzelnen Beteiligten und die Kommunikation mit der Stadt betrifft. Lob erhielten vor allem die kreativen Köpfe Bochums.

„Machen wir uns nichts vor. Wir haben hier keine Puppenstuben-Altstadt. Aber wir haben die Kunst und die Kultur.“ Townsends persönliche Bilanz für Bochum als Begleiter und Gestalter fällt ambivalent aus: Große Teile der Bevölkerung – nicht nur Bildungsbürger – seien eingebunden  und beteiligt gewesen. Nachhaltigkeit sei zwar nicht direkt durch die Kulturhauptstadt, jedoch in ihrer Peripherie entstanden. Für die Zukunft wünscht er sich Bochum als Bildungszentrum mit hochwertiger Kultur und einer eigenen kreativen Szene. Die Stadt habe enormes Potential und gute Aussichten auf ein Alleinstellungsmerkmal.

Sofern man nicht überambitioniert sei, könne man  insgesamt  zufrieden sein. Mit 25 Projekten Bochumer Institutionen sei man im Ruhrgebiet federführend gewesen. Dazu zitierte Townsend aus einem WAZ-Artikel („Bochum, die Kulturhauptstadt im Revier“) von Jürgen Böbers-Süßmann, in welchem dieser darauf verwies, dass an drei Tagen zum Teil über 80 Termine angeboten wurden und zu dem Urteil kam: Bochum ist die Kulturhauptstadt im Revier. Townsend lobte den Tenor des Zurufs. Schon vorab habe sich in Bochum ein kulturlastig orientiertes Bild geboten. Er fragt, ob eine Stadt dieser Größenordnung solch ein Kulturangebot benötigt und findet: Ja. Immerhin sei Bochum das größte Bildungszentrum der Region.

Jahrhunderthalle Bochum: Verhandlungen um die Übernahme laufen. / Foto: Stadt Bochum

Trotz Kürzungen des Kulturbudgets um 18 Prozent war es gelungen, ein funktionierendes Konzept zu entwickeln. Townsend räumt ein: Nachdem die Haushaltsbilanz der Stadt vorlag, habe man keine Handhabe mehr im Bereich der freien Projektförderung gehabt. Mit 9 Millionen Euro Förderung konnte man immerhin das Fortbestehen vorhandener Kultureinrichtungen sichern, trotz konkreter Schließungsdiskussionen. Zurzeit verhandelt die Stadt Bochum die Übernahme der Jahrhunderthalle vom Land. Man sei bestrebt, einen möglichst risikofreien Vertrag für die Stadt auszuhandeln. Ansonsten würde man künftig nicht mehr mitbestimmen können, was in der Jahrhunderthalle passiert. Außerdem könnten die daran hängenden Projekte nicht realisiert werden.

Kreativität von Unten

Rottstr5-Theater/Foto:Chantal Stauder

Besonders für die freie Szene gab es viel Zuspruch. Diese sei in Bochum außerordentlich spannend. Riesiges Lob erntete das Rottstr5-Theater. Viele wollen wissen, wie es mit dem Viertel um die Rottstraße weitergeht und ob die Stadt daran beteiligt sein wird. Auf Nachfrage gerät Kulturdezernent Townsend ins Schwärmen: „Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, dahin zu gehen. Da geht die Post ab. Der Chef nimmt Ihnen das Geld ab, spielt drei Stunden, verkauft Ihnen in der Pause Bier und brät Ihnen `ne Bratwurst und geht dann wieder auf die Bühne. Da zahlen Sie zehn Euro und kriegen Fantastisches geboten.“ Gerne würde man es in die institutionelle Förderung aufnehmen. Leider könne man das Theater seitens der Stadt nicht fördern. Die Summe, die das Off-Theater von der Sparkassenstiftung erhält, reiche lediglich, damit es nicht schließen muss. Deswegen hofft er, dass noch mehr finanzielle Förderung dieser Art dazukommen wird. Er ist sich jedoch sicher, in keiner anderen Stadt wäre ein Erfolg der freien Szene wie in Bochum möglich. Denn hier gebe es insgesamt eine große Faszination für Theater. Besonders junge Leute könnten sich hier für Theater begeistern.

Townsend freute sich auch über die Nennung des Ehrenfelds in der Zeitschrift Prinz als das Viertel für Kreative. Er ist sich sicher, die Außenwahrnehmung des Ruhrgebiets ändert sich: „Manche gehen immer noch davon aus, dass hier Briketts durch die Luft fliegen. Dass sich daran etwas ändert, haben wir auch solch identitätsstiftenden Projekten wie den Schachtzeichen oder der Extraschicht zu verdanken.“ Aber auch für die Wahrnehmung Bochums stellt er einen Wandel fest. „Mit Anselm Weber sind wir wieder wer“, findet Townsend. Was die interkulturelle Kultur betrifft, ist der derzeitige Intendant des Bochumer Schauspielhauses für ihn wegweisend. Das zeige vor allem die Rezeption im Großfeuilleton. Als Beispiel nannte er Mahir Günsirays Faust-Inszenierung.

Europäisches Versprechen

Der Platz des europäischen Versprechens dagegen ist für so manchen eine eher peinliche Angelegenheit. Das offen angelegte Projekt wurde von der Stadt anfinanziert und scheint nun im Sande zu verlaufen. Townsend erklärt, die ursprünglichen Kosten hätten sich bereits verdreifacht, nicht zuletzt, weil die Materialwahl auf armenischen Granit gefallen war. Der Steinlieferant ist mittlerweile insolvent. Zumindest baulich werde das Projekt abgeschlossen. Die geplante Lichtinstallation wird von den Stadtwerken Bochum finanziert. Wegen des Armenien-Granits war es zwischen der Stadt und der lokalen Handwerksinnung zu Streitigkeiten gekommen. Die Innung warf der Stadt vor, sie habe den Auftrag ohne Ausschreibung an einen persönlichen Wunschlieferanten des Künstlers Jochen Gerz gegeben. Klaus Bielfeld, Obermeister der Bildhauer- und Steinmetz-Innung Bochum, kritisierte das Vorgehen als fiesen Filz und sagte, Bochumer Betriebe hätten das Material für einen deutlich geringeren Preis geliefert.

Kulturtourismus als Metropolenchance?

Für die kommende Dekade setzt er auf Kulturtourismus und Kreativquartiere. Townsend warnt jedoch, man dürfe Kreativwirtschaft nicht überbewerten. Die Thesen Richard Floridas (Toleranz, Technologie und Talent) seien zwar längst Allgemeingut geworden, dennoch sei Kreativwirtschaft nicht die Lösung für alles. Man arbeite derzeit intensiv an der Weiterentwicklung des Bereichs um Prinz-Regent und die Zeche, die sich seit 30 Jahren ohne Subventionen hält. Das Viertel, in dem auch das Musik-Label ROOF Records ansässig ist, soll neben dem Ehrenfeld und dem Viktoriaviertel ebenfalls ein eigenes Kreativquartier werden. Dazu müsse man die Ansprüche realistisch halten und Experten für fundierte Ausarbeitungen Zeit lassen. Dennoch plädiert der Kulturdezernent für gewachsene Strukturen und die daraus entstehenden Synergien. Er wünscht sich „konstruktiven Wettbewerb, um Konzepte für Exzellenz voranzutreiben.“

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Weiter Wahnsinn wagen

Intendant Arne Nobel zieht Bilanz/Foto: Chantal Stauder

Wer noch immer glaubt, in Bochum gebe es keine Künstler, wird im Falle des Bochumer Rottstr5-Theaters eines Besseren belehrt. Das hat kürzlich auch die Sparkasse Bochum eingesehen. Die Sparkassenstiftung gewährt dem Off-Theater erst- und einmalig eine Projektförderungssumme in Höhe von 25.000 Euro. Die neue Spielzeit steht unter dem Motto Kulturhauptstraße Rott 2011 und widmet sich im kommenden Jahr den Nibelungen. Nach 16 Monaten Wagnis zieht Arne Nobel, Intendant des Rottstr5-Theaters, im Interview Bilanz.

Stand das letzte Jahr noch im Zeichen Trojas, knüpft sich die Rottstraße mit den Nibelungen in den kommenden Monaten die ganz großen Themen vor. Die WG-Probleme von Lieschen Müller überlassen sie lieber dem Stadttheater. Zu den Nibelungen ist monatlich eine Premiere geplant. Den Auftakt beginnt das Theater mit Superheld Siegfried. Brauchen wir heute noch Helden? Eine Antwort sollte bis März gefunden werden, denn dann widmet sich Regisseur Hans Dreher auch schon Siegfrieds Tod. Außerdem wird ein Trauerspiel von Hebbel zu sehen sein. Fürs Frühjahr ist darüber hinaus unter dem Titel Die Nibelungen lesen eine 24-Stunden-Non-Stop-Lesung geplant. Dazu ruft das Rottstr5-Theater Bochumer Autoren, Journalisten und Schulklassen auf, kurze Texte oder Gedichte zu verfassen und diese bei der Lesung selbst vorzutragen. Interessierte hauen in die Tasten und schicken ihre Texte per E-Mail an: mail@rottstr5-theater.de

6 Schuss, 6 Monologe

Wer nicht so lange warten möchte, kann sich bei der Premiere von Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ (Regie: Oliver Paolo Thomas) am 22. Januar davon überzeugen, ob die Hölle wirklich die Anderen sind. Unter der Moderation der Heiligen Drei Könige (Arne Nobel, Hans Dreher und Felix Lampert) findet zudem am Donnerstag um 19.30 Uhr eine visuell unterstützte „innerdeutsche Aufarbeitung“ der Vergangenheit des ehemaligen „Elitesoldaten“ Dreher statt. Zu Beginn der Woche wurde der vorläufig letzte Jahrgang für die Bundeswehr eingezogen, vielleicht auch deshalb überträgt Einslive Plan B am 6. Januar die Aufarbeitung der Militärgeschichte des Regisseurs Hans Dreher beim Three-Kings-Jukebox-Bingo im Bochumer Rottstr5-Theater.

Vom 7. bis zum 9. Januar findet das Revolver-Wochenende unter dem Motto „6 Schuss. 6 Monologe.“ statt. Am ersten Abend sind Richard III. und Nach Troja (Heimkehr) zu sehen: Zwei Kriegshelden, die gleichzeitig auch Opfer sind. Am Samstag folgt das Duett aus S.-Requiem für Sylvia Plath und Werther, zwei traurige Briefe- und Gedichteschreiber. Diese werden am Sonntag von den Utopisten abgelöst. Der eine träumt den Traum eines lächerlichen Menschen und der andere genießt Wodka in Dublin. Mit der neuen Spielzeit kehrt auch Cosmic Baseball zurück in die Rottstraße.

Es folgen 15 Fragen zur Finanzspritze, Kulturhauptstraße Rott 2011 und dem Traum vom freien Theater:

"Es klappt alles, das ist der größte Erfolg." / Foto: Chantal Stauder

Wie fällt euer Fazit für das Jahr 2010 aus? Kann man sagen, dass es ein erfolgreiches Jahr für euch war?

Unfassbar erfolgreich. Wir haben es geschafft, jeden Monat mindestens eine Premiere zu veranstalten. Wir sind unglaublich gewachsen was das Personal angeht. Die Crew hat sich vergrößert. Bei der Weihnachtsfeier zum Beispiel, die wir in diesem Jahr veranstaltet haben, sagte die Hälfte ab und wir saßen trotzdem mit mehr als 20 Personen da, die man alle sehr lieb gewonnen hat. Es gibt Geschichten und Verbindungen zu mehr als 20 Menschen, was auch ein persönlicher Erfolg ist. Der Laden trägt sich selbst, von den Zuschauerzahlen her. Alle Kritiken zu allen Stücken, die man gemacht hat zeigen, es ist nichts gefloppt, was unfassbar ist. Natürlich sind wir auch stolz auf die Nennung zum Theater des Jahres in verschiedenen Zeitungen. Wenn man bedenkt, dass wir vor einem Jahr noch ein Geheimtipp waren und jetzt überregional solch eine Resonanz erhalten, wird es schwer, die Erfolge noch zu toppen. Wir bekommen viele Anfragen von außerhalb, was toll ist. Der große Erfolg ist, dass anscheinend alles klappt. Wir haben unsere Ideen verwirklicht. Zum Beispiel Carsten Marc Pfeffer für vier Tage zu uns einzuladen, damit er über den Probenprozess bloggt. Und herausgekommen ist ein unglaublich toller Text. Auch, dass wir nach über 13 Jahren wieder mit Björn Geske zusammen arbeiten. Und das Tollste ist, der Laden macht auch noch Spaß! Vor allem unser Kinder- und Jugendtheater. Es klappt alles, das ist der größte Erfolg.

Welche besonderen Momente gab es für euch im letzten Jahr?

Jede Premiere war richtig schön, so dass man merkte, dass man es wieder mal geschafft hat. Ganz besonders Räuber Hotzenplotz. Und das ist jetzt keine Koketterie. Niemand musste zum Dienst eingeteilt werden. Alle waren da und haben geguckt, was die wundervollen Truffaldinos (Anm.: Jugendclub des Rottstr5-Theaters) auf die Bühne gebracht haben. Traurig war, das Konzert von Bad Boy Boogiez verpasst zu haben, weil ich krank war.

Was hat es mit dem Slogan „Kulturhauptstraße Rott 2011“ auf sich?

Ich war enttäuscht von der Kulturhauptstadt.2010 und habe überlegt, was fand ich gut, was kann man besser machen, was sollte öfter stattfinden, was war schön? Das war der Gedanke, natürlich mit einem Augenzwinkern. Es war nur überraschend, dass sich daraus direkt Kooperationen entwickeln und jeder eine Idee hat, was man machen könnte, um den Mächtigen zu beweisen, dass man nicht Milliarden ausgeben muss. Wir schaffen was Eigenes, was Nachhaltiges. Dazu ist genug Potential in der Rottstraße und in Bochum vorhanden.

"Wir haben keine Angst mehr vorm Scheitern." / Foto: Chantal Stauder

Was kannst du über die Subventionen seitens der Bochumer Sparkasse verraten?

Wir haben uns beworben und mit Herrn Townsend gesprochen, der einen Ausgabenstopp von der Stadt auferlegt bekommen hatte. Wir haben ihn nach Möglichkeiten der Förderung gefragt. Er hat uns dann auf die Sparkassen Stiftung hingewiesen. Dort haben wir dann ganz normal einen Förderungsantrag gestellt. Sie haben uns gewogen und für schwer genug befunden, wofür wir sehr dankbar sind. Wir haben viele angesprochen. Die Stadtwerke sind nun Werbepartner und der Intershop, der für mich die zweite große Kulturinstitution in Bochum ist. Lobo (Anm.: Friedhelm „Lobo“ Kerskis) vom Shop unterstützt uns also auch.

Euer Wunsch vom letzten Jahr nach finanzieller Förderung wurde erfüllt, was steht nun auf der Wishlist?

Der Wunsch ist teilweise erfüllt worden. Wir hatten die Befürchtung, eine Förderung könnte korrumpieren. Aber die Summe ist nicht so hoch, deswegen glaube ich nicht, dass es da eine Gefahr gibt. Wir werden uns unseren fröhlichen Anarchismus bewahren. Die Produktionsbedingungen werden im Grunde gleich bleiben. Die Summe ist eher eine Überlebensrettung. Ich wünsche mir, dass wir das Niveau halten und die Stücke für die Nibelungen so machen können, wie wir uns das vorstellen. Und, dass wir uns nicht untreu werden. Ein Zuschauer sagte zu mir, wir sollten weiterhin so demütig bleiben, aber den Kopf höher tragen.

Welche Erfahrungen nehmt ihr aus dem Jahr für 2011 mit?

Dass man Montage freimachen muss, was natürlich nicht immer klappt. Dass man genau diesen ganzen Wahnsinn weiterhin wagen muss. Dass wir unsere Ideen weiterhin verfolgen sollten. Wir nehmen auch unheimlich viel Selbstbewusstsein mit. Wir haben keine Angst mehr vorm Scheitern.

Welche Stücke sind am besten besucht?

Fight Club, das ist anscheinend irgendwie Kult. Da gehen die Leute auch mehrfach rein. Aber insgesamt pendelt es sich alles so zwischen 20 und 30 Leuten ein. Zum Beispiel bei der letzten Werther-Vorstellung, da wurden die Hälfte der Reservierungen wegen des Schneesturms abgesagt und plötzlich stehen um kurz nach 19 Uhr schon 15 Leute da.

Welche Inszenierung würdest du jemandem empfehlen, der noch nie im Rottstr5-Theater war?

Das kommt immer darauf an, wem ich das empfehlen soll. Jemandem, der nicht oft ins Theater geht würde ich Fight Club empfehlen. Wer gerne ins Theater geht, sollte sich Fräulein Julie ansehen.

Warum sollte man gerade euer Theater unterstützen?

Weil wir ehrlich und authentisch sind. Weil wir es alleine auf die Beine gestellt haben. Weil jeder, der kommt sieht, dass wir versuchen, die Welt damit ein wenig besser und schöner zu machen. Und weil es funktioniert und wir die Kohle nicht für irgendeinen Technikscheiß ausgeben, sondern nur für das Nötigste und immer nur, um weiterzumachen.

Schlingensief sagte der Neuen Zürcher Zeitung im Juli 2010 im Interview: „Die meisten Intendanten heute sind so kleine, zarte Pflänzchen, die ihr Programm mixen – ein Stück für die Oma, ein anderes für den Opa, für die Jugend ein wenig Hip-Hop oder Punkrock und für die Kinder Trallala. Ich finde aber, dass man das Theater auf diese Weise einfach nicht ernst nimmt, auch wenn man damit Zuschauerzahlen erzielt.“ Macht man das Theater in seiner Grundexistenz auf diese Weise wirklich platt?

Ja, ich habe den Verdacht, dass sich da abgeschafft wird. Wenn du ein starker Intendant bist, wie Peymann (Anm.: Claus Peymann übernahm 1979 die Intendanz am Schauspielhaus Bochum) oder Steckel (Anm.: Frank-Patrick Steckel übernahm die Intendanz ab 1986), dann können sich Kulturdezernenten dich nicht mehr leisten. Jemanden wie Schlingensief zu engagieren, Gott hab ihn selig, jemanden, der immer Position bezieht, das ist auch für Kulturverantwortliche schwierig. Haußmann (Anm.: Leander Haußmann übernahm 1995) hat mal gesagt, ein Stadttheater darf sich für nichts zu schade sein.

Muss Theater kommunizierbar bleiben?

Auf jeden Fall. Theater ist Kommunikation. Das ehrlichste und direkteste Medium. Es kann jederzeit etwas passieren. Die Vorstellung kann unterbrochen werden. Es ist auch toll, wenn Schauspieler abends miteinander sprechen. Das ist ja meine Hoffnung. Statt, dass man ständig etwas vorgesetzt bekommt, wie im Fernsehen. Das Theater ist uralt als der Aufstand der Menschen gegen die Götter. Ich hoffe, dass es eine Rückbesinnung ist, dass Menschen mehr Lust haben darauf. Es ist große Kommunikation, da gibt es die großen Themen.

Ist freies Theater Utopie, stirbt es aus oder ist das nur sein Ruf?

Ich glaube nicht, dass es ausstirbt. Die Frage ist, was man als freies Theater bezeichnet. Weder freies, noch kleines Stadttheater stirbt aus. Die großen Stadttheater sind zu teuer mit ihrem Apparat und nicht schnell genug. Es wird immer mehr freie Truppen und Theater geben. Wir entwickeln uns wieder zu dem fahrenden Volk, das wir einst waren. Bei staatlich subventioniertem Theater besteht die Gefahr, dass es langweilig wird. Da passiert vorher einfach viel zu viel, anstatt einfach Theater zu machen und die Künstler was Tolles produzieren zu lassen. Das kann man eher in der freien Szene machen. Natürlich sind die Leute enttäuscht, die in den 80er und 90er Jahren angefangen haben, die wurden zunächst viel subventioniert. Aber es gibt noch genug Irre, die diese Sehnsucht, diesen Zwang empfinden, sich auszudrücken, vor allem in unserer überdigitalisierten Welt.

Was war deine beständigste Motivation, freies Theater zu machen?

Die Freiheit.

Was motiviert dich weiterzumachen, wenn du mal zweifelst?

Die Verantwortung, die ich für die anderen trage. Mitarbeiter, Schauspieler, Assistenten, die ohne Kohle ihre Freizeit opfern, um Theater zu machen. Ja, die Verantwortung, das gut hinzukriegen und natürlich der Zuspruch des Publikums, wie ich glaube jeder Künstler. Außerdem ist es wie eine Sucht.

Wem möchtest du an dieser Stelle unbedingt einmal Danke sagen?

Bochum. Und meiner Crew.

Found in Translation

Nicola Thomas und Nadja Robiné (Mephisto), Andreas Grothgar (Faust) - Foto: Thomas Aurin

Teufel gibt es viele. Nach der Premiere von Goethes Faust am Schauspielhaus Bochum gab es Standing Ovations, aber auch Buh-Rufe. Nach knapp drei Stunden hatte sich der Regisseur Mahir Günsiray ausgetobt und gleichsam sonderbar erschöpft. Was blieb, das war der andauernde Konflikt zwischen Sehnsucht und Verstand.

Zur Vorgeschichte: „BOROPA“, heißt das Spielplanmotto – die neugestartete Intendanz von Anselm Weber gibt sich weltoffen und experimentierfreudig. Fadhel Jaibi inszenierte „Medea“, Malou Airaudo das Tanztheaterstück „Irgendwo“ und jetzt eben Mahir Günsiray mit dem liebsten Kulturgut der zölibatären Linguisten, Lehrkörper und Theisten: Faust (ersterteilundzwei).

Textversion versus Spielversion

Mahir Günsirays Inszenierung verwandelt den goetheschen Stoff in eine spielfreudige Version, ein bisschen Büchner, Brecht und Kafka reingesampelt und fertig ist die Kiste. Im Subtext kann nun gelesen werden, was sonst im göttlichen Brimbamborium untergeht: Es gibt keine Erlösung, aber eine Menge zu erleben. Denn Gott fehlt, aber Mephisto kommt gleich in achtfacher Ausführung daher. Die multiplen Teile Mephistopheles kopulieren, drohen einander, lachen. Ein bisschen so, wie man sich die alte Fassbinder-Gang vorstellt: Ein Schlachtfeld herrlich polymorph-perverser Teufel, die sich promiskuitiv aneinander berauschen. Alle sind in irgendeiner Weise beschädigt, sie gehen gebückt, sind bandagiert oder hinken. Ihre prunkvollen Kostüme waren einst glitzernd und glänzend, heute sind sie abgefuckt, doch bestechen sie in ihrer Gänze durch schmachtende Phantasie und reizvolle Details. Die verantwortliche Meentje Nielsen hat hier Zierstücke hingeworfen, die sich verschwenden wollen. Dazu die Bühne eines kosmischen Welttheaters als schäbig rotierende Waschkaue der Dead-End-Devotionalien. Claude Leon gönnt den Zuschauern mit ihrem Bühnenbild eine optische Eskalation massiver Details. So ist der Boden bereitet – für ein großes Spiel-mich-schwindelig.

Am Anfang war das Spiel

Bühnenbild von Claude Leon - Foto: Thomas Aurin

In der Hölle ist wirklich alles OK, man rülpst und furzt und manchmal haut man sich auch eine rein (best boys: Florian Lange und Roland Riebeling), doch dann kommt er. Faust, gespielt von Andreas Grothgar, betritt sinnkriselnd mit einem gequälten und ausgedehnten „Ach!!!“ die Bühne. Grothgar hat seinen großen Abend, auch wenn er sich natürlich ein bisschen bei Paul Herwig (Die Labdakiden) abgeguckt hat, besonders wenn er späterhin so staatstragend wird, aber anyway – er ist schon Faust. Für die multiplen Teufel ist er es sowieso. Noch glaubt der Gelehrte, er sei von ihresgleichen. Doch nehmen sie ihn nicht ernst – weder seine Qual, noch seine Sehnsucht. Faust forscht nach dem Anfang. Glaubt ihn zunächst im Wort, im Sinn, in der Kraft zu finden und kommt dann zu dem Schluss: Am Anfang war die Tat. Denn immerhin sei alles Teil dieser Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Und diese Kraft treibt viele Späße mit Faust, der sich auf einen verhängnisvollen Pakt mit den Mephistos einlässt. Einziger Unterschied: In Günsirays Inszenierung schließt Faust den teuflischen Pakt gleich achtfach. Günsirays Faust sieht sich mit der Komplexität einer Welt konfrontiert, in der er sich zurechtfinden muss. Nur gut, dass er nach dem Zaubertrank bald Helenen in jedem Weib erkennt.

One-Night-Stand mit Folgen

Therese Dörr (Mephisto), Andreas Grothgar (Faust), im Hintergrund: Ensemble - Foto: Thomas Aurin

Aus einem der Teufel wird durch eine an Lacan gemahnende Spiegelszene das Gretchen, dem Faust sogleich an die Wäsche will. Drei der Mephistofiguren beenden die erotische Zusammenkunft, diesen Schnellfick auf dem Ölfass. Auf Geheiß des Teufels sticht Faust einen der drei, Gretchens Bruder, nieder. Gretchen fragt nur: „Spinnst du?“ Tja, und mehr ist da eben auch nicht. Schon bei Goethe nicht. Der Rest ist nunmehr seit zweihundert Jahren Onanistenphantasie. Doch weiter im Text. Therese Dörr gibt das Gretchen – von ephemerer Leidenschaft, die nur allzu leicht in Leidensbereitschaft kippt. Gretchen wird schwanger, bringt das Neugeborene um und wird zuerst gefoltert und dann hingerichtet. Die Teufel kehren in Hochzeitskleidern wieder auf die Bühne zurück und tanzen um die Szenerie einen makabren Todesreigen. Gretchen wird ins Hochzeitskleid gezwungen. Das Kind wird gekocht und Faust auf einem Teller serviert. Titus Andronicus lässt grüßen. Während Gretchen im Kochtopf steht, wird ihr weißes Kleid mit Blut bestrichen, man hört das Brechen ihrer Knochen: knack, knack – hundert Prozent echte Gefühle. „Meine Mutter, die Hur, die mich umgebracht hat. Mein Vater, der Schelm, der mich gegessen hat.“

Ordnung muss sein

Andreas Grothgar (Faust), Nicola Thomas, Werner Strenger, Therese Dörr, Nadja Robiné, Florian Lange (Mephistos) - Foto: Thomas Aurin

Da beginnt auch schon der zweite Teil: Von der kleinen Welt wird nun zur großen Welt geschritten. Der Homunculus, eine Art künstlicher Mensch beobachtet mit kindlicher Unschuld, was sich hier zwischen den Figuren zuträgt. Er jedoch hat noch immer nur den Wunsch, im besten Sinne zu entstehen. Als er auftritt, verkündet er „Sobald ich bin, muss ich auch tätig sein“. So bald auch Faust. Nachdem der Schnellficker über sein Gretchen-Trauma ein längeres Nickerchen gehalten hat, erwacht er und will sogleich gestalten. Statt Teufelspakt bedient sich Faust nun zivilisatorischer Errungenschaften. Indem er sich an den Ordnungsvorstellungen eines bürgerlichen Zusammenlebens orientiert, erreicht er genau das Gegenteil. Mit der schönen Helena als archetypischer und völlig langweiliger Frau gelingt es Faust nicht einmal, seinen Sohn Euphorion vor (den selbst begangenen) Fehlern zu bewahren. Als trotzköpfiger Euphorion beweist Marco Massafra an diesem Abend, dass er völlig zu Recht als einer der besten Nachwuchsschauspieler gehandelt wird.

Spul mal vor

Xenia Snagowski (Homunculus), Andreas Grothgar (Faust) - Foto: Thomas Aurin

Das abermalige Scheitern Fausts deutet Günsiray als Vorgriff Goethes auf das Progressive und Zerstörerische der kapitalistischen und postkapitalistischen Welt. Für Günsiray fällt ein nach Höherem strebender Faust – glaubt er sich auch gebildet oder zivilisiert – dennoch seinen Trieben und Sehnsüchten zum Opfer. Im Kleinen und im Großen gilt: „Bist du erst ein Mensch geworden, so ist es völlig aus mit dir.“ Indem Günsiray bei seiner Inszenierung auf den christlichen Gott verzichtet, fällt auch die vermeintliche Annahme eines kosmischen Plans weg, der letztlich sinnstiftend sein könnte. Es obliegt dem Menschen innerhalb des Gegebenen, schaffend tätig zu sein. Doch gibt es keine universellen Konzepte, an denen er sein Tun ausrichten könnte. Vielleicht ist aller Anfang tatsächlich die Tat, aber das menschliche Dasein birgt in jeder Handlung auch immer die Möglichkeit des Scheiterns. Es irrt der Mensch, solang er strebt. Er verliert sich nicht in Spekulationen über Erlösungswege und Lebensführungen. Es gibt nicht das Böse an sich, das sich ausmachen ließe. Es sind immer nur Aspekte, die changieren und einer ständigen Dynamik unterliegen – multidimensionale Phänomene, die von uns als Welt erlebt werden. So war ein diesem Abend eine wunderbar verspielte zeitgenössische Darstellung des goetheschen Stoffes zu erleben.

Feuilleton im Totalausfall

Nadja Robiné (Mephisto), Andreas Grothgar (Faust) - Foto: Thomas Aurin

Wer in den Tagen nach der Premiere einen Blick in die Feuilletons warf, kam nicht um den Eindruck eines Totalausfalls herum. Kaum ein Artikel verzichtete auf die pointierte Bezugnahme auf Günsirays türkische Herkunft. In Ermanglung weiterreichender Ideen musste die nationale Karte ständig ausgespielt werden. Ein Türke inszeniert Goethe! Da wurde gegen Zeilenhonorar von „einen Satz, der uns heilig war“ schwadroniert oder von einem „deutschen Blick“ gesprochen, der dem aus Istanbul stammenden Günsiray „kulturhistorisch gar nicht geläufig“ sein könne. Was soll eigentlich dieser ganze kultur-nationale Scheiß? Peinlicher geht es doch nun wirklich nicht. Man möchte meinen, die Damen und Herren in den Kulturredaktionen hätten vielleicht schon einmal etwas von dem Begriff Ethnozentrismus gehört. Oder gar Deutschtümelei? Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass Britinnen und Briten nicht jedes Mal derart aufschreien, sobald ein Deutscher Regisseur es wagt, Shakespeares Rosenkriegszyklus zu inszenieren. Und eines ist ganz gewiss, meine Damen und Herren: Goethe – nicht zuletzt Verfasser des West-östlichen Divans – hätte angesichts ihrer Zeilen ganz bestimmt gekotzt.

Keine Zielgruppe für schnellere Pferde

Sindelfingen liegt in Baden-Württemberg - Foto: Frank Augustin/agora42

Was ist das für ein Magazin, das mit Goethes Faust Kreditverbriefung erklärt und dessen Name sich nur mithilfe der griechischen Antike und Douglas Adams verstehen lässt? Eine vierköpfige Redaktion in Sindelfingen gibt seit vergangenem Jahr die Zeitschrift agora42 mit Titeln wie „Schulden und Sühne“ heraus – ein Magazin für Philosophie, Ökonomie und Leben. Bonus-Track: Zehn Fragen an den Chefredakteur Frank Augustin über Verantwortung, Finanzen und fehlende Werbeanzeigen.

Auf dem deutschen Zeitungsmarkt konkurrieren im weltweiten Vergleich die meisten Titel um potentielle Leser. Zudem besitzen 90 Prozent der Haushalte kein Zeitungsabonnement. Einer solchen Ausgangslage zum Trotz gründete das junge Quartett im vergangenen Jahr das Magazin agora42. Allein auf die Substanz ihres Konzeptes vertrauend ließen sie sich nicht vom viel beschworenen „Magazinsterben“ oder der Wirtschaftskrise abschrecken. Stattdessen begann das Team auf einem der größten und härtest umkämpften Zeitungsmärkte der Welt, unerschrocken über philosophische und makroökonomische Themen zu schreiben.

Fast drohte Verzweiflung, als sowohl in Sindelfingen als auch in Böblingen alle Postfilialen Betriebsversammlung hatten und sich die Auslieferung der aktuellen Ausgabe um einen Tag verzögerte. In der vierköpfigen Redaktion hat man ein feines Gespür für Themen, was auch die Leser zu wissen scheinen. Das Team, bestehend aus Frank Augustin, Patricia Nitzsche, Wolfram Bernhardt und Nazim Cetin, will zeigen, wie viele Verknüpfungen zwischen Ökonomie und Philosophie im Alltag möglich sind. Die Autoren sind der Ansicht, die Welt sei komplex und werde nicht von RTL dargestellt.

Attische Demokratie und Douglas Adams

Schon allein der Name des Magazins ist klärungsbedürftig. Das altgriechische Wort ἀγορά (Muttersprachler und Bildungsphilister betonen die dritte Silbe) bezeichnete in der griechischen Antike einen zentral gelegenen Versammlungs- oder auch Marktplatz. Hier hatten die freien griechischen Bürger die Möglichkeit, sich zusammenzufinden, um regen Austausch über politische, philosophische und juristische Themen zu betreiben. Die Agora war der Platz, an dem intellektuelle Diskurse entstanden. Die Zahl 42 stellt eine Anspielung auf Douglas Adams Kultbuch „Per Anhalter durch die Galaxis“ dar. Ein von Außerirdischen erbauter Super-Computer mit dem viel versprechenden Namen „Deep Thought“ spuckt auf die Frage aller Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest die kryptische Antwort „42“ aus.

Kontroverse Meinungen, überraschende Perspektiven

Der Chefredakteur des Magazins, Frank Augustin, studierte Geschichte und Philosophie in Stuttgart und arbeitete vor seiner Tätigkeit für agora42 für das Journal für Philosophie „der blaue reiter“. Augustin sorgt dafür, dass die trockenen Theorieanteile auch für Nicht-Ökonomen und –Philosophen verständlich werden. „In der Ökonomie geht es nicht nur um bloße Zahlen, sondern auch um Philosophie. Gerade die Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass Theorie-Modelle an ihre Grenzen geraten können. Denn der Mensch handelt nicht immer klug und rational. Es ist wichtig, umzudenken, und auch ein neues Menschenbild zu entwickeln.“ Der 40-Jährige sagt, er wolle nicht über Chancengleichheit sprechen, wenn die Grundkoordinaten falsch sind. Nazim Cetin, der Herausgeber des Magazins, sprach im vergangenen Jahr beim Philosophischen Café im Hegel-Haus Stuttgart zum Thema „Philosophie und Psychologie der Finanzmärkte“. Wolfram Bernhardt studierte International Business Administration an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt. Eigentlich arbeitet er als Unternehmensberater bei der Kürn Cetin Capital AG. Auf die Idee zu agora42 sei die Gruppe gekommen, als man erkannte, dass Großbritannien mit „The Economist“ etwas habe, das in Deutschland noch fehlen würde, so Bernhardt. Er hofft, das Magazin werde auch in fünf Jahren noch kontroverse Meinungen und überraschende Perspektiven präsentieren und aktiv an der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen.

Kein binäres Entweder-Oder

Neben Vorreitern wie dem Glocalist Magazine und der Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu) ist agora42 das vierte Magazin für Wirtschaftsethik, das auf dem deutschen Markt erhältlich ist. Im Einstiegsteil des Magazins werden immer die wichtigsten Grundannahmen des jeweiligen Magazinthemas in Essayform erklärt, damit auch Fachfremde einen Zugang zum diskutierten Themenfeld des Hefts möglich ist. Weil die Macher komplexe Sachverhalte nicht auf simple Schlagzeilen reduzieren wollen, gibt es zum Ausgleich der Bleiwüste ein entzerrtes und lesefreundliches Layout. Wer die Welt jedoch gerne auf ein binäres Entweder-Oder reduziert, dem ist von diesem Magazin abzuraten. Einfache Antworten werden in den Beiträgen nicht gegeben. Jedes Heft steht unter einem bestimmten Hauptthema, dem Interviews oder Artikel von Gastautoren zur Seite gestellt werden. Die aktuelle Ausgabe des Magazins trägt den Titel „Krieg light“.

Nicht werbetauglich, weil zu kritisch?

Im Magazin finden sich kaum Werbeanzeigen. Vielen potentiellen Werbekunden seien die Inhalte von agora42 zu kritisch, so die Redaktion. Deswegen laute ihr Urteil meist: nicht werbetauglich. Gefördert, etwa durch Stiftungen, wird das Printmedium bisher nicht. Die Zeitschrift der DESA GmbH, erscheint in zweimonatigem Rhythmus bundesweit mit einer Auflage von 10.000 Stück. Für die nächste Ausgabe ist ein Interview mit Günter Wallraff, dem zum Teil umstrittenen Urvater der Sozialreportage, angekündigt – Norbert Blüm hatte kurzfristig abgesagt. Kritisches und Humoristisches kommt im Magazin nicht zu kurz, sondern wird stattdessen kombiniert. So erfährt der Leser in der Rubrik „Gedankenspiele“, dass dem US-Agrarkonzern Monsanto nicht nur 90 Prozent aller genmanipulierten Pflanzen gehören, nein, Monsanto habe nun sogar ein Patent auf zwölf Sexualstellungen angemeldet. In einer Kolumne erklärt Elke Hoff, die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, welche Vorteile eine Freiwilligenarmee gegenüber der Wehrpflicht biete.

Ich -Ausgeburt des Marktes?

Thematisch widmete sich die Redaktion in einer der vergangenen Ausgaben schon dem „Ich – Ausgeburt des Marktes?“ oder beackerte Fragestellungen zur „Vernunft“. Politisch wollen sich die Macher mit ihrem Magazin jedoch nicht einordnen lassen. Nur in einem Punkt beziehen sie dann doch Stellung: „Wir sind mit der Volkswirtschaftslehre, die zum großen Teil von der Profitmaximierungslogik der BWL dominiert wird, nicht einverstanden.“ Die Frage danach, wie der Mensch der Ökonomie am meisten nutzen könne, sei ebenso zentral wie bedenklich geworden. Ökonomische Argumente werden ihrer Ansicht nach oftmals vorschnell ins Feld geführt, um andere Theorien auszuhebeln und ihren Deutungsansprüchen das Wasser abzugraben.

Foto: Frank Augustin/agora42

Es folgt das Interview mit dem Chefredakteur des Magazins, Frank Augustin:

Welches Konzept liegt dem Magazin zugrunde?

agora42 ist ein Magazin für Ökonomie und Philosophie. Es geht darum, das „große Ganze“ unserer durch und durch ökonomisch bestimmten Gesellschaft in den Blick zu nehmen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar zu machen. Wir bemühen uns darum, diese Zusammenhänge anhand einfacher Beispiele verständlich zu machen. Wichtige wirtschaftliche Begriffe werden in vom Text gesonderten Layoutelementen („Infoboxen“) erläutert.

Welche Zielgruppe wollen Sie mit ihrem Heft ansprechen und wer liest es tatsächlich?

Im Gegensatz zum üblichen Vorgehen haben wir uns nicht an einer Zielgruppe orientiert. Wir machen einfach das, was uns notwendig und richtig erscheint. Entsprechend sind die Leser der agora42 nicht einzuordnen; es sind Menschen, die die Zeit, in der sie leben, verstehen wollen – auf der Höhe der Zeit sein wollen.

Gab es eine Marktlücke für ein Magazin wie Ihres?

Wir halten es da mit Henry Ford, der sagte: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt ,schnellere Pferde’“. Anders gesagt: Wir machen die Marktlücke auf.

Was unterscheidet agora42 von Magazinen wie „The Economist“?

Nun, da ist zunächst die Höhe der Druckauflage zu nennen, welche die unsrige (noch) um 1.410.000 Exemplare übersteigt. Davon abgesehen verwenden wir besseres Papier und haben das bessere Layout. Und, nicht zuletzt, bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung: In der agora42 geht es, viel mehr als im Economist, um die Vermittlung von Grundwissen – es wird also erst die Möglichkeit geschaffen, den Economist richtig zu verstehen.

Rentiert sich ein solches Projekt finanziell?

Josef Ackermann wird auf der nächsten Bilanzpressekonferenz ausführlich darüber berichten.

Trägt man als Redakteur eines Magazins mit wirtschaftsethischen Inhalten eine besondere Verantwortung?

Begriffe wie „ethisch“ sind inhaltsleer geworden. Mit Ethik lässt sich heute noch die größte Ausbeutung bemänteln. Uns geht es darum, erst wieder die Grundlagen dafür zu schaffen, sinnvoll über Ethik, über richtiges und falsches Handeln sprechen zu können.

Lässt sich gesellschaftliche Wirklichkeit durch die Beschäftigung mit philosophischen Fragen verändern? Reicht es aus, die Welt anders „zu sehen“, um realen Wandel zu bewirken? Und: Welchen Beitrag leisten Sie in dieser Hinsicht mit Ihrem Magazin?

Die „Wirklichkeit“ ist ja nichts an sich Existierendes. Was wirklich ist, wird dadurch wirklich, dass an eine bestimmte Wirklichkeit geglaubt wird. So existieren beispielsweise die „Marktgesetze“ nur deshalb, weil Menschen an solche „Gesetze“ glauben und sich dementsprechend verhalten. Insofern ist die Sichtweise gerade das Entscheidende. Darum geht es in der agora42.

Steckt in jedem Mensch auch ein „homo oeconomicus“?

Gegenfrage: was ist der Mensch? Warum sollen wir versuchen, uns krampfhaft eine Definition des Menschen aus den Fingern zu saugen? So wenig, wie er nur ein Wirtschaftsmensch ist, ist er durch eine andere Definition festzulegen. Wir sollten uns mehr darum kümmern, endlich die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen herbeizuführen.

Was bedeutet Ihnen das Projekt persönlich?

Kein Kommentar. Wir dürfen unsere Lebenspartner nicht eifersüchtig machen.

Sind Ihren potentiellen Werbekunden die Inhalte des Magazins wirklich zu kritisch, betreiben Sie zu wenig/keine Werbekunden-Akquise oder woran liegt es, dass man in Ihrem Magazin so wenig Werbung findet?

Bei dieser Einschätzung handelt es sich nicht um unsere eigene Einschätzung, sondern um jene einiger Fachleute. Aber die agora42 ist ja ein noch junges Magazin, es kann sich also auch um einen Vorwand handeln – man setzt lieber auf „Bewährtes“ und wartet ab.