Liga der Schädlinge

Heute startet die Zweite Bundesliga in eine frühe Spielzeit. Befürchtet wird eine Gewaltsaison, die SZ widmet sich den „Randalemeistern“ aus Dresden, Braunschweig, Frankfurt, St. Pauli. Dabei ist Gewalt nur ein Ausdruck einer veränderten Lage auf den Kurven. Die Fanszene hat sich gewandelt, radikalisiert. Rund um Ultras ist eine Art Bewegung entstanden für „lebendige Fankultur“, gegen Sicherheitsapparat, Fußballvermarkter und Sportmedien.

Ein Essay zum Ligastart

„Hooligans sind keine Verbrecher“, skandiert der Blonde durch blitzweiße Zähne. Ein Redeflash auf der Bremer Brücke in Osnabrück: Das sei so krass gewesen, 2.000 Mann hätten gesungen, als die „Bullen“ die Bo-City Leute rausgefischt hätten, 2.000 hätten gewartet, bis Bo-City wieder frei kam, müsse man sich vorstellen, auch wenn die Hools doch nicht ins Stadion rein durften, hätten alle gewartet, bis alle frei waren, alle, gewartet, echt …

Der atemlose Blonde ist auf Adrenalin. Im vergangenen Jahrhundert hätte so einer Tennis gespielt. Er reckt den Kopf, als ein älterer Fan übers Absperrgitter will. Ein Ordner steht im Weg, Tritte von oben, der Blonde brüllt: „Wir-krie-gen-euch-all-le“. Dazu Vermummte, einer mit Clownsmaske, die sich auf den Zaun zum Spielfeld schwingen, bengalische Feuer anzünden, ein Transparent entrollen, das zur Akzeptanz von „Emotionen“ aufruft. Vorher Flugblätter, T-Shirts mit Slogans, politische Sprechchöre, Spuckis. Vor dreißig Jahren wäre das als Demonstration durchgegangen.

Piraten der Kurve

Fußballfans, vor allem die jüngeren, die auf Stehkurven und Auswärtsfahrten sind Teil einer Bewegung. Ob sie es wollen oder nicht. Vor allem die seit den 1990er entstandenen Ultras organisieren nicht nur Support im Stadion, sie sorgen für fanpolitisches Grundrauschen, fordern Bewegungs- und Aktionsfreiheit auf den Fußballtribünen, mehr Mitsprache in ihren Vereinen, prägen eine eigene Ästhetik des Widerstands.

Die Themen der Kurve erinnern dabei an die von Netzaktivisten oder Piraten: weniger Verbote, Überwachung, Kriminalisierung, Aussperrungen und Polizeistaat, für Bürgerrechte, Freiheit, Freiräume, Mitbestimmung. Aber natürlich kämpfen die Fußball-Bewegten auch gegen die sportliche Konkurrenz, um Mannschaften mit Identität, Spieler mit Mumm, Trainer mit Erfolg, um Titel oder mindestens um den Klassenerhalt.

History repeated

Aus zaghaften Anfängen – als sich Mitte der Achtziger Jahre Linke, Punks, Autonome vor allem beim FC St. Pauli auf die Tribünen trauten und gegen Rassismus, Neonazis und im Zusammenspiel mit neuen Fanprojekten für den Erhalt einer neu entdeckten, neu titulierten „Fankultur“ stritten – wuchs etwas eigenes, starkes, freilich weniger ideologisch politisches heran. Eine Jugendkultur, Jugendbewegung, Subkultur – auch weil sie aneckt.

Den  Aktiven auf den Fankurven ergeht es heute ähnlich wie den Atomgegnern der 1970er, den Linksautonomen der 1980er Jahre. Dissidenz und Aktivismus, Eskalation und Radikalität wachsen in dem Maße, in dem der Mainstream ablehnt. Geschichte wiederholt sich.

Ohnmacht in der Fußballwelt

Im Staatsrundfunk und Gazetten wurde seinerzeit selbst über Latschdemos gegen Nato-Doppelbeschluss mit gestutzten Zahlen und in abschätzigem Tonfall berichtet. Und mit jeder Sendeminute stieg die Verdrossenheit auf Staat und Apparat. Nach dem deutschen Herbst, in Wendezeiten wurde noch jede Provinzkundgebung mit Hundertschaften in Kampfmontur begleitet. Für die auf der Straße waren die Fronten klar. Der Gegner saß am Mikrofon, im Bundestag oder hatte ein behelmtes Gesicht, Schlagstöcke, Pferde. ACAB, bei Fußballfans findet sich das heute wieder – ob Ultra oder hartnäckiger Auswärtsfan, sie sind Dissidenten, draußen, ausgegrenzt.

Fans auf Zäunen, Fans auf dem Platz, Fans blockieren Mannschaftsbusse, Fans mit Bengalos. In Sportschau, auf Sky oder Sat 1 werden die, die sich so zeigen, unisono verurteilt als des Fußballs „hässliche Fratze“. Wer Rauchmittel zündet, ist „Chaot“, „so genannter Fußballfan“ – „Szenen, wie wir sie im Fußball nicht sehen wollen“, empört sich die Reporterbank im kollektiven Beißreflex. Dabei ist es dreist, nein: letztlich unverantwortlich, einem Jugendlichen, der sich mit kaum etwas außer Fußball beschäftigt, ausgerechnet das abzusprechen, was ihn ausmacht, Fußballfan zu sein. Weil es trotzdem geschieht, entsteht Ohnmacht in der Fußballwelt.

Gewalt gegen Kamera

Eine Jugendbewegung wuchs heran, die sich nicht verstanden fühlt in ihrer Besessenheit, ihren Abgrenzungen, Ritualen und Konkurrenzkämpfen, in Provokation und Ausschreitung. Eine Szene, die zunehmend – und anders, ungeregelter als die Hooligans – ausrastet gegen Sachen, Ordner, Polizisten. Es ist auch eine Eskalation von Leuten, die im Abseits stehen. Etwa im Frankfurter Commerzbankstadion, ein Spielfeldsturm,  eine zertrümmerte Spezialkamera.

Doch wer Ultras weitgehend nur als „hirnverbrannte Idioten“ hinstellt, darf sich nicht wundern, wenn sie sich genauso verhalten. Erstaunlicherweise ging nach der Sachbeschädigung an der Ultra-HD-Kamera ein Aufschrei durch die Medienlandschaft. Lauter, als wenn Ordner und/oder Polizisten und/oder Fans und/oder Publikum ins Krankenhaus geprügelt werden; – vielleicht ist das zu sehr Alltag.

Heile Fußballwelt

Es tobt ein ungleicher Kampf um den Fußball, nicht weniger als der Konsensapparat einer stark zerklüfteten Gesellschaft. Bundesliga, Nationalmannschaft, nun auch Fußballfrauen, sind das ganz große Joint Venture von Staat, Verbandswesen und Konzernwirtschaft. Im Fußball findet das Land zur Einheit, freilich eine pseudo Gemeinschaft aus VIP-Logen und Stehrängen, die spätestens bei An- und Abreise zerfällt in angebelltes eingepferchtes angerittenes umzingeltes Fuß(ball)volk , gequetscht in Bahnen und Bussen, im Rückstau – während Logenpächter, Fußballermöglicher und Vereinsfunktionäre noch miteinander anstoßen.

Früher hatte offene Politik das Stadion zu meiden. Das harsche Publikum wollte keine Instrumentalisierungen. Heute sind sie es selbst, ist der Fußball zum Spielfeld der Träume geworden von Politik, Wirtschaft, Werbung. Hier wird sie ausgebrütet die ideale Gesellschaft, Utopia, Geschichten aus dem Sommer-Märchenbuch. Hier soll sich Fußballdeutschland feiern, seine besten Söhne und Töchter, multikulturell, weltoffen und heimatverbunden, patriotisch und gastfreundlich, taktisch-technisch-temporeich auf Weltniveau, Adlerträger, Konsumfreude.

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Die EstNische (10): Kaltes Wasser*

Wenn Tallinn Kulturhauptstadt wird, kann ich leider nicht kommen. Auch die Einführung des Euro heute Nacht verpasse ich. Andererseits, kenne ich das Gefühl mit Euro zu bezahlen. Und ich muss auch nicht auf jede Eröffnungsfeier einer europäischen Kulturhauptstadt. Was ich wirklich bedaure: Ich verpasse die Schwimmwettkämpfe von Pirita. Am kommenden Samstag werden sich Menschen in die eiskalte Ostsee stürzen. Der erste Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahres. Und so etwas wie ein symbolischer Akt.

Die Ergebnisse der Meinungsumfragen zum Euro fallen uneinheitlich aus. Doch eine Mehrheit der Esten ist wohl für den Sortentausch – auch das ein symbolischer Akt. Nach der Unabhängigkeit hat sich die estnische Krone erst an die D-Mark gekettet, dann an den Euro, mit festem Umtauschkurs. Letztlich sind die kompakten Kronenscheine und Münzen eine ziemlich überflüssige, umständliche Ausgabe des Euros, die jetzt vom Markt genommen wird, bereinigt. Keine große Sache.

Der Sprung ins kalte Wasser der Eurowelt wird in der Neujahrsnacht also wenig spektakulär ausfallen. Es wird kaum Freudentänze geben um die neue Leitwährung, keine johlenden Verbrennungen alter Kronenbestände, keine enthemmten Glückstränen. Es ist überhaupt schwer zu sagen, ob die Esten stolz darauf sind, endlich zur angeknockten Eurozone zu gehören. Vermutlich sehen sie es umgekehrt: Finanzpolitisch ist Estland ein Vorzeigeland mit Sparkurs, liberalster Wirtschafts- und Steuerpolitik, einem abgewickelten Sozialstaat. Ich weiß nicht einmal, ob es in Estland noch Gewerkschaften gibt. Oder ob sie als sowjetische Okkupationsidee einfach abgeschafft wurden.

Vermutlich wird auch der Start in die Kulturhauptstadt ohne viel Überschwang begangen werden. Auch das hat seine Gründe. Etwa die Personalrochade im Organisationsbüro – der ehemalige Leiter der Kampagne wurde aus dem Amt geekelt, weil er als Deutscher mit dem schönen Namen Fritze wie ein deutscher Lehrer bezahlt wurde. Die Auswirkungen der Finanzkrise haben die geplante städtebauliche Hinwendung der Stadt zur Küste gehemmt. Doch der größte Hemmschuh der Kulturhauptstadt Tallinn sind die im März anstehenden Parlamentswahlen.

Tallinn, die größte Stadt und einzige Großstadt Estlands, wird von der Zentrumspartei unter Oberbürgermeister Edgar Savisaar regiert. In der Riigikogu, dem estnischen Parlament, stellen die Zentristen jedoch die Opposition. Programmatisch ist das kein Problem. Estlands Parteien tun sich inhaltlich nicht viel, außer das sie versuchen, sich in Nationalismus zu übertreffen und den Kontrahenten das Gegenteil vorzuwerfen. Der neuste Vorstoß auf dem patriotischen Spielfeld richtet sich nun gegen das Zentrum und Tallinns Bürgermeister.

Savisaar soll von russischer Seite Geld bekommen haben zur Finanzierung der anstehenden Zentrums-Wahlkampagne. Der Bürgermeister und ehemalige Ministerpräsident Estlands bestreitet den Geldeingang aus Russland nicht. Er behauptet aber, das Geld sei für den Bau einer orthodoxen Kirche in einem überwiegend russisch, weißrussisch und ukrainisch bewohnten Stadtteil.

Savisaars Gegnern geht es um den Platz auf der Nationalismus-Hitparade, Savisaar um Klientelpolitik, so oder so. Es lässt sich kaum sagen, ob ihm die Vorwürfe eher nützen oder schaden.

Das Zentrum ist in Tallinn nur deshalb stärkste politische Kraft, weil die russischstämmige Bevölkerung an  Kommunalwahlen teilnehmen darf. In der Hauptstadt leben rund 40 Prozent Russen, zwei Drittel sind staatenlos oder russische Staatsbürger aber sie haben kommunales Stimmrecht. Gute Beziehungen zu Russland zu haben, schadet der Tallinner Zentrumspartei also nicht, im Gegenteil.

Für die Kulturhauptstadt ist der Streit um Savisaar und das Verhältnis zur einstigen Besatzungsmacht kontraproduktiv. Viele estnisch eingestellte Spitzenkünstler, Estlands staatlicher Rundfunk und die staatliche Kulturpolitik sind nicht besonders an einem großartigen Erfolg der Kulturhauptstadt Tallinn interessiert – mindestens bis zum 6. März, den anstehenden Parlamentswahlen.

* 2010, Ruhrgebiet ist vorbei. Jetzt heißt es Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Die EstNische: Geschichten vom Meer

* 2010, Ruhrgebiet ist vorbei. Jetzt heißt es Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Folge Zehn: Kaltes Wasser

Folge Neun: Schnee-Fall

Folge Acht: Fußball mit B-Note

Folge Sieben: Schneekarte

Folge Sechs: Lauter Gefahren

Folge Fünf: Kranke Holzhäuser

Folge Vier: Ein Umrechnungskursus

Folge Drei: Bärentöter

Folge Zwei: Stahlhausen plus See

Folge Eins: 2:1 gegen Faröer

Die EstNische (9): Schnee-Fall

Irgendwann wird Schnee zum logistischen Problem. Das Zeug will einfach nicht in der Erde verschwinden, sich ins Grundwasser verflüssigen, bleibt liegen. Es stapeln sich Haufen auf Straßenlaternen oder Zaunpfosten, abenteuerliche Konstruktionen, für die der Este nicht so das Auge hat.

Er schippt. Und schippt. Und schippt. Es schneit noch, er schippt. Es wird gleich wieder schneien, er schippt. Richtiger müsste ich schreiben, sie schippt. Bei meinen Spaziergängen durch die Schneewelt (->hier das Video) sehe ich Frauen, alte und jüngere, die zwischen den Haus- und Schneewänden dafür sorgen, dass wenigstens etwas Platz bleibt.

Gestern Nacht um drei waren es dann Männer, die ihren Transporter parkten, Werkzeug heraus holten, feixten und im Nachbarhof Eisplatten zertrümmerten, Schnee und Eis mit Schubwannen wegschoben oder auf einen zwei Meter hohen, zehn Meter, vier Meter langen Berg warfen. Heute sah ich Lastwagen, mit dem Schnee verbracht wird, sogar einen geschlossenen Lieferwagen, den Männer mit Schnee füllten. Ich weiß nicht, wohin sie ihn bringen, den Schnee, was sie damit machen. Lagern sie Wildbrett? Machen sie Bier? Wird der Schnee in einem Hangar mit Heizstrahlern einfach vernichtet? Ich habe etwas Angst. Aber letztlich heißt es: Wir oder der Schnee. Wer macht sich breiter?

Die Wege auf denen Menschen laufen können und Wagen fahren, werden enger, die Schneemauern dicker. Es ist ein Überlebenskampf. Und Monika war erst der Anfang. Es ist Mitte Dezember. In Estland nennt man den Sommer auch: zwei lausige Monate fürs Skifahren. Zwei! Meine Angst wird größer.

Andererseits, Tallinn leuchtet, das Eis glitzert, der Schnee weckt Schauma-Erinnerungen, als Schäume noch Träume waren und kein Nitrat, saure Böden, Weichmacher. Ich bin auf Zigaretten mit weißem Filter umgestiegen, um den Gesamteindruck nicht zu stören. Nur beim Rauchen aus dem Fenster unserer Nichtraucherwohnung, beuge ich mich nicht zu weit vor, schaue nicht nach oben, zu den mörderischen Eiszapfen, Damokles‘ Schwerter.

Ich sehe mich schon gepfählt, wie ich nach dem Schlag überkippe, das eisige Metall der Fensterbank greife, abrutsche, noch am Band eines Meisenknödels hänge, dann falle und verzweifelt versuche, in einem Schneeberg zu landen … Ich kann mir das gut vorstellen, weil ich es sah. Vor dem Schnee.

Nebenan stürzte einer vom Dach, als er die Dachrinne von Herbstlaub reinigen wollten, der Wasserstrahler blieb oben liegen, er stürzte sieben Meter auf das Pflaster. Ich hörte den Aufprall, sah wie der Dacharbeiter aufstand, die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er saß im Kofferraum seines Kombis mit einer Decke umwickelt, von einer Nonne umsorgt und wartete auf den Krankenwagen, wimmerte, zitterte. Mein Fenster zum Hof.

Auf dem Platz vor dem Rathaus steht ein großer Weihnachtsbaum. Ein Typ aus Bremen verkauft deutsche Bratwurst (aus Tartu) und deutschen Glühwein (aus spanischem Rotwein). Abends stinkt er nach Wurst und ist trotzdem sauglücklich, weil die Geschäfte gut laufen. Auf dem Weihnachtsmarkt, mühsam frei geräumt von den Schneemassen, spielen sie wie zuhause „I’m dreaming of a white christmas“. Dann doch lustig.

* 2010, Ruhrgebiet ist Geschichte. Das kommmende Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten vom Meer, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

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Die EstNische (8): Fussball mit B-Note

Matis Rekord liegt bei minus 17 Grad. Ich glaube, wir brechen den in diesem Winter. Neben dem Platz haben es die Skater schon aufgegeben, den Schnee aus ihrer Anlage zu fegen.

Der Fußballplatz ist immerhin zur Hälfte geräumt. Aus ist, wenn der Ball in mannshohen Schneebergen verschwindet. Die Mitspieler tragen  Skianzüge, Kapuzen, Handschuhe, Schal. Auf der Straße würde ich sie nicht wieder erkennen. Ich verstehe nicht, was sie sich zurufen oder wie es steht. Aber das ist egal. Eine Lehre aus Estland: Fußballspielen ist hier nicht nur kalt, sondern auch cool. Wie Jungsfußball in der großen Pause.

Wir spielen auf kleine Trainingstore. Wer alleine darauf zuläuft, wirft sich auf den mit Schnee vermischten Kunstrasen und verwandelt mit dem Kopf. Es geht um Hackentreffer und Tunnel, um das Gejohle der Mitspieler und weniger ums Gewinnen. Fußball ist wie Skaten. Jeder macht sein Ding, sucht seinen Rhythmus, seinen Style. Fußball mit B-Note. Ich finde das entspannend, dampfe im Flutlicht wie in der Sauna. Bis auf die Rufe der Mitspieler ist es still, manchmal schneit es leicht, ein Gefühl wie Weihnachten.

Estland ist fast doppelt so groß wie Katar. Außer Tallinn gibt es sechs estnische Städte, die sich als Standort für ein Fußballstadion eigneten. Estland hat einen fossilen, sehr schmutzigen und sehr ineffektiven Rohstoff und herausragend extreme klimatische Verhältnisse. Außerdem ist Estland immerhin die Nummer 74 in der FIFA-Coca-Cola-Fußball-Weltrangliste – liegt damit fast 40 Plätze vor Katar. Doch keine Angst: Estland wird keine Fußballweltmeisterschaft ausrichten, versucht es erst gar nicht.

Estland wäre natürlich chancenlos. Es gibt hier keinen milliardenschweren Medienmogul und Emir und erst recht keine so tolle First Lady, die in diesem Fall allerdings eine First Second bzw. Second First Lady ist. Vor allem würde man in Estland keine zehn Stadien errichten, um acht nach dem Turnier gleich wieder abzureissen. Mati meint, in zwölf Jahren schaffe man es in Estland vielleicht eine Arena bauen.

Aber das ist nur estnisches Understatement. Cool.

2010 im Ruhrgebiet ist fast vorbei. Das neue Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten vom Meer, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Die EstNische (7)*: Schneekarte

Der Golfstrom ist auch nicht mehr das, was er mal war. Russische Meteorologen sagen, das atlantische Warmwasser habe seinen Effekt verloren. Mein Bruder in Irland sagt, ihm sei kalt.  Im November habe dort noch nie Schnee gelegen. Er hat sich ein Gewächshaus in den Vorgarten gestellt und lässt künftig die Hände von mediterranen Gartenpflanzen. In Estland, 2.000 Meilen nordöstlich von Irland, schneit es sowieso. Seit einer Woche. Fast immer.

In unserem Tallinner Vorgarten haben sich Kinder eine Höhle in den Schnee gegraben. Damit niemand ums Leben kommt, werden beindicke Eiszapfen von den Dächern geschlagen. Die Esten sagen, so früh, so viel Schnee sei ungewöhnlich. Weil wir vergessen haben, rechtzeitig Winterreifen zu kaufen, lassen wir unser Auto alle paar Tage an, nur um zu sehen, ob der Motor noch läuft. An Fahren ist nicht zu denken. Bis April. Vermutlich. Die Geräusche der Stadt sind in Watte gepackt. Alle haben rote Wangen wie die Kinder und sind ein wenig toll vom Schnee. Und in einem Monat kommt der Euro.

Tatsächlich ist er schon da. Aus Finnland kam nicht nur der Schnee, auch Scheine und Münzen kamen übers Meer mit einer deutschen Spedition namens Schenker. Kein Witz. Andererseits fällt das bisschen Estland in der Eurozone nicht ins Gewicht, genauso das bisschen Euro in Estland. Hier neue Scheine und Münzen einzuführen ist so ähnlich wie im Ruhrgebiet neue Grubenlampen, – Folklore. Selbst Kaugummi, Bier und Zigaretten werden längst mit Plastikkarten bezahlt, die man sich in vielen Motiven aussuchen kann. Ich fand Vanilla Ninja hübsch landestypisch, sehr dünne Frauen mit sehr glatten, sehr blonden Haaren. Manchmal rotten sie sich hinter der Kasse beim Bezahlen zusammen, betrachten meine Bankkarte und schütteln sich vor Lachen. Warum nur?

Vielleicht, weil es Vanilla Ninja nicht mehr gibt. Die Bankangestellte sagte mir, nur eine würde weiterhin als Musikerin auftreten, eine sei in die Politik gegangen und eine arbeite ausgerechnet als Sprecherin im Wirtschaftsministerium. Estland und Euro passen also gut zueinander. Nicht nur wegen dem großen E.

Die alten Kronen sind wenig modern gestaltet. Für Blinde ist es schwer die Scheine zu unterscheiden, weil alle das gleiche Format haben. Der vorgegebene Höchstbetrag am Bankomaten liegt bisher bei lächerlichen 1.000 Kronen, gut 60 Euro. Und die Krone als Pfandmünze verfehlt im Einkaufswagen genauso ihre Wirkung wie als Flaschenpfand – für eine Krone bringt niemand etwas zurück. Zumal die Automaten fürs Glaspfand an unsere für Einwegspritzen erinnern und von einer ähnlichen Klientel angesteuert werden. Und von mir, dem Deutschen.

Weil Estlands Tage mit dem Spielgeld gezählt sind, bekam jeder Haushalt von Regierung und EU auch ein paar Sicherheitshinweise und einen Taschenrechner zum Umrechnen. Und Europa darf sich wirklich auf etwas gefasst machen: Die Esten sind nicht nur kontinentale Spitze im Internet, bei friedlichen Revolutionen und Massenchorgesinge, sondern auch beim Einkaufen. Tallinn hat nur etwas mehr Einwohner als Bochum, aber mehr Shopping Malls als das ganze Ruhrgebiet. Jeder Supermarkt ist so groß wie ein Real. Geöffnet haben die Läden eigentlich immer, täglich von 9 bis 23 Uhr.

Auch im Schneesturm.

* 2010, Ruhrgebiet ist fast vorüber. Das kommende Ding heisst Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten vom Meer, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Die EstNische (6): Lauter Gefahren*

Ich lebe gefährlich in der Stadt an der See. Ich leuchte nicht, wenn es dunkel wird. An mir baumelt keine Reflektorscheibe. Dabei ist das Pflicht. Ich haste durch die Straßen, drücke mich in Hauseingänge, bleibe am liebsten gleich zuhause aus Angst vor der Patrouille. Was, wenn ich auffliege?

„Junger Mann, wo haben wir denn unseren Reflektor gelassen?“ – „Hab keinen, Herr Wachtmeister“ – „So könnenwirse aber nich frei herumlaufen lassen, dann kommense gleich mit aufs Revier!“

Und das auf Estnisch. Eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt machen möchte.

Das gilt auch fürs Häuser fotografieren. Hatte neulich diesen Einfall, den verfallenden Holzhäusern Estlands ein Denkmal zu setzen. Am besten mit Plattenkamera. Zum Sonnenaufgang vor das Haus stellen, vorher Probeaufnahmen, Belichtungsmesser, dann nur noch den richtigen Tag abpassen mit wolkenverhangenem konturlosen Himmel. Becher reloaded im Osten. Problem – woher weiß ich, dass die Häuser wirklich unbewohnt sind und nicht plötzlich ein kurzhaariger Angehöriger einer nationalen Minderheit meine Arbeit auffällt. Was, wenn er Dima heißt oder Wladi oder Serg. Oder sein Boss. Oder der Boss seines Bosses?

Im Ausland lauern Gefahren an jeder Ecke. Zum Beispiel Esten zu sagen, das sie nicht Singen können. Dass es sich zumindest nicht so schön anhört. In unseren Ohren. Esten würden das nicht verstehen. Sie haben die „Singende Revolution“ gemacht. Haben die Sowjetrussen aus ihrem Land vertrieben, friedlich, mit Menschenketten, mit Kumbaya und dem Songfestival im Olympiastadion von 1980. Hunderttausende stimmten die Nationalhymne an. Eine rührend schöne Geschichte – das Problem: die Musik, die mir im Radio oder Fernsehen begegnet. Coverbands, die uralte internationale Hits nachspielen mit schlecht gestimmten, mies gespielten Instrumentalteilen und knödelig rausgepresstem Gebrüll.

Ich denke dann, die Esten können besser kochen als singen. Wir saßen in diesem fensterlosen Dorfkrug im Nationalpark. Wir waren die einzigen Gäste, blieben lange sitzen. Die junge Kellnerin hinter der Theke trug Tracht, surfte im Internet und ließ dazu einen Mix estnischer Lieder auf uns los, der unglaublich war. Betrunkene Volkssänger am Schifferklavier waren die Höhepunkte, der Rest klang wie Tony Marschall.

Wir hatten schon Mittags dort gegessen, weit und breit gibt es keinen anderen Gasthof. Wir aßen ausgezeichnete Fischsuppe, Pfannkuchen, Himbeerkonfiture und in Ei ausgebackene Heeringsfilets mit Stampfkartoffeln und ließen dazu krachschlechte Folks-, Schlager- und Popmusik über uns ergehen. Die Frau hinter der Theke blieb ungerührt, sie muss schwerhölrig sein oder die Musik springt nur per Bewegungsmelder an, wenn sich Wanderer dem Lokal nähern. Trotzdem ein entsetzlicher Arbeitsplatz.

Horst Köhler war hier mal zu Besuch in dem Dorfkrug von Altja. Das Foto (bundespraesident.de) zeigt ihn zusammen mit dem estnischen Ex-Ministerpräsidenten, sie haben im Dauerregen die Mittsommernacht gefeiert. Köhler hatte wieder diese weit aufgerissenen Augen, als ob er vor irgendetwas Angst hatte. Neben der Theke hängt einer dieser übergroßen Hüte, die der aus dem Amt geschiedenen Bundespräsident gerne auf dem Kopf hatte. Vielleicht flüchtete er aus der Gastwirtschaft, ließ seinen Hut zurück, nur um dieser Musik zu entkommen.

Vielleicht war es auch mit der „Singenden Revolution“ ganz anders. Wieder Altja, 1987, Esten feiern die Mittsommernacht am Lagerfeuer, es regnet, sie wollen die Unabhängigkeit, in Russland herrscht Tauwetter. Sie schweigen. Dann sagt einer: „Vielleicht können wir singen!?“ – „Singen? Weshalb Singen? Wir können doch gar nicht singen“, grummelt es im Chor der Unabhängigkeitsbewegung.

„Eben.“

* 2010, Ruhrgebiet ist fast vorüber. Das nächste Ding heisst Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Carlos‘ Kumpel, homegrown Terror

Seit heute läuft im Kino der Film über Carlos, den legendären venezuelanischen Terroristen, in Frankreich inhaftiert. Immer an seiner Seite war ein Kind des Ruhrgebiets.

Für Johannes Weinrich (Filmfoto) wird wohl eine der obskursten deutschen Webseiten geführt, das Sozialnetz in Berlin befasst sich mit dem Schicksal des Leidensgenossen. Listet dabei seine Lebensstationen auf. Brakel, Schwerte, Bochum. Und in Bochum hat sich der spätere Helfer von Carlos ziemlich lange aufgehalten. Und eingebracht. Weinrich gründete als SDS- und AStA-Mitglied meines Wissens ein örtliches Studentenwerk, eine der Vorgängerorganisationen des heutigen Akademischen Förderungswerks (Akafö).

Übrigens – das Akafö ist heute zuständig für Wohnheime, auch das, in dem einer der Selbstmordpiloten des 11. September bei seiner Freundin wohnte, kitschige Liebesbriefe austauschte, die so gar nicht an globalen Terror erinnern, der gleichwohl aber auch in Bochum in radikalen islamistischen Kreisen verkehrte.

Aber das ist natürlich nur ein seltsamer Zufall der Geschichte.

Bevor Johannes Weinrich in den Kampf für ein freies Palästina, gegen PLO und Weltimperialismus eintauchte, hatte er jedenfalls ein großes Herz für Mit-Studenten, der Akafö-Kindergarten an der Fachhochschule auch die Sozialbeiträge und einiges mehr gehen wohl auf das Wirken des heutigen Langzeitknackis zurück. Außerdem gründete Weinrich in Bochum eine politische Buchhandlung. Herausgegeben wurden an der Unistraße später Schriften gegen Zensur, für Gewalt und Solidarität mit politischen Gefangenen. Auch diesen Laden gibt es heute noch, seit genau 25 Jahren macht sich hier das Antiquariat Ubu breit, eher was für Freaks, Kiffer, Spontis, nichts für die radikale Sperrspitze der Bewegung.

Weinrich verstand sich, versteht sich vielleicht noch heute, als Mitglied der Revolutionären Zellen, die im Ruhrgebiet einige Spuren hinterlassen haben. Es ist heute nur noch schwer zu begreifen, aber der Terrorismus von RAF oder RZ hatte viele Anhänger. Ich habe 1986 mit einer Reihe von erklärten Sympatisanten das Studium begonnen. Die hatten ihr Abi am Dortmunder Kolleg im zweiten Bildungsweg gemacht, trugen sehr lange, wüste Haare, karierte Hemden, Zimmermannshosen, sahen ein bisschen aus wie Curt Cobain und führten in der Einführungsübung in die Politischen Wissenschaften eindrucksvoll vor, wie aus einem Seminar ein Tribunal wird.

Ich glaube, es ging um die Frage, ob Rauchen erlaubt sein darf, wenn es Anwesende gibt, die der Qualm stört. Klare Antwort: Natürlich! Die genaue Begründung der autonomen Radikalen habe ich vergessen, es wurde viel Gramsci zitiert – aber vielleicht erinnert sich Politikprofessor Klaus Schubert noch daran. Er resignierte irgendwann angesichts der genauso mitreißenden wie überlangen Wortbeiträge – und zündete sich eine an. Dabei wurde die Übung eigentlich meines Wissens nur gesprengt, weil einige die Hausaufgaben nicht gemacht hatten.

Während wir an der Ruhr-Uni in GC ziemlich wirre Nachmittage erlebten, wurde gleichzeitig eine Bochumer taz-Mitarbeiterin in der Innenstadt vor der Polizei gewarnt. Corinna Krawaters tauchte jahrelang unter, eine Odyssee durch Europa, schließlich stellte sie sich, bekam eine relativ milde Haftstrafe. Sie war wohl Mitglied der Roten Zora, die feministische Ausgabe der Roten Zellen, gab zu, einen Wecker der Marke besessen zu haben, die auch bei Sprengstoffattentaten zum Einsatz kam.

Die Rote Zora war im Ruhrgebiet stark, plante Anschläge auf einen Textilgroßhandel, fälschte Busfahrkarten und verschwand irgendwann von der Bildfläche wie auch die Revolutionären Zellen.

Terrorismus-Unter-Uns begegnete mir ein letztes Mal im AStA der Ruhr-Uni – ich war dort Nach-Nach-(…)-Nachfolger von Johannes Weinrich als Sozialdezernentreferent. Meine Kommilitonen aus der Erstsemesterübung saßen plötzlich auf der anderen Seite. Der AStA wurde für besetzt erklärt, gefordert wurde die „Zusammenlegung der politischen Gefangenen“, für die der verdreckte, zwischen autonomen, sponti- und gewerkschaftlichen Linken aufgeteilte AStA nicht ganz der richtige Ansprechpartner war. Trotzdem zog sich die Besetzung in die Länge.

Ich erinnere mich noch an die echte Verzweifelung der Sympatisanten, an ihre Todesangst um die inhaftierten Genossen und an diese tiefe Abscheu gegenüber uns Pseudo-Linken, die sich mit Dingen wie der Beibehaltung des Nachschlags in der Mensa befassten und nicht mit der Bekämpfung des Schweinesystems.

Dabei hatte selbst Johannes Weinrich mal so angefangen.

Allerbeste Infos zum Terrorismus Marke Carlos, mit O-Tönen vom Schakal, heute noch mal um 14 Uhr auf arte, hier der trailer. Danach in den unermesslichen Weiten des Netzes.

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Die Estnische (5): Kranke Holzhäuser*

Kassisaba ist der Katzenschwanz Tallinns, das Stadtviertel drückt sich an Altstadtring und Bahndamm. Morgens und abends erklingt ein lyrischer Tusch. Die Fanfare kommt von Band auf einem alten Stadttor und markiert Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Leider wird die Zeit zwischen den Klängen kürzer. Fürchte ab Ende November ertönt die Fanfare, Sonne geht auf, kurz darauf wieder Fanfare, Sonne verschwindet und dann fünf Monate Schweigen. Noch ist es nicht so schlimm, aber der Winter naht unausweichlich wie der Tod. Brrr.

Laut unserer Maklerin ist Kassisaba ein tolles Viertel, hier würde sie auch gerne wohnen, sagte sie; – wenn sie nicht zuviel Geld hätte, ein zu dickes Auto, zu viele Sorgen um ihre Kinder oder um sich selbst. Aber es ist hübsch hier mit den gepflegten Holzhäusern, fast dörflichen Straßen, dem kleinen Park, der britischen Botschaft, dem Tante-Emma-Laden und einem Alkoholnahversorger namens „9-22“ im Souterrain, in den ich mich aber nicht hinein traue.

In der Idylle aus Läden, Stadthäusern, Sowjetbauten und Apartmentblöcken vermodern allerdings auch Holzhäuser in wilden Gärten. Abends klettern Obdachlose in die Bruchbauten. Stellen Joghurt ins Fenster oder ein Radio, bis die Besitzer mit Latten und Brettern anrücken, um ihre morschen Besitztümer für den Winter zu verrammeln. Holzhäuser sind wie kranke Tiere. Fehlt eine Glasscheibe, ein Rost vor dem Kellerfenster, wird das Haus verwohnt, dann verschwindet es Stück für Stück in Rucksäcken von Männern mit Brechstangen.

Unser Haus hat dünne Wände, für Brechstangen ist es zu neu und massiv. Die Haustür hat einen Code, der Hof eine automatische Pforte, die auch nicht verhinderte, dass in unserem betagten Auto seit gestern das Radio fehlt. Das Nachbarhaus wurde aus blassgrün angemaltem Holz gebaut, auf dem achteckigen Turm steckt ein Messingkreuz, durch das ein Querbalken geschlagen ist; es sieht aus wie ein schlichtes Eiskristall unterm Mikroskop, ein Vorbote.

An diesem  Stammsitz der estnischen orthodoxen Kirche sprechen sie französisch und englisch. Metropol Stephanus stammt aus dem Kongo, ein Sohn zypriotischer Flüchtlinge. Als Kongo unabhängig wurde, flüchteten die Zyprioten nach Belgien, Stephanus studierte in Brüssel, arbeitet für französische orthodoxe Gemeinden, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, bis er den Ruf nach Tallinn erhielt. Eine französische Nonne besorgt dem Metropol von Tallinn den Haushalt, kauft ein mit einer Tasche von Super U und einem kleinen grünen Fiat mit französischem Kennzeichen.

Der Chauffeur der estnischen Kirche – die wie das ganze Estland einen langen Kampf um ihre Unabhängigkeit von Moskau, hier den Moskoviter Patriarchen, führt –  hat lockiges langes graues Haar und sieht aus wie ein orthodoxer Usbeke. Er trägt bestickte Westen, auch mal Umhänge. Wenn er allein im Auto sitzt, hört er düstere Musik von Bands, deren Namen sich mit Runenbuchstaben schreiben. Die schwarze französische Limousine fährt er mit einer Umsichtigkeit, mit der er auch die Einfahrt im Auge hat, damit nur niemand die Brechstange ansetzt. Vor dem Winter.

* 2010, Ruhrgebiet ist bald vorüber. Das nächste große Ding heisst Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

NRW – Ein Land kürzt sich ab

Wie viele Journalisten krieg ich jeden Tag Post aus Düsseldorf, aus den Landesministerien. Ungefähr zehn Mails, Tag für Tag an die Mitglieder der Landespresse. Und die Schreiben nerven nicht etwa, weil es um den Strahlenschutzbericht geht, der erfreulicherweise vermeldet, dass es nichts zu vermelden gibt. Oder um eine Kondolenzadresse für eine Medienerbin. Oder um Flaggen am Tag der Heimatvertriebenen. Nein, die Post aus Düsseldorf nervt deshalb

„Einladung MWEBWV NRW – Termin 16. September 2010“

und deshalb

„Pressestelle MAIS NRW – 1078/8/2010. Minister…“

und deshalb

„Pressestelle MFKJKS NRW 1077/8/2010 -„

und deshalb

„Pressestelle MWEBWV NRW 1076/8/2010 – Minister Voigtsberger…“

und natürlich auch deshalb

„Pressestelle MKULNV NRW – 1075/8/2010 – Nordrhein-Westfalen… „


Nordrhein-Westfalen – ein Land kürzt sich ab.
Da hat selbst Google keinen Bock mehr drauf:

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