In meinen ersten Semesterferien saß ich in der Toscana neben meiner Isomatte und stoppte, wie lange Ameisen brauchen, die Matte zu überqueren. In der Mittagshitze stellte ich fest, dass das Insekt, auf Menschengröße vergrößert, in einer Sekunde umgerechnet 80 Meter zurücklegen würde, anders gesagt, die Ameise rast mit 260 kmh über den Waldboden. Die Esten lieben solche Geschichten. Auch das kleine Land mit seinen knapp 1,3 Millionen Einwohnern rechnet sich gerne hoch.
Spielt Estlands Nationalmannschaft Fußball trifft das Land fast immer auf übergroße Gegner, etwas anderes als eine deutliche Niederlage ist also nicht zu erwarten. Zum Beispiel Italien mit gut 60 Millionen Einwohner, darunter 1,5 aktive Millionen Fußballer. Ging es fair zu in der Welt und im Sport könnte Estland nicht auf rund 40.000 Fußballer, sondern auf zwei Millionen zurückgreifen. Mit dem Faktor 50 multipliziert hätte auch die Partie gegen den dreimaligen Weltmeister anders ausgesehen. Es hätte nicht drei, sondern 150 glasklare Torchancen für Estland gegeben, das Spiel wäre 50 zu 2 ausgegangen, wobei strittig ist, ob Gegentore überhaupt gefallen wären. Unklar auch, ob 50 nicht gegebene Elfmeter gezählt worden wären oder der Schiedsrichter der Fußballgroßmacht Estland die Strafstöße nicht mehr verwehrt hätte.
Gegen Usbekistan das gleiche Spiel, immerhin kam in dem ungerechten Größenvergleich ein Unentschieden mit sechs Toren heraus, darunter ein direkt in den Torwinkel gezirkelter Eckstoß. Aber Usbeken gibt es 27 Millionen. Estland mal neunzehn hätte im Duell der einstigen Sowjetrepubliken die Asiaten vermutlich nicht geschlagen, sondern vom Platz gejagt.
Ihre Rechnung machen die Esten auch mit der Geschichte auf. Eigentlich war das Land immer besetzt. Erst von Dänen, den deutschen Ordensrittern, dem deutschstämmigen Adel, Schweden, Russen, Sowjets. Es gab ein wenig Republik nach dem ersten Weltkrieg und seit 19 Jahren das moderne Estland. Für die Esten ist das eine tolle Sache, erst Recht nach dem Beitritt zu EU, NATO und der Einführung des Euro in knapp vier Monaten. Damit sie sich nicht vertun mit dem neuen Geld kriegen alle Haushalte jetzt Post von den estnischen Großbanken mit, genau, Umrechnungstabellen.
Es stand noch nie so gut um die estnische Sache wie heute. Trotzdem sind die Verbrechen der sowjetischen Besatzer, die sowjetisch-russische Okkupationszeit, vielen Esten noch so vor Augen, als ob es gestern war. Vermutlich auch deshalb, weil das russischstämmige Drittel der Bevölkerung und die Nähe der Grenze sie täglich daran erinnern. Und typisch estnische Umrechnungen: In aktuellen Publikationen wird der Rote Terror der Sowjets geschildert, der wirklich grausam wütete. 30.000 Esten wurden verschleppt, mehr als tausend wurden zwischen 1941 und 1944 und nach dem Krieg hingerichtet. Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, werden auch die Opfer hochgerechnet. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wäre es den Esten so gegangen als hätte Deutschland 14 Millionen Menschen verloren, Großbritannien 8, die USA gar 22 Millionen.
Das Rechenexempel mit dem schaurig-großen Nachbarn im Osten führt schnell zu Anklagen, wie sie ein ehemaliger Premierminister Estlands vorträgt: Sowjetrussland habe einen Völkermord an den Esten verübt. Doch anders als die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den Juden habe sich Russland nie entschuldigt, die Verantwortlichen liefen frei herum, statt sich vor einem internationalen Gericht zu verantworten. Verständlich wütend, aber ein unzulässiger Vergleich und eine verdrehte Arithmetik: Wer hat sich bei den Millionen russischer Opfer des Stalinismus entschuldigt?
Auch heute trägt das kleine Estland erstaunliche Lasten – vor allem militärische. Estland war im Irakkrieg dabei und stellt eine Einheit von 150 Berufssoldaten im afghanischen Süden. Schwierige Einsätze. Gerade kam der elfte estnische Soldat ums Leben, die Regierung würdigte den jungen „Kämpfer“ und appellierte an die Heimat, die Truppen weiter emotional zu unterstützen. Trotzdem, elf tote Esten, acht in Afghanistan ist ein ziemlicher Hammer. Rechnet man auf estnische Art hätte Deutschland nicht 50, sondern 500 tote Soldaten in Afghanistan betrauern.
*2010, Ruhrgebiet ist so gut wie vorüber. Das nächste Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.