Die Estnische (4): Ein Umrechnungskursus*

In meinen ersten Semesterferien saß ich in der Toscana neben meiner Isomatte und stoppte, wie lange Ameisen brauchen, die Matte zu überqueren. In der Mittagshitze stellte ich fest, dass das Insekt, auf Menschengröße vergrößert, in einer Sekunde umgerechnet 80 Meter zurücklegen würde, anders gesagt, die Ameise rast mit 260 kmh über den Waldboden. Die Esten lieben solche Geschichten. Auch das kleine Land mit seinen knapp 1,3 Millionen Einwohnern rechnet sich gerne hoch.

Spielt Estlands Nationalmannschaft Fußball trifft das Land fast immer auf übergroße Gegner, etwas anderes als eine deutliche Niederlage ist also nicht zu erwarten. Zum Beispiel Italien mit gut 60 Millionen Einwohner, darunter 1,5 aktive Millionen Fußballer. Ging es fair zu in der Welt und im Sport könnte Estland nicht auf rund 40.000 Fußballer, sondern auf zwei Millionen zurückgreifen. Mit dem Faktor 50 multipliziert hätte auch die Partie gegen den dreimaligen Weltmeister anders ausgesehen. Es hätte nicht drei, sondern 150 glasklare Torchancen für Estland gegeben, das Spiel wäre 50 zu 2 ausgegangen, wobei strittig ist, ob Gegentore überhaupt gefallen wären. Unklar auch, ob 50 nicht gegebene Elfmeter gezählt worden wären oder der Schiedsrichter der Fußballgroßmacht Estland die Strafstöße nicht mehr verwehrt hätte.

Gegen Usbekistan das gleiche Spiel, immerhin kam in dem ungerechten Größenvergleich ein Unentschieden mit sechs Toren heraus, darunter ein direkt in den Torwinkel gezirkelter Eckstoß. Aber Usbeken gibt es 27 Millionen. Estland mal neunzehn hätte im Duell der einstigen Sowjetrepubliken die Asiaten vermutlich nicht geschlagen, sondern vom Platz gejagt.

Ihre Rechnung machen die Esten auch mit der Geschichte auf. Eigentlich war das Land immer besetzt. Erst von Dänen, den deutschen Ordensrittern, dem deutschstämmigen Adel, Schweden, Russen, Sowjets. Es gab ein wenig Republik nach dem ersten Weltkrieg und seit 19 Jahren das moderne Estland. Für die Esten ist das eine tolle Sache, erst Recht nach dem Beitritt zu EU, NATO und der Einführung des Euro in knapp vier Monaten. Damit sie sich nicht vertun mit dem neuen Geld kriegen alle Haushalte jetzt Post von den estnischen Großbanken mit, genau, Umrechnungstabellen.

Es stand noch nie so gut um die estnische Sache wie heute. Trotzdem sind die Verbrechen der sowjetischen Besatzer, die sowjetisch-russische Okkupationszeit, vielen Esten noch so vor Augen, als ob es gestern war. Vermutlich auch deshalb, weil das russischstämmige Drittel der Bevölkerung und die Nähe der Grenze sie täglich daran erinnern. Und typisch estnische Umrechnungen: In aktuellen Publikationen wird der Rote Terror der Sowjets geschildert, der wirklich grausam wütete. 30.000 Esten wurden verschleppt, mehr als tausend wurden zwischen 1941 und 1944 und nach dem Krieg hingerichtet. Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, werden auch die Opfer hochgerechnet. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wäre es den Esten so gegangen als hätte Deutschland 14 Millionen Menschen verloren, Großbritannien 8, die USA gar 22 Millionen.

Das Rechenexempel mit dem schaurig-großen Nachbarn im Osten führt schnell zu Anklagen, wie sie ein ehemaliger Premierminister Estlands vorträgt: Sowjetrussland habe einen Völkermord an den Esten verübt. Doch anders als die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den Juden habe sich Russland nie entschuldigt, die Verantwortlichen liefen frei herum, statt sich vor einem internationalen Gericht zu verantworten. Verständlich wütend, aber ein unzulässiger Vergleich und eine verdrehte Arithmetik: Wer hat sich bei den Millionen russischer Opfer des Stalinismus entschuldigt?

Auch heute trägt das kleine Estland erstaunliche Lasten – vor allem militärische. Estland war im Irakkrieg dabei und stellt eine Einheit von 150 Berufssoldaten im afghanischen Süden. Schwierige Einsätze. Gerade kam der elfte estnische Soldat ums Leben, die Regierung würdigte den jungen „Kämpfer“ und appellierte an die Heimat, die Truppen weiter emotional zu unterstützen. Trotzdem, elf tote Esten, acht in Afghanistan ist ein ziemlicher Hammer. Rechnet man auf estnische Art hätte Deutschland nicht 50, sondern 500 tote Soldaten in Afghanistan betrauern.

*2010, Ruhrgebiet ist so gut wie vorüber. Das nächste Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Die EstNische (3): Bärentöter

2010, Ruhrgebiet ist so gut wie vorüber. Das nächste Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Achtung jetzt wird’s schmutzig: Auswandern ist kein Zuckerschlecken.

Estland, sagte mir Vannu, Estland sei nicht Tallinn, nicht nur irgendeine Hauptstadt am Meer, Estland sei das Land außerhalb der Metropole, die Wälder. Draußen im Westen hat Vannu selbst etwas Land und Wald. Gerade sei ein Bär dort erschossen worden. Vannu bringt das jede Menge Ärger: 20 Formulare, Papierkrieg, 30 Kronen Gebühren, schimpft er. Besser wenn der Bär beim Nachbarn gelegen hätte. Was es koste, in Estland einen Bären zu erlegen? Vannu versteht die Frage nicht. „Sagte ich doch“, murmelt der selbst ziemlich bärtige Este: „30 Kronen und zwanzig Formblätter.“

War aber sicherlich nur so dahin gesagt beim Bier in der Kellerbar. Einen Bären zu töten, ist auch in Estland teuer. Jedes Jahr werden nur drei zum Abschuss freigegeben. Ein Braunbär wird ein paar tausend Euro kosten, für einen Luchs muss ein Jäger 1.600 Euro hinlegen, für einen ausgewachsenen Elch 4.000 Euro. Preisbewusstere Jäger können aber auch auf Biber (80 Euro) und Füchse (10) anlegen in diesem Land, das eigentlich ein Wald ist.

In Tallinn merkt man den Wald nur an dem vielen Brennholz, das vor jeder Tankstelle aufgestapelt ist.

Als ich in meiner neuen Zweitheimat ankam, habe ich selbst wie eine Tanke gerochen. Oder wie der Golf von Mexiko. Hatte mir Zugsalbe auf die Backe geschmiert gegen einen eitrigen Pickel, fühlte mich wie ein Hering im Ölteppich. Tatsächlich ist schwarze Salbe wie der schwarze Schleim, mit dem sich nordamerikanische Ölbarone johlend von oben bis unten einsauen, wenn die Bohrung erfolgreich war. In Texas werden sie wenig Probleme mit Furunkeln haben.

Hergestellt wird Schwarze Salbe aus Ölschiefer, dem einzigen Bodenschatz Estlands – neben Wald und Jagdtrophäen. Und manchmal liegt hier ein Geruch nach Sprit in der Luft, dass ich denke, es könnte sich lohnen zu bohren. Um dann im Ölregen zu tanzen. Problem: Ölschiefer ist erstmal nicht flüssig, eine Art Sand, lockeres Gestein, mehr oder weniger bedeckt von anderen Gesteinsschichten.

In Estland kann man Ölschiefer im Tagebau abbauen oder unter Tage, auch mit Bohrlöchern. In das erste wird heißer Dampf gepustet, um Bitumen aus dem Sand zu lösen, in dem anderen steigt es dann als schwarzes dickflüssiges Erdöl zu Tage. Von Duschen ist mir nichts bekannt, wohl aber dass die Ölschieferindustrie eine ziemlich schmutzige Angelegenheit ist. Es wird Landschaft verbraucht im Nordosten Estlands. Sand und andere Überreste müssen nach der energieintensiven Dampfattacke deponiert werden. Und natürlich ist der CO2-Ausstoss der zwei estnischen Kraftwerke erheblich. Trotzdem setzt Estland – erst Recht angesichts „peak oil“ – voll auf sein Ölschiefer, und ich mit: Ohne Strom und andere Netze wäre es doch ziemlich anders hier. Wald eben.

Die Estnische (2): Stahlhausen plus See

2010, Ruhrgebiet ist bald vorüber. Das nächste große Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Für Arvo Pärt eine Party zu veranstalten, ist so ähnlich wie mit Wolfgang Schäuble zu kiffen. Es passt nicht.

Doch der große Komponist des kleinen Volkes wird 75. Also gibt es in Tallinn, Paide und Rakvere einen Monat lang ein Fest zu Ehren des berühmten Tonmeisters, dessen Werk man vielleicht so beschreiben kann: Man muss schon Björk sein oder aus Estland, um Pärts Musik als heiter zu empfinden. Für alle andere ist es sehr schweres Zeug. Gut, aber schwer.

Gestern sahen wir „In Principio„. Ein neogregorianisches  anschwellendes Stück für Sänger und Chor, Orgel und Orchester – Soli und Mehrstimmiges auf Latein, feine harmonische Brüche, schwere Akkorde, plötzlich schmettert der Chor aus dem Oberrang. Die Bühne ist eine schiefe Ebene bestreut mit Birkenmulch und viel Platz für Prinzipielles: Frau und Mann, 0 und 1, Feuer und Wasser, Kartoffelknollen und Zerstörung. Die kargen Klänge Pärts haben es leider etwas schwer gegen  jede Menge Projektionen und Laserstrahlen auf der Bühne. Trotzdem standing ovations – wie zuhause.

Tatsächlich fand die Aufführung in vertrauter Umgebung statt: eine Fabrik, Schiffswerft, an vielen Stellen verwildert, zerfallen. Doch es wird weiter gearbeitet im postsowjetischen Ambie nte. Suchscheinwerfer, Mauern, Natodraht schirmen es von der Außenwelt ab. An provisorischen Stegen liegen Segelyachten im einstigen U-Boot-Hafen der Stadt.

Mit Geschichten von der See wird sich Tallinn im kommenden Jahr an den ganzen Kontinent wenden. Die europäische Kulturhauptstadt setzt auf ihren Hafen, das Meer. Und hier ist wirklich viel zu tun. Nebenan wird gerade der alte Flughafen für Wasserflugzeuge aufgemöbelt. Im kommenden Jahr bekommt das maritime Museum hier den großen Auftritt. Das ganze sieht ein bisschen aus wie Stahlhausen plus See.

Auch hier gab es zur Kulturhauptstadt noch größere Pläne. Die Stadt sollte sich zur Ostsee öffnen. Nicht nur mit Geschichten, Konzerthallen, Museumshangar und anderer Software, sondern mit einem Meeresboulevard zum Flanieren. Die Pläne verschwanden in der Schublade; Finanzkrise. Und so wird 2011 wohl ein bisschen wie Ruhr 2010, wenn es gut war: Industriekultur (maritim), Zwischennutzungen, Entdeckungen an Unorten. Und dazu: das Meer.

Die Estnische (I) – 2:1 gegen Faröer

2010, Ruhrgebiet ist bald vorüber. Das nächste große Ding heisst Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Estland gegen Faröer Inseln guckt man sich an, wenn… es nicht anders geht! Nach den ersten Tagen in Tallinn ist es zum so genannten Le Coq Stadion nur ein kurzer Spaziergang durch tiefgrüne Kastanienblätteräste. Hier spricht man eher vom Kastaaniiblaattiaesti. Zum Finnischen soll sich das Estnische wie Georgisch zum Deutschen verhalten, oder war es Albanisch? Alt-Dänisch?

Tatsächlich haben die beiden nur durch einen wenig stark entwickelten Meerbusen getrennten Nordlichtstaaten die gleiche Wurzel: einen kaukasischen Volksstamm, der sich und seine merkwürdige Sprache vor Urzeiten in zwei, drei Himmelsrichtungen verstreute. Ich weiß nicht mehr, ob mit oder vor oder nach der Völkerwanderung.

Für mich ist Estnisch ein Buch mit sieben Siegeln und mindestens 14 Fällen, die fein zu unterscheiden wissen, ob dieser jemand vorne oder hinten aus dem Haus geht.  Zum Glück gibt es im Nahversorger und Supermarkt aber „Eis-Tee“ zu kaufen oder „Vorst“ oder Brot als „Leib“ oder „Sprühsahne“, „Luftpumpen“… Tallinn hat übrigens verdammt viele Supermärkte, sogar Kaufburgen, riesige. Sogar im Le Coq Stadion, immerhin nur für Fußballsachen.

Kickend ist Estland der klein wenig größere Zwerg gegenüber den Faröer Inseln, in der ewigen Welttabelle trennen die beiden Staaten nur wenige Plätze. Dennoch gehen die Faröer Inseln in Führung, richtig muss es heißen: die Mannschaft der Faröer Inseln. Nach Kopfballkuddelmuddel schießt die Nummer 11, der immerhin bei Newcastle United spielt und an einen St. Pauli Stürmer erinnert, den Ball platziert in die rechte Torecke. Die Esten haben zwar rund 1,3 Millionen Einwohner, einige spielen als Profis in Holland, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Azerbeidschan, Russland – doch zusammenspielen können sie nicht. Gar nicht.

Trotzdem bleiben die knapp 5.000 Zuschauer erstaunlich guter Dinge. Die Sonne scheint auf die Gegengerade, blaue Minivuvuzelas brüllen ins Spielfeld hinein, es ist warm, das Stadion ist steiler als der alte Bökelberg, es gibt dunkel geröstete Brotfinger in Bierbechern. Die Leute erleben  gerade den schönsten Sommer seit Menschengedenken – ohne Waldbrände profitiert das Land vom kontinentalen Dauerhoch, das den russischen Nachbarn im Osten so zu schaffen macht.

Ich hatte mir vor dem Spiel Sorgen gemacht, ob mir in meiner neuen kleinen postsowjetischen Teilzeitheimat ein wiederentdeckter nationaler Überschwang jeden Spaß am Fußball rauben wird – aber es war nur der eigensinnige Fußball. Selbst der Hymne wurde lässig zugehört. Ich war vor einem Jahr bei den finno-ugrischen Stammesbrüdern in Ungarn, da singen die Leute ergriffen vor jedem Ligaspiel, Hand aufs Herz.

Meine kleinen Beobachtungen über Estland werden intensiviert  – in der nächsten Folge habe ich dann auch wieder Internet und versuche zu erklären, warum alle Russen als Kleinkinder in Kokainfässer fallen und in Brombeerschnapsbecher. Warum Odinshühner wie kleine Schnepfen aussehen. Und wie sich der Nachfolger des Ruhrgebiets als europäische Kulturhauptstadt so anstellt.

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Spanisches Tierorakel


Vergesst Paul, die blöde Krake aus dem Aquarium in Oberhausen? Was zählt schon ein Oktopus gegen die große Erfahrung einer Schildkröte? Dachten sich diese munteren Kollegen im spanischen Fernsehen. Und ließen ihren „Jose Maria“ das heutige Halbfinale entscheiden… sehr lustig wird es ab 1:00.

Jabulanis Super Slomo. Technik verändert die WM

Achtelfinale vorbei, die ersten fußballfreien Tage seit Wochen, Zeit für ein paar Sätze WM-Zwischenfazit.

+++  Ich mag ja das Wort „Weltregie“, auch wenn damit nicht die „Ermächtigung“ (Gauck) der UN gemeint ist. Nein, die Weltregie sorgt in diesen Wochen dafür, dass es letztlich egal ist, wo ich die Spiele der Fußball-WM sehe, die Bilder sind überall die gleichen. Es gibt keine zusätzlichen nationalen Kamerateams mehr, nur noch das Weltbild der Weltregie. Wie es nicht anders sein kann, steht die Weltregie natürlich unter der Aufsicht des Weltverbandes FIFA, der dafür sorgt, dass seine FIFA-Werbebanden besonders gut zur Geltung kommen und die Fans dahinter etwas weniger.

+++  Weltbild und Weltregie und FIFA sind es auch, die für den Einsatz der abgefahrensten Zeitlupe aller Zeiten verantwortlich sind, die dafür sorgt, dass jede Szene dieser WM, so was von nachbetrachtet werden kann, dass sich sogar schon Spieler um Schiedsrichter versammelt haben, weil sie auf der Videowand im Stadion gesehen haben, dass das Gegentor kein Tor war, sondern abseits. Die Spielszenen fast ins gespenstisch verzögernde Zeitlupe hat dabei durchaus ihre reizvolle Seiten. Wenn man etwa die ungeheure Biegsamkeit der Finger Manuel Neuers oder die Flexibilität der Gesichtszüge des Spaniers Iker Casillas beim Ausschnauben so genau beobachten darf wie früher nur die Tropfen der Kaffeewerbung.

+++  Weniger reizvoll sind die Slomos natürlich für Schiedsrichter. Meine These: Ohne die neue Zeitlupe hätten wir weniger Fehlentscheidungen gesehen, weil wir sie gar nicht bemerkt hätten – anders gesagt: Uns und den Referees wäre einiges erspart geblieben. Was erneut die Frage aufwirft, ob der technologische Fortschritt wirklich ein Zugewinn ist oder eher ein Nullsummenspiel?

+++  Das zweite, rundum ähnlich fortschrittliche Gadget der Spiele ist natürlich der Jabulani, der WM-Spielball, der übersetzt „Feiern“ heißt, von Adidas ausgetüftelt wurde und selbst Adidas-freundliche Ex-Fußballer wie Mehmet Scholl die Stirn runzeln lässt. Das neue Spielgerät, das in der kommenden Bundesligaspielzeit dann unter dem Namen „Torfabrik“ in jedem Bundesligaspiel zum Einsatz kommen wird, schreibt Flugbahnen wie ein Werbegeschenk von der Sparkasse, führt aber nicht zu mehr Toren oder einer „Ermächtigung“ (Gauck) der Schützen, sondern zu dem ziemlichen Gegenteil: Es gibt wohl kaum einen Weitschussexperten oder Torwart, der sich bei dieser Weltmeisterschaft nicht schon mindestens einmal so gründlich blamiert hat, dass er, „wenn es auf dem Platz ein Loch gegeben hätte, dort für immer eingezogen wäre“, wie es Javier Mascherano aus Argentinien schon mal gesagt hat.

+++  Adidas hat – auch dank Jubulani! – das Viertelfinale mit vier Mannschaften übrigens klar für sich entscheiden können. Puma und Nike sind jeweils nur zweimal dabei. Dafür hatte Nike den eindrucksvollsten Werbespot zur WM vorgelegt. Doch mit den Hauptfiguren Drogba, Ronaldo, Ronaldinho, Rooney, Cannavaro wurde nur die alte Nutella- -Lehre bestätigt, wonach Spieler, die in Werbespots auftreteten, in einem anstehenden Turnier ähnlich erfolgreich abschneiden, wie vorab gehandelte KandidatInnen auf das Amt des Bundespräsidenten.

+++  Übrigens: Sollte das deutsche Team tatsächlich Weltmeister werden, steht die nächste Legende aus Herzogenaurach schon geschrieben. 1954 wars bekanntlich der neue Schraubstollenschuh, der den deutschen Spielern die nötige Trittsicherheit im Sieg im Berner Wankdorfstadion gab. In Südafrika wird dann der beknackte Gummiball als Titelbringer gefeiert werden. Wie eng sich Adidas, DFB und Fernsehen sind, konnten wir ja bereits bei den Liveschaltungen zu Michael Ballack und der „Adidas-Familie“ rund um das Achtelfinale gegen England erleben.

Gaucks blasse Geschichtsbilder

Gestern hat der von SPD und Grünen als Bundespräsident nominierte Joachim Gauck eine Grundsatzrede gehalten. Gauck wollte eine Woche vor der Bundesversammlung sagen, was er für einer ist. Publikum und Presse zeigten sich begeistert von seinem Aufruf zu Freiheit, Bürgersinn und Verantwortung. Ich bin es weniger. Gaucks Rede klebt in der Wendezeit und vermeidet klare Aussagen zu Nazideutschland. Schade.

Gauck schickte vorweg, es gehe ihm nicht um Thesen, sondern um seine Erfahrungen. Aber er macht es sich ziemlich leicht, seine Rede beginnt im Ungewissen. Er sei 1940 geboren, deshalb kenne er nicht den „Glanz“ in den Augen der vom Führer „Verführten“, aber er kenne die Augen der Angst der Erwachsenen in den Bombennächten. Nach Kriegsende wisse er von abgeholten Männern zum Arbeitsdienst oder zur Erschießung, er erinnere sich an furchtsam verhüllte Frauen. Mit einem „Krieg, Diktatur und wieder Diktatur“ rast er durch die dunkelste Periode, um schnell in den 1950er Jahren anzukommen, bei seinem von den Kommunisten verschleppten Vater, den in Moskau erschossenen freiheitlichen Jugendlichen. Mir geht das ein bisschen zu schnell.

Ein künftiger Bundespräsident sollte mehr bieten, als die leidvollen Erfahrungen mit dem Kommunismus, sollte mehr ausführen zum Krieg, als dass er „verloren“ ging und „Deutschland einem schrecklichen Ende“ entgegen ging. Zum Beispiel: Wer Schuld trägt, dass es nicht nur Verführte, sondern viele Täter gab. Und Millionen Opfer. Dass nach dem Krieg auch Menschen abgeholt wurden, die Schuld hatten.

Doch Gauck schaut zu mit großen Kinderaugen. Lernt Schiller, die Freiheit schätzen, den Westen. Bis die Mauer kommt, später das Einnisten trotz aller Widersprüche, noch später erst vorsichtige Opposition, schließlich ein „Freiheitssturm“. Und das gefällt mir eigentlich gut, wie er vom langsam werdenden Widerstand bis zur Verblüffung über die eigene Stärke gegenüber den Unterdrückern spricht. Welche Kraft „Wir sind das Volk“ habe – auch wenn der Vergleich mit Barack Obamas Wahlkampfschlager „Yes, we can“ so manchen Bürgerrechtler zornig machen könnte.

Doch nun bleibt Gauck stehen, 1989, 1990. Für ihn gab es eine „Revolution“ in Deutschland und alles was der Prediger zu heute sagt, hat diesen Ausgangspunkt. Die Kritik an Kapitalismus und System sei auch deshalb nur eine Flucht vor den Problemen, vor allem von denen, die sich immer noch unwohl fühlten in Deutschland. Er kenne viele, die damals Angst davor hatten, verhaftet zu werden, und jetzt vor dem sozialen Abstieg. Ziemlich konstruiert, nach immerhin zwanzig Jahren. Was haben die Bekannten die ganze Zeit getan, außer Angst haben? Und: Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Des Rätsels Lösung, Gauck glaubt heute so stark an die Freiheit im Westen, an westliche Werte, das westliche Militärbündnis, dass er Andersdenkende, Experimentierfreudige, Unzufriedene, Systemkritiker als Angsthasen, als Fluchtinstinktive abwatscht. Ich wünsche mir allerdings einen Bundespräsident, der mehr Freiheit im Denken, im gesellschaftlichen Ausdenken zulassen kann.

Und noch ein entschiedenes Nein, Herr Gauck! Die Probleme des Kapitalismus – Finanz- und Weltwirtschaftskrisen, ergo globale Ausbeutung, Verelendung – mit Fouls im Fußball und Doping im Radsport zu vergleichen, die Sportarten würde man ja auch trotz ihrer Schattenseiten weiter betreiben, greift arg kurz. Gauck hat schön gesprochen, es ist ein Rhetor am Pult, ein gut aussehender zumal. Die einen mag das freuen, mir ist der Mann zu verstockt und so bin ich froh, in einer Woche nicht abstimmen zu dürfen.

Kennen Sie Uwe Schummer?

Kriege gerade Post. Aus dem Bundestag. Vom Obmann der CDU/CSU-Fraktion für Bildung und Forschung.  Uwe Schummer heißt der, kommt aus Viersen. Nur gute Nachrichten. Endlich. Der Wahnsinn. Ich freu mich. Aber lesen Sie selbst:

+++Uwe Schummer MdB, Obmann für Bildung und Forschung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Mit klugen Köpfen aus der Krise

„Die deutsche Autoindustrie als Lokomotive unserer Wirtschaft hat die Krise überwunden. Die Nachfrage im Ausland nach deutschen Autos steigt massiv. Volle Auftragsbücher, ausgelastete Werke, Sonderschichten und Neueinstellungen sind die Folge.

Dies ist auch ein Erfolg der Merkel-Regierung. Mit der Kurzarbeit bewahrte sie viele Arbeitnehmer vor der Entlassung. Eine Entscheidung für unser wichtigstes Potential, den Menschen, zahlt sich nun in Wirtschaftswachstum aus.

Nicht nur die Autoindustrie floriert. Nach Schätzungen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) wird die gesamte deutsche Wirtschaft in diesem Jahr ein kräftiges Exportwachstum verbuchen. Auch die Lage am deutschen Arbeitsmarkt wird sich weiter entspannen. Es besteht die Chance, dass die Arbeitslosenzahl, wie im Dezember 2008, wieder unter drei Millionen fällt.

Wer gute Mitarbeiter hat, besteht auch in der Krise. In diesem Jahr gehen der deutschen Wirtschaft schätzungsweise 20 Mrd. Euro aufgrund des Facharbeitermangels verloren. Deshalb mein Apell an die deutsche Wirtschaft, in den nächsten Wochen verstärkt Ausbildungsplätze bereitzustellen. Nur wer ausbildet, sichert seine eigene wirtschaftliche Zukunft. Nur mit klugen Köpfen, geht es aus der Krise.“+++

Ach ja, Uwe Schummer sieht man auf dem Bild rechts. Danke.

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Der Harald aus Erasmia

Die einen freuen sich auf die 64 WM-Spiele, doch der wahre Kenner freut sich auf rund 30 deutsche Pressekonferenzen. Ab heute. Am Mittag begann die große Show direkt aus dem „deutschen Lager“, per Livestreamticker oder Zattoo/phoenix. Immer mit dabei: Harald Stenger, geiler Typ.

Früher, als die Frankfurter Rundschau noch eine richtige Zeitung war und kein Heftchen im Hochformat, gab Harald Stenger die Stimme Hessens. Jeden Sonntag ließ er sich ins Kempinski Airport Hotel München einfliegen, um das Phrasenschwein zu füllen, bis es platzte.

Stenger tat so, als würde ihm Bier am Vormittag schmecken, als wüsste er alles über Eintracht, Fleckschneise und Bertis Kabinenpredigt. Kurzum: Stenger war die Idealbesetzung am DSF-Krombacherstammtisch, trug die gleichen Polohemden, schwitzte den gleichen Schweiß, hatte die selben Sprüchen auf Lager, wie sein Publikum im Foyer des Airporthotels.

Doch irgendwann wurde das Stenger zu wenig. Er wurde zur Stimme Fußballdeutschlands, zum DFB-Mediendirektor, näselnd, babbelnd, „gerodirichs-bitte“-sagend, oder: „bitte, keine weitere Fragen mehr an die Spieler“. Oder: „Wenn Sie auf das Mikrophon warten würden!“

Und Stenger kriegte sie alle vor die Mikrophone in Miyazaki, Almancil oder Tenero. Die Völlers, Klinsmanns, Löws, die Bundesscouts, Torwarttrainer, Teammanager, Fitmacher und natürlich die Nationalspieler von Tim Wiese bis Arne Friedrich. Aber jetzt nach neun Jahren ist es wohl vorbei. Die WM in Südafrika soll Stengers letztes Turnier sein, DFB-Präsident Theo Zwanziger protegiert offenbar andere, jüngere Leute. Aber immerhin hat er seine letzte große Bühne.

Seit heute heißt es wieder, Daily Stenger, Mittagsfernsehen, halb eins. Aus Erasmia, was lateinisch klingt und ein wenig nach einem Irrtum. Mercedes hat Transparente aufgehängt, beschwört kryptisch einen vierten Stern. Und die Kollegen lassen Stenger nicht hängen, fragen, was das Zeug hält. Das ist nicht nur ein nettes Mäuschenspielen für  Daheimgebliebene, sondern vor allem ist das supergünstige Fernsehware für Phoenix und die Nachrichtenschiene.

Und wollen wir das nicht alle wissen? Heute ist es ja angenehm warm, abends wird es aber doch empfindlich kühl, welche Auswirkungen hat das auf die Akklimation, Herr Teamarzt? Arne, haben Sie irgendwelche Rituale, bevor sie auf den Platz laufen? Wer ist der Leitwolf? Vuvuzelas? Der WM-Ball? Wer ist der Chef im Strafraum? Wenn man sie nur ließe, die Kollegen, sie würden so lange fragen, dass sie wirklich mal etwas Interessantes erfahren könnten.

Aber darum geht es nicht, und Stenger, der Profi, weiß sowieso wann Schluss ist. Dann sagt er: „Dann sagen wir Danke, dem Arne, und machen jetzt den Break, dann geht es sofort weiter mit dem Per.“

Wird Rütte der neue Hotte?

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat jetzt noch genau zehn Minuten Zeit für den goldenen Handschlag. Um viertel vor vier will er sich in der Staatskanzlei zum spektakulären Rücktritt von Bundespäsident Horst Köhler äußern. Wenn er es geschickt macht, hat Rütte bald einen neuen Job. Als Hotte. Und NRW eine große Koalition. Was sind wir gespannt…