Macht Kraft den Schröder? Zur Regierungsbildung

Vorhin am Telefon, ein Versprecher: das ist jetzt die xte Wahl, nach der es eine klare Mehrheit gegen Schwarz-Gelb gibt, und doch haben sie links der Mitte „nicht die Kraft, das umzusetzen“. Wird es also auch in NRW eine Regierung geben, die das Mehrheitsverhältnis zugunsten einer großen Koalition aufgibt?  Und was ist mit Hannelore Kraft? Wird sie zur großen Umsetzerin oder zur kleinen Koalitonärin – und umgekehrt? Und wer wird Jürgen Rüttgers?

Jürgen Rüttgers hat die Wahl verloren, nicht Griechenland, nicht Bund, nicht Westerwelle. Rüttgers und sein autistisches Team führten ohne Not einen Wahlkampf der Schwäche, sie machten den Leuten nichts als Angst vor Veränderungen, vor Instabiltät, Rotrotgrün und dann mit Grabesstimme (wirklich!) vor der Finanzkrise rund um die Eurozone. In einem anderen bundespolitischen Klima hätte die unterirdische Wahlkampagne vielleicht reichen können. Diesmal nicht. Statt Regierungsbilanz wurde ein bemühter Personenkult um einen erblassten, ausgemergelten Ministerpräsidenten betrieben. Statt die Arbeit des sozialdemokratischsten Arbeitsminister seit langem nach vorne zu ziehen, den soliden Finanzminister, die Erfolge der Hochschulplanung, das Integrationsministerium, war immer nur eines: Rütte. Und als er am Samstag dann mit seiner Frau wie ein kalter Fisch bei mir im Hausflur lag, als Postwurfsendung, dachte ich mir, das wird ihm den Rest geben.

Armin Laschet vertrat ihn schon mal im WDR, „er wird andere Termine haben“, entschuldigte der Integrationsminister und designierte CDU-Landeschef lachend den MP. Der smarte Laschet nicht Rüttgers wird wohl Verhandler werden in den kommenden Tagen. Da seiner Partei aber nur die eine Option mit der SPD bleibt, schränkt das Möglichkeiten ein, auch die Chancen auf den Posten des Ministerpräsidenten.

Den will Kraft. Und je nach Gusto fühlt man sich seit gestern Abend schon an Schröder vs. Merkel erinnert, an die Realitätsverweigerung eines von Wahlkampfreden, Marktplätzen, Aufholjagd euphorisierten Bundeskanzlers. Denn wie bitteschön will Hannelore Kraft Ministerpräsidentin werden, wo doch die CDU stärkste Partei im Landtag ist?

Sicher geht das nur auf dem ungemochten rot-rot-grünen Dreirad mit Wagenknechten, Zimmermännern. Aber aufrechte Sozialdemokraten, erst recht einflußreiche Gewerkschaftskader im Land sprechen bei denen von „Spaltern“, „Sektierern“ – auch weil sich die ihren in der neuen Linken nicht gegen Trotzkisten und andere K-Leingruppen durchsetzen konnten. Die Option rot-rot-grün ist deshalb eine Streitmacht, keine Koalition. Andererseits, es braucht ja nur einen von elf linken Abgeordneten für die parlamentarische Mehrheit, das erscheint machbar, bei allen Bauchschmerzen, wozu gibt es schließlich  Rüdiger Sagel?! Außerdem: der bundesdeutsche Parlamentarismus und die neue finanzielle Unabhängigkeit der Volksvertreter haben noch bald jeden Radikallinken rundgelutscht, das sollte auch in Düsseldorf gelingen.

Oder es wird eine Großkoalition, Stabilität, letztlich hätte Rüttgers doch gewonnen, auch wenn er nicht mehr mitmacht. Kraft gibt die Vize-MP, im Innenressort oder Arbeitsministerium, Laumann, Krautscheid oder Laschet als Ministerpräsident. Angesichts der Personallage und dem beginnenden Kreuzzug gegen Weltfinanzhaie könnte die Staatsräson bei den Unionisten auch noch weiter gehen, ein geteiltes Ministerpräsidentenamt oder der Verzicht zugunsten der SPD, wenn die umgekehrt auf Hannelore Kraft, dafür bekommt Union Arbeit, Innen und Finanzen, schon beim Tippen, höre ich es: hick und hack, hick und hack, hack und hick, patt und patter. Bah. Stabilität, bitteschön, was ist das eigentlich?

Fotos (M): ruhrbarone/kok, csc

Enthüllt: Wie es mit Rüttgers weitergeht

Am Sonntag nachmittag sind die Messen gelesen. Und schon wird herum vermutet, wie es weitergeht im Land? Vor allem: In der CDU? Mit Fritze Merz, mit Olli Wittke, mit Hilde Müller, mit Andi Krautscheid, Armin Laschet oder doch weiter mit Jürgen Rüttgers? Wer weiß, wer weiß?

Was aber schon mal klar ist: dringende Termine stehen bei Onkel Rütte ab 8. Mai erstmal nicht an, und genauso sieht es aus im Juni, Juli, und so weiter, und so weiter.

Wir müssen lernen: Letztlich ist Ministerpräsident auch nur ein prekärer Scheißjob.

Sternsingen mit Jogi

Bundes-Mangastar Jogi Löw redet gerade im Livestream. Und wer noch nicht weiß, warum, hat DFB-Sprecher Harald Stenger zu Beginn aufgeklärt: Es gehe um den vierten Stern von Mercedes in Südafrika. Oder so ähnlich.

Genau 27 Spieler nimmt der Bundestrainer mit auf das WM genanne Joint Venture von öffentlich-rechtlichem Rundfunk, Autoindustrie und Männerpflegeserie. Keine großen Überraschungen dabei – vielleicht der kleine Andreas Beck aus Hoffenheim/Sibirien, Dennis Aogo aus Hamburg, Stuttgarts Christian Träsch, Holger Badstuber aus München und das doch wieder offene Rennen im Tor. Sieht so aus, also ob leider nicht Schalkes Manuel Neuer, sondern Routinier Jörg Butt am 13. Juni in Durban im Tor stehen wird.

Grafik: ruhrbarone

Kommt jetzt schwarz-gelb-schwarz, die echte Biene Maja Koalition?

Wenn am Abend die Parteivertreter im WDR diskutieren, fehlt eine: Die Deutsche Zentrumspartei.
Dabei mischt sich die älteste der Parteien kräftig und ausdauernd in den Landtagswahlkampf ein. Neuster Vorstoß der Altkonservativen: ein offizielles Koalitionsangebot an CDU und FDP.

Wie mir Zentrum-Landesgeschäftsführer Christian Otte schreibt, will seine Partei zusammen mit der amtierenden Koaltion einen Bürgerblock bilden und so die „Linksfront“ aufhalten. Eventuelle Bedenken der etablierten Regierungsfraktionen werden sofort zerstreut. Das ZENTRUM gehe mit „äußerst maßvollen Vorstellungen“, so Otte in eine doppelschwarz-gelbe Koalition. CDU und FDP „behielten alle ihre bisherigen Ressorts“ – und auch die Wiederwahl von NRW-Ministerpräsident Rüttgers wird fest zugesichert. Einzige Forderung der Altkatholiken: „Mit nur 3 untergeordneten Staatssekretären (Kultur, Bundes-/Europaangelegenheiten und eine neue Funktion als „Volksanwalt“) wäre das ZENTRUM im Kabinett Rüttgers II vertreten; und in den Koalitionsvertrag würde sich die Zentrumspartei lediglich in den Bereichen Familien-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit maßvollen Vorschlägen einschreiben.“

PS: Leider hat die Sache ein, zwei, viele Haken. ZENTRUM erreichte bei den Landtagswahlen 2005 1.261 Stimmen. Und das ZENTRUM steht zur Amtskirche, dem Augsburger Bischof Walter Mixa wurde deshalb zuletzt – trotz (oder wegen?) der Züchtigungsvorwürfe – mehrfach angetragen, doch den Ehrenvorsitz in der Deutschen Zentrumspartei zu übernehmen.

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„Zusamm für Enerwee!“ CDU-Knödelattacke

Landtagswahlkampf ist wie Bundestags-Wahlkampf – nur ein wenig kleiner, niedlicher, billiger. Da können sie in Berlin tausendmal von Schicksalswahlen reden. Und deshalb hat die CDU hier auch keinen Schlager Marke Leslie Mandoki am Start, sondern irgendwas anderes, blonderes, dünneres: hier anhören

Der Texter ist von Kik; komme auf 23* Stanzen in knapp vier Minuten. Wer bis zum Ende zuhört, wird aber belohnt mit einem fast schon sambaesken Chor: „Nordrhein-Westfalen, Nordrhein-Westfalen, na, na, na, na, na, naa“

Noch ein Exegese-Hinweis: Wer das CDU-Lied nach belastbaren Aussagen durchforstet, geht es wie dem politischen Beobachter der Legislaturperiode, was bleibt sind Platitüden und ein verzweifeltes Gebrüll nach „Sicherheit“ und „Stabilität“. Kurzum: Es ließe sich auch mutiger für fünf Jahre Regierungsverantwortung eintreten.

*mutiges Land, voller Ideen, stolze Tradition, Herz bleibt hier, gute Hände, gutes Gefühl, nach vorn sehen, wir sind bereit, harte Arbeit, weiches Herz, rauhe Schale, neue Chance, Weg zum Glück, nach vorn nicht zurück, Hand in Hand, dick und dünn, fest zusamm‘, geben nicht auf, gemeinsam packen wir es an, wir haben sehr viel erreicht, schaffen noch viel mehr, wir bleiben wie wir sind, gerecht und fair

Dank an ch_we

Der Himmel über Bochum

Was bisher definitiv zu kurz kommt im Diskurs unter Vulkanasche: Selten so schön gewesen – der Himmel überm Ruhrgebiet.

Ohne Dauerdröhnen, Konsdensbewölkung, Landungsquietschen. Selten Blau, Bochum Blau, super entspannend. Von mir aus können die Flughäfen ruhig wochenlang dichtmachen, gibt eh zuviel davon; Dortmund, Köln-Bonn, Münster-Osnabrück, Düsseldorf (Weeze), Paderborn-Lippstadt, Kassel-Calden, u.u.u. Und die mit Doppelnamen kommen sofort weg.

Die Museumshauptstadt

Seit heute hat Xanten schon wieder ein Museum: den Nibelungen(h)ort. Mit dem frischen Römermuseum im Archäologischen Park und dem im Mai öffnenden  Stiftsmuseum feiert die kleine Stadt drei Museumsgründungen in zwei Jahren. Vor einem Jahr habe ich ein langes Stück zum Museumswunder am linken Niederrhein gechrieben: Die Schatzheber. Wie die Xantener ihre Geschichte ausbeuten.
Bürgermeisterphantasien

„Wir sind vom Kuhkaff zur kulturellen Metropole des Niederrheins geworden“. Es braucht schon die Phantasie eines Bürgermeisters, um Xanten als Kulturmetropole zu sehen. Doch das Städtchen am nördlichen Niederrhein schafft Dinge, von denen viele Großstädte nur träumen. In etwas mehr als zwei Jahren werden drei neue Museen eröffnet. Jahr für Jahr strömen mehr als eine Million Menschen in die Kommune. Die 23.000 Einwohner von Xanten sind überdurchschnittlich jung und ihre Zahl steigt stetig, statt zu fallen. Es gibt eine neue Umgehungsstraße, eine neue Jugendherberge, einen neuen Caravanpark. An den Sommerwochenenden sind die Zufahrtsstraßen weiträumig zugeparkt. Xanten boomt. Und der Bürgermeister plant.

Auf Wachstumskurs

Christian Strunk entrollt einen Stadtplan und drückt den Papierbogen mit langen Armen auf den Besprechungstisch im Xantener Rathaus. Leuchtstiftlinien, farbige Kreise ziehen sich über Straßen, Uferpunkte, Flurmarken. Die Stadt soll weiter wachsen. Am Ufer des Rheins, ein paar Kilometer von der Stadt entfernt, soll ein Wasserterminal entstehen. Ein Anleger für Yachten und kleine Kreuzfahrtschiffe. Wenn die Baugenehmigung vorliegt, kommt an die ehemaligen Kiesgrube, die in Xanten wenig unbescheiden „Südsee“ heißt, ein Kongresshotel. Im Spätsommer wurden dort noch Skulpturen aus Sand gezeigt, beim Publikum fiel die Schau durch. Doch Pannen sind die Ausnahme in der Dreimuseenstadt.

Wettrennen mit einem Pferd

Xanten ist erfolgreich. Mit Christian Strunk steht seit zehn Jahren ein Volljurist an der Spitze der Stadt. Und ein Vollverkäufer. Strunk ist jemand, der gut und gerne lächelt, und der mit sanfter Stimme seine Stadt fast zu streicheln scheint: „Da ist jetzt richtig Dynamik drin“, schwärmt der CDU-Politiker. Strunk weiß, worauf es ankommt – ob beim Pressegespräch oder beim Fernsehauftritt. Es geht um Werbung, günstige Werbung. Deshalb nimmt sich der Familienvater sogar Zeit für den Journalisten, obwohl er schon auf dem Weg in den Mallorca-Urlaub ist. Deshalb läuft in Xanten der Extremsportler Joey Kelly mit einem Pferd um die Wette, zur besten Sendezeit auf RTL. Deshalb fand das allererste Open-Air von „Wetten, dass“ in Xanten statt. Deshalb hat sich die Stadt gleich drei Stadtlabels gegeben: Xanten ist Römerstadt, Domstadt, Siegfriedstadt. „Wir brauchen solche Sachen“, sagt Strunk. Sie hätten kein Geld dafür, teure Werbung zu schalten.

Die Säulen der Schlafstadt

Strunk macht viel Lärm für seine Gemeinde, die eigentlich eine Schlafstadt ist. Auch das weiß der Bürgermeister: „Unsere Bürger nehmen weite Strecken auf sich, die arbeiten in Düsseldorf, die pendeln ins Ruhrgebiet.“ In Xanten gibt es traditionell wenige Jobs, kaum Industrie und Gewerbe. Und deshalb setzt man hier auf weiche Standortfaktoren. Auf Bildung, Natur, auf Erholungswerte, auf Landschaft, Geschichte und Kultur. Die Menschen sollen nicht abwandern, sie sollen bleiben – und kommen: „Geschichte und Kultur sind die beiden Säulen auf denen das wirtschaftliche Geflecht liegt“, sagt Strunk leicht gedrechselt. Und setzt pathetisch hinzu: „Jeder Xantener hat wohl etwas Stolz im Herzen, in dieser Umgebung zu leben“.

Nicht schön, eher praktisch

Stolz und Elan, Geschichte und Kultur zahlen sich aus. Xanten ist Besucherkrösus am Niederrhein. Dabei ist die kleine Stadt gar nicht richtig schön. Eher übersichtlich, praktisch, geordnet, sauber. Der Krieg hat nur wenig übrig gelassen von der mittelalterlichen Bausubstanz. Als die Alliierten Frankreich, Belgien und die Niederlande befreit hatten, versuchte Hitlers Wehrmacht die Rheinbrücken zu halten. Durch den nördlichen Niederrhein verlief die Front. Am Kriegsende war Xanten zerbombt und zerschossen.

Behutsam aufbauen

Ralf Trost blättert durch seine Promotion. Der Historiker hat über Xanten während NS-Zeit und Weltkrieg geschrieben, er zeigt auf eine Abbildung. Ein Luftbild des gotischen St-Viktor-Doms im Sommer 1945. Aus der Ruinenstadt ragt nur noch ein Torso aus Brandmauern und verkohlten Dachbalken. „Das Gebäude wäre fast abgerissen worden“, sagt Trost in seinem Büro unter dem Giebel des Rathauses. 85 Prozent der Kommune seien zerstört gewesen, doch dann habe man Dom und Stadt „sehr behutsam wiederaufgebaut – vielleicht ist es jetzt sogar schöner als vorher.“ Tatsächlich wurden Baulücken harmonisch geschlossen, es gibt einen weitläufigen Marktplatz im Zentrum, enge, gewundene Gassen und einige Stadttore.

RÖMERSTADT

Die Fundgrube

Der Wiederaufbau ist auch am Nordrand der Stadt zum Erfolgsrezept geworden. Der Archäologische Park Xanten (APX) ist eines der populärsten Freilichtmuseen Deutschlands und seit mehr als 30 Jahren die Hauptattraktion der Region. Hinter trutzigen Mauern mit  römischen Wachtürmen wird ein besonderes Bodendenkmal gepflegt, geschützt und rekonstruiert: Die Colonia Ulpia Traiana. Vor zwei Jahrtausenden erstreckte sich hier auf 73 Hektar eine römische Großstadt. Der Park ist ein Besuchermagnet und eine Fundgrube für Altertumsforscher.

Parkleiter mit Plan

Auch Parkleiter Martin Müller arbeitet gerne mit Plänen. Im Flur des Verwaltungsgebäudes hängen meterlange Karten an der Wand. Es geht wiederum um Projekte, Ideen, um Zukunft. Die Fläche des APX soll verdoppelt werden. Er wird dann 150 Fußballfeldern entsprechen und das gesamte ehemalige Stadtgebiet der alten Colonia umfassen. Eine Bundesstraße wurde extra dafür verlegt. Der öffentliche Träger des Projekts, der Landschaftsverband Rheinland, will in den kommenden Jahren noch einmal 60 Millionen Euro investieren. Dabei wurde mit dem Römermuseum gerade erst eine herausragende Attraktion eröffnet.

Erstes Museum am Platze

„Archäologie hat eine große Lobby“, sagt Müller fröhlich. Und ein großes Publikum. Bürgermeister Strunk feiert das Römermuseum schon als „eines der besten Museen Deutschlands.“ Auf jeden Fall ist es mit mehr als 700.000 Besuchern im vergangenen Jahr eines der erfolgreichsten – und schönsten. Die Kölner Architekten Dörte Gatermann und Elmar Schossig haben einen Wunderkörper aufs platte Land gesetzt. Fremd und unwirklich erhebt sich das schimmernde Gebäude aus den feuchten grünen Wiesen. 24 Meter hoch ragt silbriges, zart bedrucktes Glas, spiegelt Licht und Himmel des Niederrheins. Abgeschlossen wird die fast unangemessene Konstruktion von karminrot leuchtenden Ziegeldächern. Die ausladenden Maße und klassischen Formen des Gebäudes waren den Architekten vorgegeben. Vorbild war eine römische Basilika, die hier vor zwei Jahrtausenden stand. Das ungläubige, fast germanische Staunen der Besucher ist beabsichtigt.

Auf dem Museumspfad

Müller ist ganz verliebt in das neue Museum, der provinzialrömische Archäologe schwärmt von der gelungenen „Kubatur“ der Basilika. In die Halle, groß wie ein Flugzeughangar, wurde dann so etwas wie ein Museumspfad gehängt, der durch die römische Geschichte des Niederrheins führt. Man steigt langsam hinauf über eingravierte Tacitus-Zeilen, passiert Zeitschleusen, Geruchsstationen, Statuen, Säulen, einen römischen Frachtkahn, Rüstungen, Waffen und ist immer ganz nah am Leben der ehemaligen Bewohner dieser römisch-germanischen Grenzstadt. Den Soldaten, Beamten, Handwerkern, Frauen, Kindern, Sklaven und ihren Fundsachen.

Traumjob gefunden

Erst auf Umwegen ist Martin Müller Parkdirektor geworden. Der gebürtige Niedersachse war vorher Museumsleiter und Kulturdezernent in Gera. Jetzt habe er seinen „Traumjob“ gefunden, verrät der entspannte Mittvierziger – eine Mischung aus Museumsleitung, Verwaltungsamt und seinem eigentlichen Beruf, der archäologischen Forschung: „Ich denke gerade darüber nach“, sagt Müller und zeigt auf ein Planquadrat im Flur, „ob auf dem Gelände dieser Dienststelle ein Pflanzenstadion oder doch eher ein Nymphäum, eine Zierbrunnenanlage, stand.“

Wandel durch Handel

Die Blütezeit begann 98 nach Christi. Der römische Kaiser Traian erhob einige Grenzorte des Imperiums zu Städten. Auch der Legionssitz samt kleiner Zivilsiedlung beim heutigen Xanten wurde zur „Colonia“ geadelt. Dem Kaiser ging es um Kulturimport, um Wandel durch Handel. Römische Zivilisation und intakte Wirtschaftsbeziehungen sollten die Grenzen sicherer machen. Die Ableger Roms sollten einschüchtern und faszinieren. „Hier am flachen Niederrhein wirkt ja alles doppelt so groß“, lacht Müller: Für die Germanen in ihren niedrigen Lehmbehausungen sei die antike Großstadt mit Stadtmauer, Kuppelbauten und Wasserleitungen gewiss ein „Kulturschock“ gewesen.

Trabantenstadt

Am Niederrhein fiel Klein-Rom besonders üppig aus. In Müllers Büro liegt ein Paperback. Wie im Asterix-Comic zeigt der Umschlag die Colonia als antike Idylle. Der Zeichner hat den Zwischenstand der Forschung hübsch zu Papier gebracht. Auf dem Rheinarm segeln Boote, im Süden der Stadt lockt das Amphitheater. Das Raster der belebtebn Straßen und Wohnblöcke ist zu erkennen. Es gibt großzügige Paläste, Tempel, Kapitol und Forum. Die besondere Pracht der Colonia erklärt sich Müller mit klassischem Standortwettbewerb: „Auch die römischen Städte konkurrierten miteinander“. Und Xanten, sprich: die Colonia Ulpia Traiana, wollte als Musterstadt zum wirtschaftlich-militärischen Drehkreuz zwischen Britannien, Gallien und den germanischen Provinzen aufsteigen. Ehrgeiziges Stadtmarketing hat am Niederrhein eine lange Tradition.

Doppelt verschwunden

Im vierten Jahrhundert nach Christi erlischt das römische Leben am alten Rheinarm. In den Wirren der Völkerwanderung wurde die Colonia überrannt. Komplett dem Erdboden gleichgemacht wurde die Römerstadt dann im Hochmittelalter. Die Kirche trug die Ruinen aus Trachyt und Tuffstein ab. Die antike Bausubstanz findet sich im Dom und in Kirchen und Bauwerken in der ganzen Region. Nur im Erdreich unter Feldern und Wiesen schlummerten die Überreste der Ulpia Traiana.

Gerangel im Park

„Es war ein zähes Ringen, bis das Bodendenkmal überhaupt geschützt wurde“, erläutert Müller. Ende der 1960er Jahre hätten sich Stadt, Archäologen und das Landesbauministerium um den vergessenen Ort gestritten – die Kommune wollte lieber ein Gewerbegebiet entwickeln. Doch die Denkmalschützer konnten sich durchsetzen. Eine Stahlbetonfabrik wurde zurückgebaut und 1977 der Archäologische Park eröffnet.

Römisches Disneyland

Von Beginn an wurde ein „merkwürdiger Schlingerkurs“ (DIE ZEIT) zwischen ernsthafter Archäologie und dem Treiben eines Freilichtmuseums eingeschlagen. Die Archäologen haben nicht nur gegraben und geforscht. Mit Fachwissen rekonstruierten sie die Säulen des römischen Hafentempels, das Amphitheater, ein Gasthaus oder die Stadtmauer. „Am Anfang wurde das kritisiert als römisches Disneyland“, sagt Müller. Heute sei die Kritik verstummt, der Park gelte museologisch als Vorreiter: „Wenn ich den Besuchern das Verstehen leicht mache, dann habe ich mein Ziel erreicht“, lautet so etwas wie Müllers Credo.

Mentale Römer

Nächste Großbaustelle im Park wird die Ummauerung des erweiterten Geländes und der Neubau eines Verwaltungsgebäudes samt Entdeckerforum. Auch das soll leicht daher kommen. Und mit 60 Millionen Euro sind genug Entwicklungsmittel vorhanden. Weshalb die Bodendenkmalpflege im Rheinland eine so starke Lobby habe? Rom habe sich auf die rheinische Mentalität ausgewirkt, glaubt der Norddeutsche Müller: „Die Menschen begreifen die Römerzeit als ihr kulturelles Erbe“. Für sprödere Nichtrheinländer ist der Archäologische Park einfach ein gutes öffentliches Investment.

Gutes Investment

Laut einem Gutachten des Landes-bauministeriums aus dem Jahre 2001 habe sich jeder in den Park gesteckte Betrag sechsfach gerechnet, jeder dritte Arbeitsplatz in Xanten hänge mittelbar am Park. Zum Profit-Center taugt das Erfolgsprojekt aber nicht, dass muss auch der Chef zugeben: „Archäologie funktioniert nicht kostendeckend“. Der wissenschaftliche Apparat sei zu aufwändig. Aber immerhin, die Betriebskosten, sagt Müller und grinst, „die können wir decken“.

DOMSTADT

Staffellauf der Museen

Wer so erfolgreich ist, kann auch gönnen: „Hier geben wir den Staffelstab an die beiden anderen Museen weiter“, sagt Martin Müller. Das Finale des Römermuseums endet mit Szenen aus Fritz Langs Nibelungen-Film und einem Blick auf die Türme des Doms. Objekte zeigen, wie die römische Zivilisation verschwand. Etwa ein lateinischer Grabstein für einen gewissen Batimodus. Jahrzehnte später wurde er mit gleicher Inschrift einfach wiederverwendet – für eine fränkische Frau.

Am Anfang war Friedhof

Auch Xantens nachrömische Geschichte beginnt auf dem römischen Friedhof im Süden der alten Colonia. Die Gebeine des römischen Legionärs Viktor sollen hier liegen, nachdem ihn Kameraden wegen seines christlichen Glaubens erschlagen haben. „Jedenfalls wurde seit dem frühen Mittelalter ein Grab besonders verehrt“, erzählt Archivarin Elisabeth Maas – erst mit einem Bethaus, dann einer Kapelle, schließlich mit dem gotischen Dom. Und aus diesem Ort „Ad sanctos“, bei den Heiligen, entwickelte sich das spätere Xanten. Nicht nur phonetisch.

Stadt der Heiligen

Das Christentum ist Xantens Keimzelle. Noch heute bildet der Dombezirk den eigentlichen Stadtkern. Eng umschließt ein Ring von geistlichen Herrenhäusern, die so genannte Immunität, den Dom. Früher war es die Stadt der Heiligen, das Quartier von Klerus und Stiftsherren. Noch immer geht es hier stiller und besinnlicher zu. Und die Häuser tragen Anschriften, die aus der Zeit zu fallen scheinen. So sitzt das neue Stiftsmuseum ab Mitte Mai 2010 in der „Immunität, Kapitel 21“.

Understatement am Bau

Die traditionsreiche Adresse täuscht in der Wiederaufbaustadt. Museum, Archiv, Bibliothek und dazu die Xantener Dombauhütte beziehen einen Neubau. Doch anders als das auf die grüne Wiese katapultierte Römermuseum will das Stiftsmuseum bloß nicht auffallen. Die Fassade wird mit dem auch im Dom verbauten  Tuffstein verschalt. „Ein Tribut an unsere römischen Wurzeln“, sagt die Archivarin Maas. Auch das Innere ist beherrscht vom Understatement, einer kühlen Ästhetik aus Granitböden, dunklen Türen und eleganten Beschlägen.


Wollen nicht stören

Elisabeth Maas, die Stifts-Archivarin und Archivleiter Udo Grote servieren Wasser aus einer Karaffe. Sie haben sich an die schlichte Eleganz ihres Arbeitsplatzes gewöhnt. „Wir haben bewusst eine mutige Architektur gewählt“, sagt Grote, im Hauptamt Diözesankonservator des Bistum Münster. In den Ausstellungsräumen sollen „die Objekte zum Strahlen gebracht werden“ – nicht die Architektur oder Museumstechnik. Und oberstes Ziel war es, so der Konservator, „die bewahrte Baustruktur des Stiftes nicht stören“.

50.000 Besucher jährlich

Die Erwartungen an das Stiftsmuseum sind allerdings nicht so zurückhaltend. Im Lesesaal überschlagen Grote und Maas die Zahl der Dombesucher. Eine halbe Million Menschen würden den Viktor-Dom pro Jahr besichtigen: „Wenn nur jeder zehnte ins Stiftsmuseum kommt, wären wir zufrieden“. Ihre Ausstellung soll sich über zehn Räume erstrecken und von der Römerzeit bis zur Säkularisation reichen, als das Stift 1802 unter Napoleon endgültig aufgelöst wurde. Dass die Xantener Glaubensgemeinschaft zuvor über Jahrhunderte eine der bedeutendsten und reichsten entlang des Rheins war, werden edelste Schreine, Monstranzen, Altarkreuze, Gewänder oder kostbare Handschriften belegen.


Erkaufte Auszeiten

„Wir haben Reliquien, die zu den besten Europas gehören“, sagt Grote stolz. Um dann – ganz Diözesanangestellter – den Zeigefinger zu heben: Dem Stift, die das Mittelalter so prägende Glaubensbruderschaft von geistlichen Herren, sei es bei Edelsteinschreinen nicht um „Prunk und Protz“ gegangen. Nein, gedient hätten sie allein dem „Reichtum Gottes, dem Kult“. Freilich gab es auch weniger sakrale Anlässe für die Vermehrung der Schatztümer. Wer eine Auszeit vom strengen Stiftsleben nehmen wollte, konnte das. Er musste der Gemeinschaft allerdings kostspielige Spenden machen.


Acht Jahre Baustelle

Heute werden in der Immunität profane Fragen erörtert wie Jazzkonzerte im Museumshof oder die technische Ausstattung des Veranstaltungssaals. Wie bei jedem Neubau geht nichts ohne Handwerkergespräche. Doch sie haben jahrelange Übung. Das Projekt zieht sich seit einem Jahrzehnt hin, seit 2001 wird gebaut: „So ist das, wenn die Mittel sukzessive fließen“, erklärt Grote. Und so gesehen, ist es ein Zufall, dass das Stiftsmuseum erst als letztes Haus nach Römermuseum und Nibelungen(h)ort seiner Eröffnung entgegen geht.

SIEGFRIEDSTADT


Nibelungen-Prints

„Zunächst war ich auch kritisch“. Der Xantener Historiker Ralph Trost ist nicht nur Experte für die Stadtgeschichte in der NS-Zeit. Der 43-jährige ist auch designierter Leiter des so genannten Nibelungen(h)ortes – dem immerhin dritten neuen Museum der Stadt. Im Sommer 2009 sollte es eigentlich eröffnet werden, es wurde der März 2010. Unterm Rathausdach im Projektbüro pappen Pläne an der Flipchart. An schrägen Wänden hängen kolorierte Prints aus Fritz Langs Nibelungen-Verfilmung.


Museum ohne Belege

Trost hat in Xanten einen Schau-Ort geschaffen für das Nibelungenlied. Dabei spielt die Niederrheinstadt nur eine winzige Nebenrolle in der hochmittelalterlichen Dichtung. Siegfried – der Blondrecke, Drachentöter, Kriemhildgatte und Brunhildenbezwinger – soll aus Xanten stammen. Und mehr ist kaum zu sagen. Nicht nur dem Wirtschaftshistoriker Trost fehlen zu Siegfried die historischen Belege. Wie daraus ein Museum machen? Nach einem Experten-Hearing in der Stadt änderte sich seine Meinung – um 180 Grad: „Man kann den Mythos und den Missbrauch darstellen, der mit der Figur stattgefunden hat“, meint der Ausstellungsmacher. Die Nibelungensage habe für den heimischen Kulturraum eine ungeheure Bedeutung. Man dürfe sie sich „nicht von Hitler wegnehmen lassen.“ Gerade in Xanten nicht.


Braune Boomtown

Die Nationalsozialisten erklärten die erzkatholische Stadt zur „Geburtsstätte Siegfrieds mit tausendjähriger Geschichte“. Braune Reisegruppen besuchten die Stadt, die Nazis siedelten eine Bauernschule und den Reichsarbeitsdienst an. Selbst die Altertumsforschung boomte. Den Überresten der Ulpia Traiana wurde „unter der germanischen Problemstellung“ nachgegraben, wie es hieß. Firmen wie das RWE und Industrielle spendeten für die Suche nach „Siegfrieds Edelsitz“. Archäologen beteiligten sich an dem Spiel, obwohl sie es besser wussten: Gegenüber der Presse sprachen sie von einem „nordischen Pompeji“. Aber tatsächlich legten sie das Amphitheater der römischen Colonia frei. Zeugnisse einer germanisch-fränkischen Hochkultur blieben Fehlanzeige, Mythos


Blut und Treue

Mit „kritischen Augen“ entwirft Trost seine Ausstellung. Die Instrumentalisierung der Nibelungensage ist ein wichtiges Thema. Etwa Hermann Görings Rede vor der Reichsluftwaffe 1943, der den eingeschlossenen Soldaten von Stalingrad zubrüllte, wie die Nibelungen ihr eigenes Blut zu trinken und weiter zu kämpfen. Oder „die unsägliche Parole der Dolchstoßlegende“, der Kampfbegriff der „Nibelungentreue“ – die Sage ist tief in die rechte Propagandawelt eingegangen.

Nibelungen-Pop

Schauplatz der Ausstellung sind zwei Stadttürme und ein mittelalterlicher Wehrgang. „Weil wir nichts haben, können wir alles zeigen“ – die Nöte des Museumsdirektors macht Trost zur Tugend. Die Popkultur ist Ausgangspunkt des Hauses. Kaum ein Fantasyabenteuer, das nicht auf Motive des Nibelungenliedes zurück greift. Ob Harry Potter, Herr der Ringe oder Krieg der Sterne – überall Drachen, Ringe und Verräter vom Schlage eines Hagen von Tronjes. „Darth Vader, das ist doch ganz klar die Hagen-Figur“, glaubt Trost. Aber sonst hält sich der gebürtige Xantener streng an die Fakten.

Das Nichts zeigen

Und die bleiben ziemlich niederschmetternd für Siegfried aus Xanten. Finden sich für die Brunhildes, Kriemhilds oder Etzels aus dem Nibelungenlied wenigstens vage historische Vorbilder, ist der Drachenbesieger nichts als eine Geschichte. Und genau das will das neue Museum zeigen: „Wir können zeigen, warum er nicht hier ist“, sagt Trost später beim Gang vom Rathaus zum Mittelturm. Was sein Dienstherr wohl davon hält?


Regierender Sagenfan

Emsigster Antreiber des Nibelungenmuseums ist der Bürgermeister. Christian Strunk hätte statt Jura selbst gerne Geschichte studiert. Jetzt kann er seiner Leidenschaft wenigstens als Museumsgründer nachgehen: „Ich bin verrückt nach Sagen“, bekennt der dunkelblonde 42-jährige. Und anders als sein wissenschaftlicher Angestellter liest Strunk gerne im Kaffeesatz. „Historisch ist es doch ziemlich klar“, meint Xantens Erster Bürger, dass die Siegfriedfigur mit dem Märtyrer Viktor zusammenhänge – der gleiche Name nur auf Latein, der gleiche Ort. Rund um die Nibelungensage ist kein Mangel an steilen Thesen.


Das rechnende Museum

Ralph Trost vom Nibelungen(h)ort hält wenig von solchen Theorien. Aber die Auswirkungen der Mythen nimmt er gerne mit. Von Mitarbeitern der Xantener Touristeninformation hat er erfahren, dass sich jede dritte Anfrage auf Siegfried beziehe. Und darauf baut der Familienvater seine berufliche Zukunft: „Wir wollen eine spannende und edukative Ausstellung aufbauen, die sich selbst tragen soll“. Zwar habe das Haus die Unterstützung des Rathauses. Die Empfangshalle dürfen sie sich – strategisch günstig – mit der Touristeninformation teilen. „Doch mein Gehalt wird nur bis 2010 von der Stadt gezahlt“. Danach muss Trosts (H)Ort auf eigenen Füßen stehen


Ort mit Hintersinn

Hat er nicht Angst vor den beiden anderen neuen Häusern? Nein, nein, ruft Trost, „das ist einmalig, eine Riesenkiste!“ Er freue sich auf die Konkurrenz. Und auf ein Kombiticket, mit dem Besucher Stiftsmuseum, Nibelungen(h)ort und den Dauerbrenner Römerpark besuchen können. Es gehe darum, dass Ausflügler endlich mal eine Übernachtung dranhängen, um alles zu sehen: „Wir wollen die Verweildauer erhöhen“, sagt Trost. Was nicht mehr nach Museumsdirektor klingt, sondern nach Tourismusfachmann. Gerade kommt er von einem Seminar, das sich mit Museums-Shops befasste. „Wenn der Shop läuft, ist das die halbe Miete“, weiß Trost – und ist jetzt ganz in seinem Element. Das Haus würde bewusst nicht Museum heißen, sondern (H)Ort – ein Wortspiel um den legendären Hort, das Rheingold der Nibelungen. Denn man solle das Haus nicht missverstehen. Es gehe nicht um Enthusiasmus für die germanische Mythologie: „Was wir hier machen, ist Stadtmarketing“.


Stadtentwicklung durch Geschichte

Zum Abschied gibt Stadtvermarkter Trost noch einmal den Lokalhistoriker. Schon in den siebziger Jahren hätten die Verantwortlichen eine richtungweisende Entscheidung getroffen: „Seither wuchern wir hier mit Kultur, Landschaft und Erholung. Und wir nutzen unsere Geschichte, um eine Zukunft zu haben!“ Mit den Schätzen der Vergangenheit haben sie in Xanten viel Erfahrung. Als Fischer vor 151 Jahren die Statue eines nackten Knaben aus dem Rhein zogen, wussten sie auch, was zu tun ist: Sie wuschen ihn, banden ein Tuch um seine Hüfte, stellten ihn in eine Fischerhütte – und nahmen zehn Pfennig Eintritt. Wer unters Tuch schauen wollte, zahlte das doppelte

2010, Odyssee im Stadtraum

uliseeb_400hSechs Uraufführungen, 14 Stunden Schauspiel, 77 Schauspieler – im Ruhrgebiet wurde am Wochenende ein Theatermarathon gegeben. Doch  die „Odyssee Europa“ ist weniger Extremsport für Theaterjunkies als ein fröhlicher Ausnahmezustand.

Ein Glas Wein auf der Premierenfeier, „dann schlaf‘ ich wohl ein“. Ulrike Seybold vom Organisationsteam der „Odyssee Europa“ ist erschöpft. Gerade hat sie die aus dem Bochumer Schauspielhaus strömenden Theaterbesucher mit einem Megaphon angetrieben. Seit Wochen arbeiten die Organisatoren an den Abläufen des Wochenendes: „Die Mitreisenden begeben sich bitte in die bereit stehenden Busse“, scheppert es über den Theatervorplatz – auf zur nächsten Etappe, einer Schifffahrt mit Abendessen auf dem Rhein-Herne-Kanal Richtung Westen. Am Ende des ersten Tages bringt das Theater Oberhausen noch Uraufführung Nummer Drei.

Ein  Theatermarathon hat eigene Gesetze. Selbst Feiern wird zur logistischen Herausforderung. Die Polen, meint Anselm Weber der scheidende Intendant des Essener Grillo-Theaters auf dem Deck des Ausflugsschiffs, „die Polen haben schon um Sieben angefangen, da wird es nachher schwer reinzukommen.“ Gerade spiegeln sich die Lichter von Hafenanlagen im Fahrwasser des Rhein-Herne-Kanals, der Mond scheint über dem Südufer, Wanne-Eickel ist nicht weit. Die Idylle auf einem Fahrgastschiff „das älter ist als die Titanic“, wie der Kapitän stolz verkündet.
dobuehne_400qNoch betagter ist der Stoff, dem sich diese Theaterreise widmet: Die Odyssee von Homer, die älteste Reiseliteratur des abendländischen Kulturraums. Odysseus, ein Sieger von Troja, findet nicht zurück nach Ithaka zu Frau, zu Hof und Sohn. Der Gott Poseidon wütet gegen ihn, der Held muss über stürmische Meere, mit einer Zauberin leben. Beschützt von der Göttin Athene, bereist er sogar die Unterwelt, um seinen Weg zurück zu finden.

Für die sechs europäischen Schriftsteller, die sich im Auftrag der Ruhr 2010 dieses Stoffes angenommen haben, ist die Heimkehr Odysseus‘ einer der Ausgangspunkte. Nach zwanzig Jahren strandet Odysseus an der Küste Ithakas. Doch seine Gemahlin Penelope erkennt ihn kaum wieder, nassauernde Freier haben sich am Hof eingenistet und ihr erwachsener Sohn Telemachos. Odysseus tötet Penelopes Verehrer und alle Helfershelfer. Doch wie die Geschichte weiter geht, verliert sich in Mythen.

Am Essener Grillo-Theater hat der polnische Autor und Regisseur Grzegorz Jarzyna einen blassen Mann stranden lassen, der sein Gottvertrauen verloren hat. Einsam beginnt er ein stummes Gebet, bevor er in die Schlacht gegen die Freier zieht, den Tod findet er aber durch die Hand seines aufmüpfigen Sohnes. Um diese Rückkehr geht es auch im Finale, der am lautesten bejubelten Inszenierung am Sonntag Abend in Dortmund. Nun liegt Schnee auf Ithaka. Die Freier nennen sich  „Reformer“, sie haben Stauseen, Industrien, Schlachthöfe geschaffen, sie begnügen sich nicht mehr mit Odysseus‘ Weinkeller. In großem Stil beuten sie Ithaka aus, bis sie von Odysseus erschlagen werden. Müde hält er hernach seinen Sohn in den Armen – hält er ihn zu fest? „Odysseus, Verbrecher“ nennt der österreichische Autor Christoph Ransmayr seine Version der Odyssee, tapfer und wortkarg hat der Dramatiker die Theaterfahrt durchs Ruhrgebiet mitgemacht.

Zum Beispiel Oberhausen: Hier belauern sich vier Freier in Badehosen in einem leeren Pool. Bange warten sie auf Odysseus Heimkehr, ringen immer verzweifelter um Penelopes Gunst, die den mörderischen Wettkampf der Nebenbuhler wie die Spielleiterin einer Fernsehshow beobachtet. Als eine abschreckende Idee, mit der sich Penelope die Männer vom Leib hält, ist der Odysseus des irischen Autoren Enda Walsh übrigens der mächtigste dieses Wochenendes.

Nach einer kurzen Nacht steht Oliver Scheytt mit den anderen Reisenden im Foyer des Theaters an der Ruhr in Mülheim und wirkt schon sehr zufrieden mit dem Theater-Happening: „Wir sind bei den Leuten angekommen mit den Geschichten, der Idee, diesem Wochenende“, sagt der Geschäftsführer der Ruhr 2010 zur Halbzeit. Zu anstrengend sei das nicht, findet der Kulturpolitiker, oft bleibe noch Zeit für einen Kaffee, „und die Reisen empfinde ich als angenehm“.

muelnonn_400qDie Agentur „Raumlabor“ aus Berlin hat das Umfeld der Aufführungen entwickelt, auch die Busfahrt von Mülheim nach Moers am Ruhrdeich entlang. Rechts strömt der Fluss zum Rhein, links die Autobahn, dazwischen die Kleingartenanlage „Ruhrperle“; spitzgiebelige Häuschen, Deutschlandfahnen und blaue Autobahnschilder. Später passiert die Reisegruppe die weißen Riesen von Hochheide, trostlose siebziger Jahre Wohnsilos im Schmuddelwetter. Das Orkantief bringt Regen, Hagel und Wind von der Nordsee.

Das Moerser Schlosstheater spielt in einer ehemaligen Tennishalle eine weibliche, türkische Odyssee der Autorin Emine Sevgi Özdamar. Eine Irrfahrt der jungen Perikizi die um Auswanderung kreist, um Ausbeutung, Anpassung und auch für die Zuschauer in einem befreienden Hochzeitsfest gipfelt, einem „Bad in der offenen See“. Tee wird dazu gereicht, Süßigkeiten und Kolonya – türkisch Kölnisch Wasser. Dann ein Paukenschlag: Der Moerser Intendant bittet die Besucher für die kleine Bühne zu unterschreiben. An der Westgrenze des Ruhrgebiets befürchtet man, die Kommune werde das Theater schließen.

Die Irrfahrt endet in Dortmund, ein riesiges Straßenbahndepot, eine Festtafel für dreihundert Gäste, türkische Musik, türkische Küche, lange Schlangen, ein Stimmensummen. Das Paar nebenan ist einfach nur „glücklich“, diese Reise mitgemacht zu haben. Sie kommen aus Essen, haben das Theaterhappening trotzdem mit Übernachtung gebucht. Die Gelegenheit, sechs so unterschiedliche Stücke so kompakt vorgeführt zu bekommen, habe sie begeistert – aber noch mehr die „neuen Kontakte mit anderen Zuschauern oder unseren Gastgebern in Moers“. Und dann müssen ihm alle am Tisch von ihren Erlebnissen berichten und welches der Stücke, am besten gefallen habe.

gesicht_400qNatürlich ist dieser Reigen der Ruhrtheater auch ein Kräftemessen der Bühnen. Nicht nur die Autoren der Stücke, Vertreter der anderen Theater sind vor Ort, auch Prominente wie der Intendant des Berliner Ensembles. Mit Buhrufen reagierte Claus Peymann etwa auf den Hauptdarsteller an seiner alten Arbeitsstätte Bochum. Auf einer Guckkastenbühne hat Odysseus von seinem Abstecher in die Unterwelt berichtet – ein stark rauchender, fast leidenschaftsloser Held, der in dem Stück von Roland Schimmelpfennig auch als „Mann aus dem Lotto-Totto-Laden“ oder „Mann vom Sofortdienst“ geführt wird. Das Publikum hatte für das Spiel von Wolfgang Michael weit mehr übrig als Legende Peymann.

„Nein“, sie werde kein Ranking der Ruhrbühnen vornehmen, sagt eine Zuschauerin, Lehrerin aus Essen vor der letzten Aufführung: „Diese Art von Reise hat mich begeistert, diese Inszenierung mit uns“. Im Katalog der Odyssee stehe ja, dass es „um die Bühnenwerdung der Welt“ gehe. Ihre Theaterfreundin meint, sie habe selten mit so vielen Leuten gesprochen – komisch, dass es das nur bei einem solchen Happening gebe? War es das türkische Essen im Nordstadt-Depot, der frische Eindruck – diesen beiden gefiel die Auswanderer-Odyssee aus Moers besonders gut.

Nächste Termine: Sa/So 6./7. März 2010; Sa/So 13./14. März 2010; Fr/Sa 2./3. April 2010; Sa/So 22./23. Mai 2010

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Doppelt gute Fotos für Haiti

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Martin Steffen ist ein guter Fotograf. Ich habe erlebt, wie er mit Linse und Blitzlicht aus ostdeutschen Innenverteidigern Charakterköpfe machte. Martin hat das gelernt, war in Berlin bei Jim Rakete, in Paris. Kam wieder zurück nach Bochum, arbeitete für Werbung, für Prinz, Unicum, Playboy, Hattrick. Für Schauspieler, Musiker, Sportler. Seit ein paar Jahren ist Martin viel unterwegs. Er reist für Hilfsorganisationen wie Adveniat in Essen, macht Reportageaufnahmen in Lateinamerika, in Indien, Afrika. Fängt Bilder ein in Slums, Knästen, Armenhäusern, auf der Straße.

Ein paarmal war er in Haiti, zuletzt im Dezember 2009.  Haiti hat es ihm angetan, die härtesteten Erfahrungen, die schönsten Bilder, vor allem die Begegnung mit einem verstörenden Phänomen, den so genannten Restavecs – was sich vielleicht am besten wie ein Befehl liest: „Du bleibst hier!“ Es soll in Haiti hundertausende Kinder geben, die aus dem Hinterland von armen Eltern in genauso arme aber städtische Familien weggegeben werden. Karibische Aschenputtelkinder rechtlos, perspektivlos, oft schikaniert, misshandelt, immer ausgebeutet, Sklaven, Kinder. In Haiti, wo die Sklavenhalter zuallererst verjagt wurden, die erste karibische Republik ausgerufen wurde, gehören enteignete Kinder zum Alltag.

Martin Steffen hat das berührt, ihr Schicksal und der Einsatz für die Kinder durch ein kleines  Hilfsprojekt, eine betagte katholische Schwester. Und er hat sich vorgenommen, selbst zu helfen. Seit dem vergangenen Jahr spendet er seine Arbeitskraft, lässt sich – ganz gegen seine Art – für private Hochzeiten buchen und überweist das Geld nach Haiti. Nach dem furchtbaren Erdbeben ist die Lage für alle noch grausamer geworden – und für die Restavecs nicht besser. Überdurchschnittlich viele werden unter den Opfern vermutet, sie müssen stets am Haus bleiben, arbeiten, in den Armenvierteln, wo Berghänge abrutschten, Siedlungen unter Stein, Geröll begraben wurden. Martin will 2010 deshalb mindestens fünf Hochzeiten ablichten, einen ganzen Tag arbeiten, dafür einen stattlichebn Preis kassieren; spenden. Deshalb – wer 2010 heiraten möchte und sich das etwas kosten lassen kann, der wende sich an ihn oder besuche die von oktober.de und www.trafo2.de eindrucksvoll und kostenlos gestaltete Website.

Ach ja, einige der Aufnahmen aus Haiti hatte Martin im Dezember groß abziehen lassen, um sie für das Restavec-Projekt zu verkaufen. Wir haben neben diesen Prints ausgelassen Sylvester gefeiert, aber die Bilder sagten etwas, das verschreckte Mädchen, wie es sich an einem Besen festhält, … –  zwanzig Tage vor dem Beben.

Karneval der hohen Tiere

Nur noch ein paar Tage bis zum Straßenkarneval, Höhepunkt der närrischen Session 2010. Und gerade noch rechtzeitig für den Ruhrbarone-Verkleidungstip für jecke Narren, närrische Jecken nebst Anhang: Gehen Sie doch als „zu Guttenbergs“.

Und so einfach gehts: Schultern aufpolstern (Kissen), Kragen aufbügeln, Haare einschmieren, schwere Brille tragen, Kunstzahnleiste, ausdauernd posieren (vorm Spiegel üben), außerdem brabbeln, lächeln, brabbeln, Stirn in Falten legen, weiterbrabbeln. Falls noch nicht zur Hand wird sich auch die repräsentative, angemessen hochnäsige Begleitung finden.

Ganz viel Spaß in den dollen Tagen wünschen die Ruhrbarone, von ganz altem Adel.

PS: Links Frau und Herr zu Guttenberg, rechts schwedischer Fitnesstrainer nebst Zukünftiger klick