Jugend Kultur Zentren – Teil 8: Zeche Carl, Essen


Diese Reihe – die letzte Folge ist hier – beschäftigt sich mit den Entwicklungen in der hiesigen Soziokultur. Diesmal geht es im Gespräch mit Kornelia Vossebein, seit einem guten halben Jahr neue Geschäftsführerin der Zeche Carl, auch, aber nicht nur, um mögliche Neubeginne und die Balance zwischen Tradition und Modernisierung.

Jens Kobler ? (auch Fotos): Zur Einführung vielleicht ein paar kurze Worte zur Geschichte der Zeche Carl aber auch die Frage, wie Du hier die Veränderungen erlebt hast: Was ist neu hier seit einem halben Jahr, was ist geblieben und wie bist du hierher gekommen?

Kornelia Vossebein !: Die Zeche ist ja relativ früh entstanden, als Altenessener Bürgerinnen und Bürger sowie die evangelische Kirche auch über Aufrufe in der Zeitung das Gebäude für sich umgenutzt und auch umgebaut haben. Carl ist insofern ein absoluter Prototyp für Orte wie Zeche Zollverein etc.: „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ gab es hier mit als erstes. 1979 wurde der betreibende Verein gegründet, und bald wurde man durch Veranstaltungen und politische und Stadtteilarbeit überregional bekannt.
Ich selbst komme ursprünglich aus Bielefeld und habe dann erst das Ende des Prozesses der Umwandlung in eine gemeinnützige GmbH im letzten Jahr mitbekommen. Zuvor gab es einen Verein mit einem geschäftsführenden Vorstand. Der Betriebskostenzuschuss von der Stadt und die Aufgabe, ein Soziokulturelles Zentrum zu betreiben, das auch niedrig schwellige Angebote und Stadtteilarbeit macht, sind geblieben.

?: Es gab ja offensichtlich auch Vorbehalte gegenüber der Geschäftsführung des Vereins, viele Verhandlungen und schließlich eine Ausschreibung, aufgrund derer du jetzt hier bist.

!: Die vollzogene Insolvenz hatte bedeutet, dass die 22 Angestellten in eine Transfergesellschaft gekommen sind. Die Stadt hat also einen irren Aufwand betrieben, um Carl zu erhalten, wozu auch gehörte, dass sich um Weiterbildung für ehemalige Mitarbeiter gekümmert wurde, während klar gemacht wurde, dass es hier weiter gehen sollte, aber mit einer anderen Betreiberstruktur, die mehr Transparenz gewährleisten und eine weitere Insolvenz für die Zukunft verhindern sollte. Die Reinigungskräfte, der Haustechniker, einige andere und viele Fremdveranstalter sind geblieben, aber die ehemalige Personaldecke allein hatte damals den Betriebskostenzuschuss schon überstiegen – das war einer der Sargnägel des Vereins. Schon in der Interimszeit wurde also geprüft, welche Struktur hier funktionieren würde, und dann gab es im April eine Ausschreibung über die Geschäftsführung. Ich kam aus dem vollen Lauf aus meiner neunjährigen Tätigkeit für den Bunker Ulmenwall in Bielefeld und wurde irgendwann angesprochen vom Leiter der LAG Soziokultur, dass sich da auf Carl etwas tut. Im Mai kam dann die Berufung, jetzt bin ich hier.

?: Kamen dann direkt die Technopartyveranstalter, die hier die Tür eingerannt haben? Oder wie gestaltete sich die erste Zeit?

!: Die sogenannte Interimsphase, also die Zeit vom Konkurs bis zum Neustart war ziemlich lang. Es gab zehn Monate lang ein leitungsloses Haus, das aber aus bestimmten Gründen nie ganz geschlossen sein sollte. Man hat also Hilfskonstrukte gefunden, damit zumindest die Kurse weiterlaufen und die Fremdveranstalter ihre Partys machen konnten. Für so ein Zentrum ist das aber natürlich ein Schock! Und auch ein ziemlich schweres Erbe, denn du hast hier die Zeit vor der Insolvenz, aus der so diese Schwingung „Hier sieht’s nicht gut aus!“ immer noch herüberschwappte und eine – sagen wir einmal – negative Presse, die sicherlich einen Imageschaden bewirkt hat. Und es gab die Interimszeit mit Leuten, die nur das Organisatorische gewährleisten sollten. Aber letztlich gab es in dieser langen Interimszeit keine handelnden Personen und keine echten Handlungsmöglichkeiten. Egal wo man da eine Schuld suchen mag, alleine dadurch haben dieser Schock und diese Verunsicherung stark nachgewirkt. Bei Partyveranstaltungen waren dann nicht mehr 1000 Leute da, sondern nur noch 500. Und selbstverständlich ist Carl in dieser Zeit auf der Karte vieler Veranstaltungsagenturen ganz einfach verschwunden. Der Neustart wiederum bedeutete also nicht, dass man im August die Türen wieder aufschließt und alles ist gut. Sondern man muss viele vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen, neue Konzepte entwickeln, aber auch herausfiltern, was gut war an Carl vorher. Denn inhaltlich ist Carl ja bestimmt nicht gescheitert. Also gab es viele, viele Gespräche, auch Beschwerden, wo viele Emotionen kanalisiert werden mussten.

?: Das ist ja auch recht typisch, fast wie bei einem Systemwechsel, so á la „So schlimm können die vorher gar nicht gewesen sein – die waren doch immer nett zu mir“ und „Die Neue ist aber fremd!“. Sind denn auch Gruppen abgesprungen aus einer Art Solidarität mit dem Verein oder den Angestellten und haben dem Stadtteil die kalte Schulter gezeigt? Und wenn hier jetzt nicht gerade eine ganz andere Politik betrieben wird, dann müsste es sich doch hoffentlich irgendwann einmal legen mit dem Fremdeln, oder? Vielleicht eine gute Gelegenheit, jetzt mal auf das aktuelle Programm einzugehen.

!: Ich denke, wir haben viele Partner, auch politische Gruppen wieder gewonnen. Klar ist aber auch, dass Carl z.B. kein parteienspezifisches Ding sein soll. Carl soll ein Diskussionsort sein, an dem sich alle möglichen Fraktionen ansiedeln. An einem Wochenende im Herbst, als ich hier noch recht neu war, gab es eine Vermietung an die Junge Union, und am nächsten Tag waren die Linken da – und so will ich das haben.

?: Kurzer Einwurf: Nach einer Runde im FZW sagte ich noch letztens: Wie kann man sich überhaupt nur auf eine Partei verlassen, geschweige denn auf die SPD unter Langemeyer? Da dreht sich ganz schnell das Blatt, und plötzlich hat man SPD und CDU gegen sich, wenn man nicht aufpasst. Aber gut.

!: In Bezug auf andere Bereiche: Das Kursprogramm wird wieder ausgeweitet, von Selbstverteidigung für Kinder bis zu Yoga für ältere Frauen. Allgemein sind viele geblieben, und manche schnuppern jetzt wieder. Und es ist ja auch wichtig, dass Carl ein Ort ist, an dem man sich wohlfühlen kann. Ich bin eher eine, der vieles nicht schnell genug gehen kann, aber unser Wirt hier sagte letztens: „Als wir hier angefangen haben, war Carl tot.“ Und er hat recht, ich habe das immer „die Glocke der Depression“ genannt. Es muss noch viel mehr Leben kommen, das ist klar, aber ich habe den Eindruck, Carl kommt wieder. Und das muss mit den Menschen vor Ort passieren – was ein anderer Kulturbegriff als der einer Philharmonie z.B. ist, der es ziemlich egal ist, in welchem Stadtteil sie steht.

?: Ich habe so etwas letztens mal „Drive-In-Mentalität“ genannt: Hinfahren, Einparken, Konsumieren, Ausparken, Wegfahren.

!: Ja, das ist hier schon eine andere Konzeption. Natürlich kommt so etwas hier zu Highlight-Konzerten auch vor, und Carl ist ja nicht für seine Stadtteilarbeit überregional bekannt geworden. Auch diese Konzerte will man ja, aber es geht großteils eher um die Menschen, die etwas von Carl persönlich wollen, sozusagen. Aber wo wir dabei sind: Früher gab es zwei Stellen für Konzerte und eine halbe für Kabarett. Ich arbeite mehr mit Veranstaltern oder Kuratoren und buche zum Teil auch selbst. Geschäftsführung war auch in Bielefeld für mich nicht nur Buchhaltung, und das ist auch wichtig für meine persönliche Motivation. Ich mache das ja nicht, weil ich gerne vor Statistiken sitze oder Bilanzen mache. Es geht um ein Programm,…

?: ,… und um einen Charakter wohl. Von typischer „Ältere Jungs“-Warte wurde mir oft gesagt: „Die bei Carl machen nicht genug Punk und Heavy Metal. Die Leute sind jetzt alle weg. Wenn sie die nicht zurückholen, können die das gleich vergessen.“ Was natürlich eine etwas eingeschränkte, leicht machohafte und vielleicht sogar konservativ-reaktionäre Haltung sein kann.

!: Mir geht es schon darum, auch im musikalischen Bereich eine gewisse Vielfalt hier wiederzuhaben. Die ehemalige Entwicklung zum Punk-, Metal-, Gothic-Schuppen war ja historisch gesehen relativ neu. Nichts gegen diese, aber das ist nur eine Programmfarbe von vielen. Klar ist auch, dass man einen langen Atem braucht, um eine neue Stilistik einzuführen.

?: Es könnte ja womöglich ein Gewinn sein, sich neu auf Carl einzulassen, weil ja Veränderungen nicht immer schlecht sein müssen…

!: ,… und mit den Konsequenzen muss man dann leben. Wenn also Leute sagen, dass hier nur noch drei, vier Mal im Jahr was für sie ist und sie deshalb nicht mehr kommen, dann muss ich sagen: „Schade, dann habt Ihr Carl nicht verstanden.“ Andersherum ist es fast wichtiger: Diejenigen, die erst einmal merken müssen, dass hier nicht nur Punk und Heavy Metal ist. Die müssen wir gewinnen. Viele sagen auch, dass man hier jetzt wieder hingehen kann, weil es sauberer ist, die Gastronomie besser aussieht, usw. Das Team hat das Haus quasi lieb. Wir schätzen das Equipment, lassen Fremdplakatierungen halt nur bedingt zu und halten alles in Ordnung. Das ist eben nicht spießig, das ist eher modern und zukunftsträchtig. In einem Haus, das nur eine Stilistik fährt, ist es natürlich einfacher, ein Image zu bilden. Carl soll aber vielfältig sein, aufgestellt sein für Menschen von Kindern bis zu Senioren. Das Seniorencafé boomt schon wieder. Und es ist mir auch wichtig, dass sich hier Menschen ausprobieren können, von Selbsthilfegruppen bis hin zu Kreativkursen. Idealiter hätte ich gerne eine Kreativszene, die sich hier wieder neu und anders ansiedelt.

?: Klingt wie „bunt, aber nicht autonom“. Das führt ja auch zu Problemen wie z.B. einmal im Druckluft zwischen HipHop und Feministinnen und Schwulen oder zwischen Migranten und Feministinnen oder hedonistisch orientierten und Konsumverzicht übenden. Gibt es hier auch solche Reibungsflächen? Das ist ja auch eine Frage, wie viel Radikalität man zulässt.

!: Wir hatten mal Belegungen wie die Popolskis vor dem Glamourdome, und da war ich eher positiv überrascht, wie eher bürgerliches mit offensiv schwulem Publikum klargekommen ist. Und bald haben wir auch wieder drinnen ein Punkkonzert und draußen etwas eher Gutbürgerliches. Mal gucken, wie das dann funktioniert.

?: Das soll ja nun auch sicher die Funktion so eines Stadtteilzentrums sein, dass eben nicht Gettoisierung und Separatismus gefördert werden.

!: Wobei ich natürlich da schon Rücksichten nehme. Außerhalb eines sexistischen und rassistischen Bereichs muss Koexistenz aber ganz klar möglich sein, idealiter sogar Kooperation. Beim Fest am 1. Mai wird man das auch in diesem Jahr wieder sehen: Ein bunt gemischtes Publikum, diesmal aber auch mit zwei, drei Highlight-Konzerten.

?: Überhaupt war Carl ja schon immer viel mehr als die großen Säle. Wie steht es im Moment eigentlich um die Nachbarhäuser hier auf dem Gelände?

!: Das Ensemble Zeche Carl. Wie ich finde, eines der wärmsten und schönsten Zechengeländen. Natürlich ist das Casino unsere Hauptaufgabe, das ist klar. Der Malakow-Turm steht still und leer und ist baulich wieder bei der Immobilienwirtschaft. Was da umgebaut werden muss, das läuft gerade. Das Maschinenhaus war und ist an den Carl Stipendium Maschinenhaus Essen e.V. verpachtet, wo ab und an Vermietungen, Ausstellungen, Theaterstücke, Proben stattfinden. Im Badehaus sitzt nach wie vor der Offene Kanal, leider derzeit ohne Senderechte, und die Neue Essener Welle. Im ehemaligen Pförtnerhaus ist der Förderturm e.V. und macht Kinderbetreuung. Und so muss man das hier auch betrachten: Mal angenommen, in das Maschinenhaus käme ein Matratzenlager und ins Badehaus ein REWE: Das machte überhaupt keinen Sinn. Es muss sich hier inhaltlich gut ergänzen, und Synergien müssen sich ergeben.

?: Abschließend: Das Arbeiten in einem Stadtteil einer großen Stadt innerhalb einer sehr großen Städteballung ist sicher ein anderes als in Bielefeld. Welche Unterschiede sind dir da aufgefallen?

!: Ich kannte vorher schon z.B. den Bahnhof Langendreer oder auch das zakk sehr gut. Und in Essen gibt es ja ansonsten nur noch das Grend, aber dem gegenüber arbeitet Carl schon ganz anders. Man will also keine Konkurrenz sein zu anderen Zentren, sondern arbeitet eher an einem Profil, das auch eine Ergänzung zu anderen Angeboten bietet. In Bielefeld wiederum waren wir auch vernetzt mit Zentren wie dem domicil in Dortmund oder dem Stadtgarten in Köln. Außerdem ist Bielefeld übrigens auch in einer Haushaltssicherung. Generell sind die Vernetzungen hier natürlich anders als dort, aber bei knappem Geld muss man sich überall gleich rechtfertigen. Und dadurch dass ich nicht von hier bin, gehöre ich halt zu keiner Seilschaft und bin neutral. Da überwiegen dann die Vorteile, denke ich. All die Kontakte hier vor Ort herzustellen, das dauert schon seine Zeit. Aber so kann ich mir andererseits auch mein eigenes Bild machen.

?: Vielen Dank für den Einblick und weiterhin alles Gute!

www.zechecarl.de

3 FÜR 7 – Konzert-Special

Deutschsprachige Lieder, Abteilung Pop und Rock, eher so alternativ. Das sind grundsätzlich Bands, die mit recht gewöhnlichen Strukturen arbeiten, meistens etwa so: Ich sing Dir was vor nem ausgesuchten Hintergrund von Referenzen an andere Bands, gewisse Stilistiken, Haltungen. Manchmal docken die Musizierenden sich direkt an auswärtige Vorbilder an und „übersetzen“ dann Trends für Verhältnisse in Dehrendorf, St. Pauli oder Marzahn, ungeachtet der Tatsache, dass z.B. Horst Köhler nicht ganz Elisabeth II. von England ist. Gottseidank nicht in England? Heute: Fehlfarben, Die Sterne, School Of Zuversicht.

Der Autor dieser Zeilen mochte Peter Heins Texte ja lieber, als dieser noch nicht bei Rank Xerox gefeuert worden war. Jedenfalls ging’s da bei den Fehlfarben wie auch bei Family 5 und auch sonst immer rappzapp an englische Trends ran, ob Orange Juice oder Dexys Midnight Runners. Voll Düsseldorf also irgendwie. Mittlerweile hat man’s auch nicht leichter als „Dick Bauchpunk aus England“ (zitiert nach Blumen Am Arsch Der Hölle) und gibt das moppernde Denkmal zum Buch, zur Tour, zur Platte. Und alle singen „Das war vor Jahren“ dazu, genau. Coca Cola Sonne oder sonst ne Sonne, wer weiß das schon so genau, usw.usf. Zu Post-Punk Zeiten eigentlich schon besser, da frischer und weniger piefig: Der Plan (NRW) und Palais Schaumburg bzw. Holger Hiller (HH).

Hamburg? Da rottete sich so rund um ’89 auch plötzlich alles wie in einem Musiker-AZ („AZ“ – guter deutscher Humor, oder was?) zusammen, wo vorher eigentlich nur Die Goldenen Zitronen und Rocko Schamoni waren. Herausragend: Frank Spilker (auf dem Pressefoto mal nicht ganz oben). Und gut auch, dass der Bandname Die Sterne unfassbarerweise noch frei war, das verpflichtete anscheinend zu vielen Jahren guter Musik (mit vielleicht zwei etwas schwächeren Alben). Soweit zu Die Sterne, zu denen ja meist weder mitgegröhlt noch mitgetanzt wird. Bessere Bands aus der Schule von ’89? Hm, vielleicht einfach mal Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs in die Erinnerung zurückdroppen, aber mehr nur so. Natürlich ist Mutter die beste.

School Of Zuversicht macht da schon etwas weniger Lied und auch weniger Band, gesungen wird nicht auf deutsch, eher wird so ein bisschen Künstler/innenkollektiv und Internationalität statt innerdeutscher (Nicht-)Diskurs avisiert. Support: Festland, die auch am 15. im Essener Goldclub spielen. Bei beiden ist jedenfalls mehr von der sogenannten Innerlichkeit rauszuhören als bei den Bands oben und es geht auch etwas mehr in Richtung Installation als in Richtung Rockpose. Und ja, es gibt kaum neue Bands oder sonstige Musikproduzierende mit nicht vereinnahmbarem Ansatz heutzutage. So, Düsseldorf, Hamburg, Ruhrgebiet; Deutschlandmusikzeitreise beendet – interessieren Sie sich doch bitte jetzt mal für etwas anderes und fühlen sich von dieser Rubrik nicht weiter von Wichtigerem abgehalten. Danke!

School Of Zuversicht am Donnerstag im djäzz,
Fehlfarben am Mittwoch und
Die Sterne am Samstag im zakk.

3 FÜR 7 – Spektakel-Special

Das waren noch Zeiten, als Guy Debord „Die Gesellschaft des Spektakels“ geschrieben hat! Die Massenmedien waren noch jung, hatten aber schon ihre Weltkriege hinter sich; es gab „Glotzen“ statt „Interaktivität“, es gab Leserbriefe statt einem Strauß eigener Webseiten für uns alle. 1967 war das, und im selben Jahr vereinten sich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit der Europäischen Währungsgemeinschaft zur EG. Und nun, 43 Jahre später, dies: Kulturhauptstadt Europas Ruhrgebiet! Spektakulär, nicht wahr? Die Themen: Star Wars in Concert, Metropole Ruhr Metal-Festival, Peer Gynt im Grillo.

Science Fiction, äh: Faszination Zukunft. In Büchern oft eher technologie- und systemkritisch gehalten, mutieren die Geschichten via Hollywood, Babelsberg & Co. gern zu Märchen, Psychothrillern oder Kriegs-Sagas. Okay, Perry Rhodan kritisch? Kaum. „1984“ und „Fahrenheit 451“ als Filme? Sicher sehr in Ordnung. Aber meist? „Johnny Mnemonic“? Pff! Emmerich? Ich bitte Sie! Gern umstritten: „Solaris“, welche Version auch immer. Aber wie schrieb Walter Benjamin: „So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die ungleich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade aufgrund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.“ Eine sicherlich diskutierenswerte Haltung, nicht erst heutzutage. Und jetzt also George Lucas, der Stars Wars mal neu zusammengeschnippelt hat, plus live das Royal Philharmonic Concert Orchestra samt Chor (Foto: Handwerker Promotion). Unter dem Banner von König Pilsener. Extravaganter Hypertrash oder große Popkultur? Wie sagte Diedrichsen letztens: Für die Amis ist sowas Pop.

Und was ist für den Ruhrie Pop? (haha) Metal zum Beispiel, nach landläufiger Meinung. Und auch für diese ach so bodenständigen Kreuzritter der Authentizität (denen man ja eher nur nicht „mädchenhaftes“ Popgehabe vorwerfen darf), gibt es jetzt spätestens – tusch! – die „Metropole Ruhr“. „Wie geil ist das denn, bitte?!“, um es einmal mit Trashpop-Chefideologe Dieter Bohlen zu sagen. Auch Oberhausen. Wieder Vollspektakel. Brauchen die ärmsten Städte eigentlich zwingend die dicksten Spektakel?

Nein, denn Essen hat sich ja als Hauptnamensgeber für die Kulturhauptstadt schwer Richtung Sonne geschoben, und da reicht dann auch einmal Roger Vontobels Version von „Peer Gynt“. Ibsen hier auch eher im Single-Remix, sozusagen, also kurz – aber wer sagt denn, dass Spektakel großformatigst, zeitintensiv und mit Macht überbordend sein müssen? Genau, seit vielen Jahren nur noch die, die sich von den vielen kleinen Alltags-Spektakeln absetzen wollen. Das Prinzip aber ist jeweils dasselbe – Sie baden gerade Ihre Hände darin.

„Star Wars in Concert“ am Mittwoch.
„Metropole Ruhr“ am Sonntag.
„Peer Gynt“ am Sonntag für zehn Euro.

Kulturetats Ruhr: Die goldenen Jahre sind vorbei

Ruhr2010 und Deutscher Kulturrat luden in die Essener Philharmonie, die Dortmunder Musikwirtschaft e.V. ins FZW. Zweierlei Einblick in knappe kommunale Kassen, Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten.

Ich weiß nicht, wie pleite eigentlich sonst die Städte auf dem weiten Globus sind. Und vor allem frage ich mich immer: Wem schulden die eigentlich all das Geld? Wer hat sie in der Hand? Aber natürlich auch: Wo sparen wir denn? Und das ist natürlich schon Parteinahme, denn viele sagen a) „Bei mir nicht!“ und b) „Wir dürfen uns jetzt nicht gegeneinander ausspielen lassen!“. Und dann tun sie es hintenrum doch oder bieten von sich aus Kürzungen an. Gerade im Kulturbereich fetzt das derzeit natürlich: Theater zu hier, Museum weg da, Kürzungen überall. Und: Ja, das ist nicht lustig, hat aber seine Momente, vor allem wenn man sieht, was wann noch wie in letzter Zeit alles schnell installiert wurde – immer hübsch im Rücken natürlich: Die nachhaltig irgendwie tierisch einschlagende Kulturhauptstadt 2010. Aber konkreter:

Vor dem FZW rede ich mit einem bekannten Veranstalter, den es beruflich von Dortmund nach Köln verschlagen hat. Er oszilliert sozusagen wild zwischen verschiedenen Rollen, wenn er einmal auf die Zusammenhänge angesprochen wird: Da ist die Frage nach dem Kindergartenplatz. Aber auch die nach dem Kulturstandort Dortmund als Ur-Dortmunder. Dann ist da der Veranstalter, der gute Parties und Konzerte will. Aber auch der Vater, der ein klares Angebot an Jugendarbeit will. Alles nachvollziehbar, alles soll sein. Überhaupt ist der Ort der Handlung in Nachbarschaft des „U“ ein wenig zwiespältig: Die Gebäude erinnern an die ehemals so postulierte „Designstadt“ auf Zollverein. Hier wollen die einen dicke Verlage, die anderen Webdesigner als schwer zukunftsträchtige Standortfaktoren, Abteilung Kreativwirtschaft ansiedeln. Und auch am Bahnhof wird noch schwer gebaut. Sind das die letzten Investitionen in Zukunftsfähigkeit vor dem großen Kahlschlag? Und wird da in eine ungewisse Zukunft (und eine sichere der Bauherren) investiert, während andernorts die „Freie Szene“ dicht gemacht wird? Ich sage zu dem Veranstalter u.a., dass bei all dem Konkurrenzkampf um das „Wie“ der Programmgestaltung im FZW in Betracht gezogen werden sollte, dass die Stadt hier demnächst auch Ausstellungen machen könnte, die dann z.B. im Künstlerhaus Dortmund nicht mehr stattfinden können.

Szenenwechsel in die Philharmonie Essen, einen Tag zuvor: Ein lokal engagiertes Mitglied der „Freien Szene“, der gleichzeitig kulturell aktiv ist, nicht nur in einem soziokulturellen Zentrum, zündelt im Saal mit einem Feuerzeug scherzhaft an seinem Stuhl. Hintergrund: Kurz zuvor hatte ein OB erklärt, man habe gerade drei Bäder geschlossen, eines sei leider abgebrannt. „Ein Haus weiter gehen, bitte!“, zische ich, denn da steht immerhin das Aalto. Nun wurde in Bezug auf die Theater und Philharmonie GmbH im Rahmen der Essener Kürzungen am meisten zugeschlagen, und so bemühen sich sogar der Deutsche Kulturrat und O. Scheytt persönlich um „Kulturfinanzierung – welche Möglichkeiten bestehen“. Hier wie einen Tag später in Dortmund bemerkt man gewisse regionalistische Tendenzen: Ist es in Dortmund die Konkurrenz zu Bochum, Köln oder den Westfalenhallen, die das Aushilfs-Feindbild abgeben müssen, ist es hier „der Osten“, „das Land“ oder die Bundesregierung, die sich einfach nicht zu hilfreichen Maßnahmen bereiterklärt. Aber es gibt Ansätze: Eine Festsetzung eines garantierten Mindest-Kulturetats. Operative Zusammenschlüsse von z.B. Museen oder Theatern. Bis hin zum Einschreiben der Kulturförderung in die Verfassung. Allgemein anerkannt ist, dass die Kommunen sehr stark geschröpft wurden und mit diesem Jahr zumindest eine neue Gewichtung der Bedürftigkeiten der einzelnen Kommunen in Deutschland hermuss. Beim anwesenden Publikum kommt der Hinweis von O. Scheytt, man könne für ein Freibad auch mal 2 Kilometer weiter fahren, sehr gut an. Als er von den Abermillionen spricht, die die Kulturhauptstadt in die Kassen spülen wird, hofft man nur, das nicht im Dezember immer noch hören zu müssen.

All dies sind interne Lobby-Beruhigungsgespräche. Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, sagt irgendwann, dass in punkto Kürzungen meist verliere, wer sich zuerst bewege und dass immer die übrigblieben, die sich als widerstandsfähig erweisen. Platt, ja. Und eine Mahnung an unorganisierte, freie Kulturträger, die sich am Tropf der Kommune befinden. In Dortmund kann dazu, je nachdem wo man hinhört, zweierlei erlauscht werden: a) „Wenn die CDU drankommt, macht die die ganze Freie Szene platt!“ oder b) „Die SPD und Gorny machen das eh schon durch all die neuen, großen Kreativzentren.“ Naja, Parteien. Wer in Essen genau hingeguckt hat, sieht zum Glück auch, dass diese Wahlstimmenerstreiter oft auch arbeiten und z.B. in Enquete-Kommissionen gemeinsame Perspektiven entwickeln können. Wie sehr sie sich einig sind, zeigen sie in Zeiten des Wahlkampfes aber oft nicht. Und da muss dann wirklich jede Kulturinstitution bei ihrer Lobbyarbeit aufpassen, denn: Filz ist auch nicht mehr das, was er mal war – gerade in so einer (jetzt kommt’s) Metropole wie dem Ruhrgebiet!

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3 FÜR 7 – Drei Veranstaltungen der Woche

Gestern die ganz große Kulturlobby samt Deutscher Kulturrat in der Essener Philharmonie, heute „Gesprächskreis“ rund um das Dortmunder FZW: Über beides später mehr. Einstweilen: „Lady Windermeres Fächer“, „Unsere Stadt braucht Lieder!“, „Der Innere Innenminister“.

Bitte aufzeigen: Wer kennt Oscar Wilde nicht? Grummel. Na gut, wollen wir mal glauben. Der Abgebildete und sein „Lady Windermeres Fächer“ wurden jedenfalls mal von Ernst Lubitsch verfilmt – ohne Ton, es war im frühen 20. Jahrhundert. Die Essener Philharmoniker unter Leitung von Helmut Imig nutzen diese Steilvorlage morgen – nein, nicht im „schönsten Museum der Welt“ – in einem gut erhaltenen Lichtspielhaus an der Kettwiger Straße, um die Bilder mit Rachmaninov, Wagner, Ries und anderen antiken Klassikern … nun, zu untermalen, aber mit kräftigem Strich. Warum der „Filmspiegel“ erwähnt, dass die oberen Zehntausend von heute nicht mehr wie die oberen Zehntausend von damals sind, und dass der Film wie ein „Rührstück“ wirke? Warum er erwähnen zu müssen meint, dass die „weitgehend illustrative Musik“ von Imig „verständliche“ Töne (Anführungszeichen so im Original) anschlage? Ach,…

Irgendwann traf der Autor dieser Zeilen vor dem Proberaum der Familie Staub ebenjene. Kurz zuvor hatte dieses von gegenseitiger Höflichkeit geprägte Interview stattgefunden. Und so verhält man sich untereinander, Sänger Florian Streier ist ein durchaus dem, was er für das Schöne, Gute, Wahre hält, verpflichteter Künstler. Jedenfalls kam das Thema auf, ob der Autor dieser Zeilen mit seinem DJ-Duo-Kollegen aus u.a. Radio Gruga Zeiten nicht Teil nehmen wolle an „Unsere Stadt braucht Lieder!“. Und er lehnte höflich ab, da ihm das wiederum nicht zu Image, Ansatz und Spaßverständnis dieser anderen (kleinen) Künstlergruppe zu passen schien. Er fügte aber hinzu, dass er sich persönlich schon gut vorstellen könnte, im Sinne der am ersten von drei Festivalabenden auftretenden Künstler/innen um die Auftritte herum auflegen zu können. Letztlich sei ihm aber „Neue Songs der Metropole Ruhr“ als Untertitel dann doch viel zu überdick aufgetragen und er höre sanftes Songwriting wenndann eher privat, als das im Grend von Konserve zu spielen (wenn grad niemand zuhört). So war das. Desiree Klaeukens und Stadtlichter sind die Namen der anderen live musizierend Teilnehmenden.

Wenn Bernadette „La“ Hengst mal wieder im Ruhrgebiet ist und nicht gerade 3-Stunden-Konzerte im Druckluft absolviert, dann geht es meist um Theater. Nach der Eichbaumoper ist auch diesmal der Ringlokschuppen (Einblicke in dieses Etablissement hier) an diesem Gastspiel viel mehr als nicht ganz unbeteiligt, und es geht wohl darum, wie sich in Deutschland Politik(er) in aber auch jedes kleinste bisschen an Leben einmischen meinen zu müssen, und dies in Gestalt eines SuperInnenZukunftsMinisters. Der Autor dieser Zeilen kann diese spezielle Art der Politisierung derzeit gut nachempfinden, es sind ja (immer) bald Wahlen, es ist „Dauernotstand“, Krisenkrisenkrise, mal wie in der DDR und dann wieder Turbokapitalismus, die Pfandflaschen könnten mal raus und er „muss“ ja gleich auch noch zu Kulturetatdebatten zwischen Jugendamt und Nachwuchs-Unterhaltungsindustrie nach Dortmund.

„Lady Windermeres Fächer“ am Mittwoch.
„Unsere Stadt braucht Lieder!“ erstmals am Freitag.
„Der Innere Innenminister“ auch erstmals am Freitag.

5 FÜR 7 – Kultur und Co an der Ruhr

folkwang_kirchnerZehn Wochen Kulturhauptstadt: Ein Zwischenstand. (Denn wer hat schon 100 Tage Ruhe heutzutage?) Beim Zwischenresümee zum Milchkaffee auf der Rüttenscheider hieß es gerade etwa wie folgt: Nach Außen innerhalb Deutschlands sieht’s PR-mäßig doch ganz gut aus: Erst die Eröffnung und der Charteinstieg, dann Ruhrmuseum und Folkwang, dann Odyssee Europa – alles ging groß durch die Feuilletons.
Jetzt: NRW-Wahlen als Nonplusultra für ungezählte Reichstagskarrieren anscheinend. Auch fein. RAG macht Ökostrom, Schalke und Dortmund stehen gut da wie lange nicht mehr, die Ruhrbarone auch, Debatten hier setzen Akzente und labern nicht mehr einfach nur hinterher. Wie und wo gekürzt und kooperiert werden muss in den Kommunen, selbst das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Daher zur Feier des Tages gleich mal fünf Themen: Local Heroes Recklinghausen, DAF & No More, Folkwang, Hinterhaus, 2. Klavierfestival Oberhausen.

Diese Woche ist Recklinghausen dran im Rahmen von Local Heroes – eine dieser 120.000-Einwohner-Städte hier in der Gegend, die endlich mal wieder ihre 15 Minuten bekommen. DAF und No More hatten die ihren in den 80ern, und das ist ja schon so lange her, dass mittlerweile locker beobachtet werden darf: Meine Güte, haben die geklaut bzw. ging das schnell damals für NewWave-Trendsurfer von Düsseldorf nach London und so! Ein bisschen Suicide, ein ganzes Ende Cabaret Voltaire, Andocken an den Mute Records Maschinenpark, Hitler & Homoerotik, Koks & Uniform und ab dafür. No More waren da irgendwie näher am hiesigen Electro Marke Eigenbau, aber irgendwie mussten sich ja dann irgendwie alle in die Schubladen EBM oder Pop, Goth oder Disco, Techno oder Schlager einsortieren lassen. Schön dass die zusammen auftreten und mal wieder die Muckis zeigen wollen.

Erste Sonderausstellung in Folkwangworld: „Das schönste Museum der Welt“ wurde es mal genannt, und das soll nun rekapituliert werden mit Ausstellungsstücken aus den Goldenen Zwanzigern etc. (Das Foto von Jens Nober zeigt „Tanzpaar“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1914). Der Autor dieser Zeilen freut sich auf kommende, stringentere Konzepte (nicht das mit Elvis!), versteht aber, dass sich erstmal volksnah gegeben wird bei gleichzeitiger Selbstbeweihräucherung. So san’s halt, die alten Kulturadelsleut! Wem das zu überkandidelt ist, kann gern zur ersten Ausstellung im Hinterhaus, Interview hier.

Klavierfreuden nicht als Chillout oder Romantikaccessoire sondern in aller Öffentlichkeit im Rahmen eines klein-feinen Festivals? Dann ist diese Woche vielleicht Oberhausen (erst recht) auf der Karte.

Recklinghausen zeigt sich noch bis Samstag als Local Hero.
DAF und No More on stage am Donnerstag.
Das Hinterhaus ist hier.
„Das schönste Museum der Welt“ wird ab Samstag bestaunt.
Das „2. Oberhausener Festival rund ums Klavier“ ist am Sonntag.

3 FÜR 7 – Drei Veranstaltungen der Woche

tom-liwaEtats werden gekürzt, es wird debattiert. Alleine die Veranstaltungen, die schnell noch für 2010 entwickelt worden sind, stehen direkt wieder zur Disposition. Der Konkurrenzdruck steigt. Kulturarbeit, Sportstätten, Jugendarbeit werden gegeneinander aufgewogen. Plötzlich erhält Standortpolitik ein noch höheres Gewicht, als eh schon beim Thema Kulturhauptstadt (da vor allem als Tourismus- bzw. weicher Faktor): Was nutzt diese und jene Veranstaltung oder Institution der Kommune, vielleicht den Bürgern? Und was wird eigentlich aus dem Colosseum in Essen? Kann man da nicht den RWE rein…? Die Tipps: Tom Liwa, Der Pott Filmt, Tocotronic.

Persönliches zu Tom Liwa: Damals als der Autor dieser Zeilen von heute auf morgen das Kulturprogramm im KKC Essen bewerkstelligen musste (und die Konzertszene an der Ruhr etwas mit-aktualisieren wollte), fragte er sich: Wen rufe ich an, damit ich schnell gute Empfehlungen für gute Leute bekomme, mit denen ich gerne zusammen arbeite? Er rief Tom Liwa an (und hatte schnell direkt gute Agenturen, gute Tontechnik und nicht unwichtige Konzerte). Warum ihn? Wer sich heute den Künstler Tom Liwa anschaut, bemerkt typischwerweise eher nur Spurenelemente von dem, was damals die Flowerpornoes ausgestrahlt haben: Leben können hier, aber mit Blick nach Draußen. Diese Mischung aus Nicht-Abfinden, leichter Hippiekommunen-Haftigkeit, Kümmern, Freund(schaft)lichkeit und natürlich die zur Aufrechterhaltung dieser Haltung nötige Schutzschicht aus höflicher Arroganz und Ablehnung gegenüber offenkundig bornierten Nicht-Verstehern. Das kann ein Mann alleine schwer schultern, oder er gerät schnell in den Verdacht von Larmoyanz und Pose. Genau dem aber setzt sich Tom Liwa (Foto: Amadis) verstärkt gern aus, demnächst wieder mit einem neuen Album. Er hat aber auch seine Bandprojekte, verstärkt das Tim Isfort Orchester als Type von hier und hat sich so auf die Dauer dagegen abgesichert, zu einem Klischee zu verkommen. So rettet sich vielleicht dieses Besondere – indem es schwieriger zu finden, zu okkupieren ist. (Erschreckend: Wer sich alles Intimstfolker aus den Staaten gibt, aber Tom nicht zuhören (ver)mag.)

Wie oben angesprochen gibt es in diesem Jahr auch einiges Neues im Jahresprogramm der Kulturfestivals. Und wie Ende des letzten Jahres angesprochen in dieser Kolumne, wird dabei nicht zuletzt der Faktor Film für die hiesige Kulturwirtschaft hier und da noch einmal hervorgehoben. Natürlich stellt sich dabei – wie hier zuletzt anhand der Oberhausener Kurzfilmtage diskutiert – die Frage, ob nicht der Film nach der Musik die nächste Branche sein wird, in der garantiert nicht mehr viel zu holen ist. Andererseits könnte behauptet werden, Filmen tue wie Fotografieren und Musik machen ja inzwischen fast jedeR, also sei das unbestritten durchsetzbar und Populärkultur vom Feinsten, und daher relativ kürzungsresistent. „Der Pott Filmt“ kann jedenfalls mit einem eingespielten Veranstalterkollektiv (nennen wir es Lobby?) und einem den Filmemacher/innen gerecht werdenden Konzept aufweisen – dass hierbei cinemaphile Menschen aus Brandenburg oder Chile ausgeschlossen werden, übersehen wir dann doch einfach mal wohlwollend.

Häme kommt mit dem Erfolg. So sagte der Autor dieser Zeilen letztens zu einem sich nicht in den Charts tummelnden Musiker von der Ruhr: „Komisch, genau jetzt wo ich so in etwa weiß, was Tocotronic falsch gemacht haben, sind die auf 1.“ Zum Glück nur in etwa, so dass das hier auf keinen Fall expliziert und in Stein gemeißelt werden kann. Und außerdem: 1:1 ist ja schon lange vorbei, nicht wahr? Dass HIM aber ausverkauft ist im FZW, und nicht die geschätzten Tocos … das mag dann doch noch zu denken geben am Ende – falls gewünscht natürlich nur.

Tom Liwa am Mittwoch.
Der Pott Filmt ab Donnerstag.
Tocotronic (und Dillon) am Freitag.

3 FÜR 7 – (Sexy) Essen-Special

jingo-de-lunchHouellebecq ist doof bzw. ein übler Selbstdarsteller. Man kann es nämlich alles auch kürzer und einfacher sagen. Z.B.: Natürlich glauben die Leute nicht nur was ihnen passt, sondern sie glauben auch Leuten gern, die sie z.B. ganz stumpf sexy finden (wollen). Daher all die schicken Moderations-Nichtpersonen bei TV & Co., aber das gilt selbstredend auch für die Trendpostillen, Blogs, etc. – bei denen zur Newsproduktion auch immer ein gehöriges Maß an Sich-selbst-Produzieren dazugehört. Deshalb stolziert auch jede Wasserstandsmeldung neuerdings daher, als wolle sie als letztes aus einem Container raus oder sonst einen Contest gewinnen. Wie blasiert! Themen: Tanz, Jingo de Lunch, eine Kunstakademie.

Die sublimierte Erotik des Tanzes: Das ist ja immer ein wenig heikel. Wo früher Söhne und Töchter aus nicht unreichem Hause zum Erbauen älterer Mitglieder der Gemeinde ein adrettes Ballett auf die Bühne brachten, sind mittlerweile ein wenig mehr Autoerotik und Verkopftheit eingezogen. Die Beziehung zwischen Dramaturgen bzw. Lehrern und Tänzern ist weniger offen autoritär, dafür müssen die Zuschauer nun auch verstärkt im Grunde Untanzbares getanzt sehen – fast wie ja denn nach Auschwitz doch eben genau mehr denn je Gedichte und Lieder geschrieben werden als je zuvor. Wilde Zusammenhänge hier: Massenmord, Erotik, 68er! Na, macht das an? Jedenfalls ist am Freitag Großtanztag in Essen: Im Rahmen der Biennale Tanzausbildung und darüber hinaus Mary Wigman und Gerhard Bohner bei PACT Zollverein.

Der derbe Charme von Kreuzberg-Rockern: Uh, yeah!!! Ausgezogen aus der Klein- oder Großstadt dahin, wo mitten in Deutschland total selbstbestimmtes Leben erkämpft werden soll – wie romantisch! Und dazu gehört dann auch „auf die Fresse“, „zünd an“ und „Rock!“, na klar! Oder gleich da geboren sein, wo Traditionen, wenn auch nicht sehr alte, so hoch gehandelt werden wie sonst nur in bayerischen Dörfern. Süßes, schmutziges, muskelbepacktes Alternativ-Berlin: hat was (für manche). Pomade und Tattoos, Jeans und Leder, Gitarre und Rumspucken sind da natürlich nur ein ähem Ausfluss des Ganzen, und natürlich finden sich in benachbarten Arealen leicht andere Appeals. Aber bei Jingo de Lunch (übersetzt: Typ aus Essen; Foto: Promo) in der Zeche Carl wird doch wohl deutlich, worum es geht: Rock’n’Roll wird erst dann sterben, wenn New York und Berlin endlich dicht gemacht sind. Bis dahin also schnell noch solche Konzerte gucken! (Interview mit der Support-Band Die Zelten! hier.)

Selbstverwirklichung an der Akademie: Ja, hurra! Freie Künste sind etwas Feines, sozusagen der Ursprung der modernen Ich-AG-Produktion: Es wird an sich und am eigenen Stil und schließlich der Verwertbarkeit von Image und Schöpfung gearbeitet, bis entweder davon gelebt werden kann – oder über andere geschrieben werden muss. Das ist natürlich bei allen äh Wissenschaften so, bei Bildender Kunst gibt es jenseits des Herbeizitierzwangs irgendwelcher „Vorbilder“ und „Inspirationen“ aber kaum irgendwelche Hemmnisse, einfach ganz in Leben und Werk aufzugehen. Zum Glück sind manche Künstler/innen sozusagen schizophrenie-fähig, sonst gäbe es nur noch Fulltime-Künstler auf der Welt, ganz Image, ganz unerschütterlich – und wenn was passiert da draußen: Schnell in Kunst und Aufmerksamkeit für eineN selbst umwandeln! Ts. Was war? Ach ja: Der Rundgang 2010 bei der Freien Akademie der bildenden Künste. Für Leute, die sich ganz zwanglos für die Kunst anderer Leute interessieren.
Nächste Woche: Was das alles mit dem sogenannten Kapitalismus zu tun hat und welche Formen von Währungen es sonst noch so geben könnte. (Mal sehen.)

Tanz am Freitag.
Jingo de Lunch am Donnerstag.
Rundgang bei der FAdbK ab Freitag.

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3 FÜR 7 – Wohin? Ah, dahin!

uploads_media_wohnzimmer_zeichnung_raumlaborberlinIst heut‘ nicht was? Klar. Aber Freitag und Samstag ja auch. Und danach erstmal! Es gibt ja vielerlei Untersuchungen zu den Auswirkungen dieses „Mehr“ an Informationen via Internet et al. Neigen wir neuerdings also noch mehr dazu, über Dinge zu reden, mit denen wir nicht direkt zu tun haben? Haben wir womöglich mit immer mehr Dingen nicht direkt zu tun, aber irgendwie den Zwang, dazu eine Meinung zu entwickeln? Sind vielleicht auch deshalb „einfache Lösungen“ und ebensolche Ideologien wieder so en vogue? Kommt bald der „Browse-nothing-day“? Oder gehen wir einfach mal hin zu „Die lustige Witwe“, „Odyssee Europa“, La Roux?

Nun passiert es also: Hier wird Harald Schmidt empfohlen. Aber nun nicht der Herr auf der Bühne, er tritt bei „Die lustige Witwe“ nur off-camera in Erscheinung, einmal aber auch einfach aus dem Off. Lehárs Operetten-Überklassiker bietet jedenfalls gute aktuelle Anknüpfungspunkte an das Tagesgeschehen: Irritierte Konsumisten, marode öffentliche Kassen, unromantische bis fragwürdige Gründe für Hochzeiten. Das Stück an sich wird respektiert und nur vorsichtig dem Zeitgeist entgegengerückt – wenn also mal Operette, dann vielleicht die.

Großes Thema, teure Karten: „Odyssee Europa“. Das Mammutprojekt an sechs Spielstätten an einem Wochenende mit eben so vielen Regisseuren, Städten und Interpretations- bzw. Inszenierungsansätzen. Vielfalt und Opulenz also auch hier, und dann noch anhand eines Werkes, auf das sich schon die halbe Zivilisationsgeschichte berufen hat. Bleibt hier in der Kürze der Zeit also nur auf den Punkt „Formalia“ einzugehen: Ein dreistelliger Eintrittspreis und sechs Vorstellungen an zwei Tagen (etc.) sind sicherlich ein Fest für die Kulturschickeria, wirken aber nicht zwingend so als wolle man, dass das Publikum (Zeichnung: Christoph Franz) sich tiefgreifend mit den Inhalten auseinander setzen kann. Nach all den trojanischen Pferden und Vorboten als Präambeln für dieses Spektakel darf wohl Zweierlei erwartet werden: a) Die Feuilletons werden in Erklärungsnot geraten, was das denn nun gewesen sein soll. b) Es wird Misswahl-mäßig spannend, welche Inszenierung sich am ehesten dem Thema gewachsen zeigen kann.

Oder einfach doch mal wieder nach Köln fahren: Das Konzert von The xx am selben Tag fällt ja aus, aber mit La Roux ist ein anderer Ausgehgrund für alle dedicated followers of fashion in der Stadt. Ältere Menschen können sich fragen, warum neuerdings immer eher unsympathische Menschen produktionstechnisch in Richtung „nächstes mögliches Popfrolleinwunder mit total kredibilen Wurzeln“ gebürstet werden, jüngere finden’s einfach toll, wie es sich gebührt: Menschen wie Du und ich, vielleicht etwas skrupelloser, live auf der Bühne, und berühmt! Wow! Plus Support übrigens. Und das macht Sinn bei nur 45 Minuten „Topact“ wie gestern in Hamburg. Wir lernen: Im Grunde ist also La Roux der Evergreen in der heutigen Runde, so Genre-technisch betrachtet. Und wir denken: Ach, im Grunde ist das ganze Popbusiness schon immer so ein Nehmen-und-Geben aus öffentlichem Schandkragen-Tragen und ebenjenes süffisant beklatschen gewesen – das wurde nur irgendwann mal verdrängt. (Bitte nicht ausdiskutieren!)

„Die lustige Witwe“ u.a. noch am Mittwoch und Samstag.
„Odyssee Europa“ ab Samstag.
La Roux am Samstag.

3 FÜR 7 – 3 ausgewählte Veranstaltungen der Woche

tinateubnerEs gibt erstaunlich viele Leute, die so tun, als seien sie total weltoffen und nicht auf typisch deutsche oder europäische Weise kulturell geprägt worden. Im positiven wird dann gesagt: Na klar, gerade wegen Aufklärung und Demokratie und so (die es ja nunmal irgendwie hier gibt), sei der Mensch hier ja so kritikfähig, anderen ja auch so ein bisschen überlegen und – na, klar – auch echt weltoffen. Im negativen Sinne könnte gesagt werden: Hierzulande wird sich in derartig vielen Facetten mit sich selbst beschäftigt, dass andere Kulturen erst dann erkannt werden, wenn sie sich als „das Fremde“ manifestieren. In diesem Sinne drei Mal typisch Hiesiges: „Was ist Heimat?“, Tina Teubner & Ben Süverkrüp, „TV Eye Labelfest“.

„Junge Fußballfans in Wort und Bild“ kommen bei „Was ist Heimat?“, einer Veranstaltung der Schalker Fan-Initiative in der Flora, zum Zuge. Diese moderne, Sport affine Variante einer Landschaftsjugend hat aber nun erstaunlicherweise genau nicht Hools und renitente Gelsen-Blockwarte zu Gast, sondern „jugendliche Mitglieder eines Gelsenkirchener Galatasaray-Fan-Clubs, die Band „The Herbs“ von Consol 4, Besucher des Schwul-Lesbischen Jugendzentrums „The Point“, Studierende am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe bis hin zu jungen Menschen in der Jugendberufshilfe Stadt Gelsenkirchen“. Weil die ja noch lernen müssen, was Heimat heißt? Weil das, was die zum Thema sagen, total unverdächtig sein sollte, irgendwie rechts oder regionalistisch zu wirken? Der OB, ein paar Sportler und andere lokale (Polit-)Promis werden auch da sein und für hübsche Bilder posieren. Schade, dass niemand aus anderen Heimaten eingeladen ist.

Die spannenden, leicht durch den Kopf-Fleischwolf gedrechselten Tiefen und Untiefen tagtäglichen Beziehungsstresses sind mal wieder Thema bei Tina Teubner und Begleitung (Foto: Promo). Vielleicht endlich mal wieder ein ausverkauftes Katakomben Theater? Dort übrigens immer wieder angenehm: Die freundliche Distanz, mit der die zum Großteil Türkei stämmigen Betreiber sich all die immer wieder auf der Bühne ausgebreiteten, individuellen Zivilisationskrankheiten der Künstlerinnen und Künstler anschauen – auch wenn mal eine frischgebackene Trägerin des Deutschen Kleinkunstpreises 2010 (Sparte Chanson) anwesend ist – oder gerade dann?

Was macht Frank Popp? Er kümmert sich um sein Label TV Eye, aber nicht nur in Berlin, sondern auch regelmäßig nahezu an alter Wirkungsstätte, im Pretty Vacant nämlich. Der deutsch-britischen Freundschaft wird diesmal u.a. mit einem Gastspiel der Band The Bacchae gehuldigt, die Popkultur tendiert halt gern Richtung London, dieser ehernen Festung westlicher Lebensart und Botschafterin von Beat, Rock’n’Roll und so in alle Welt. Düsseldorf-London – eine für viele hier recht prägende Achse.

„Was ist Heimat?“ noch bis zum 23. Februar.
„Aus dem Tagebuch meines Mannes“ am Freitag um 20 Uhr.
„TV Eye Labelfest“ u.a. am Freitag ab 22 Uhr.