„Überall in der EU gibt es ähnliche Probleme: Wohnen ist zu teuer, die Boden- und Immobilienpreise explodieren, es wird viel zu wenig in bezahlbares Wohnen investiert und mit dem Recht auf Wohnen wird in einem unfassbaren Ausmaß spekuliert“, so Karin Zauner-Lohmeyer, Mit-Initiatorin und Sprecherin der Europäischen Bürgerinitiative „Housing for All“. Die Folgen: „Immer mehr Menschen müssen die Städte verlassen und stundenlang einpendeln. Viele verlieren ihre Wohnung. Die Obdachlosigkeit steigt in fast allen Mitgliedsstaaten rasant an! Vor diesem Hintergrund habe ich mit Freundinnen und Freunden beschlossen, dass wir dringend etwas gegen diese Entwicklung unternehmen müssen. Unsere Erkenntnis: Ein europaweites Problem braucht eine europaweite Antwort. So ist ‚Housing for All‘ entstanden,“ fährt Karin Zauner fort.
The European Balcony Project
Die EU hat eine ganze Reihe Erfolge aufzuweisen. Der mit Abstand wichtigste Erfolg ist, dass sie einen politisch-institutionellen Rahmen darstellt, in dem Interessenkonflikte zwischen den europäischen Gesellschaften und Regionen parlamentarisch ausgehandelt werden können. Das ist ein enormer zivilisatorischer Fortschritt.
Dennoch läuft nicht alles rund in der EU. Brexit, rechtspopulistische Regierungen in mehreren Mitgliedsländern, ein seit Jahren an nationalen Egoismen scheiterndes Asyl- und Zuwanderungskonzept, die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer sind nur einige der offenen Baustellen der EU.
Angesichts der Blockaden der Weiterentwicklung der EU im politischen Raum haben der Theaterregisseur Milo Rau, die Wissenchaftlerin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse ein künstlerisch-zivilgesellschaftliches Projekt auf die Beine gestellt: Das European Balcony Project.
Am 10. November 2018 wird an einer Vielzahl von Plätzen in Europa die Europäische Republik ausgerufen – vorerst natürlich symbolisch (mehr zum Konzept dieser Republik kann man hier nachlesen). Zeitgleich um 16 Uhr wird dann ein Manifest verlesen, in dem eine Europäische Republik gefordert und skizziert wird. Das Manifest liegt mittlerweile in 22 Sprachen vor. Hier kann man es sich schon mal anschauen.
Rund 70 Initiativen aus 14 EU-Mitgliedsländern haben bereits ihre Mitwirkung an dem Projekt zugesagt. Um welche Initiativen es sich handelt und wo sie zu Hause sind, ist hier zu sehen [https://europeanbalconyproject.eu/en/]. Darunter sind auch vier Initiativen aus dem Ruhrgebiet: Die Schauspielhäuser Bochum und Essen, das Theater Dortmund und das OffArtParlament in Zusammenarbeit mit der VHS in Recklinghausen.
Das Datum 10. November als Tag für die Ausrufung der Europäischen Republik ist kein Zufall. Vor 100 Jahren, am 11. November 1918, endete der 1. Weltkrieg, der einer der Gründe war, die knapp vier Jahrzehnte später zur Unterschrift unter die Römischen Verträge führten, die die Grundlage der heutigen EU bilden.
Am 9. November 1918 wurden verschiedene Republiken in Europa ausgerufen, die aus den am Ende des 1. Weltkriegs untergegangenen Monarchien entstanden.
In der Regel wurden diese Republiken von Balkonen ausgerufen. Daher der Name The European Balcony Project.
Deutsche Sparpolitik und der türkische Krieg gegen die Kurden
Am 15./16. März 2018 fand in Paris das „Permanent Peoples Tribunal on Turkey and Kurds“ statt. Das Tribunal steht in der Tradition des Russel-Tribunals, dass erstmals 1966 tagte und nach rechtsstaatlichen Prinzipien Menschenrechtsverletzungen der us-amerikanischen Armee in Vietnam dokumentierte und öffentlich zur Diskussion stellte.
Das jetzige Tribunal in Paris geht der Frage nach, inwieweit die Türkei im Konflikt mit dem kurdischen Bevölkerungsteil Verbrechen gegen die Menschlichkeit und inwieweit die türkische Armee vor allem in den Jahren 2015 bis 2017 Kriegsverbrechen begangen hat.
Nachdem die türkische Regierung ab 2009 zunächst auf eine politische Lösung dieses Konfliktes mit den Kurden zuzusteuern und ein Frieden in erreichbarer Nähe zu sein schien, wurde dieser Friedensprozess im Sommer 2015 seitens des türkischen Staates jäh beendet. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dieses Tribunal durchzuführen.
So sehr es richtig ist, den türkischen Staat öffentlich für sein Handeln gegenüber Minderheiten und Regierungskritiker*innen, das oft und seit langem im Widerspruch zum internationalen Völkerrecht steht und von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geprägt ist, zur Verantwortung zu ziehen, so nötig ist es aber auch, sich den politischen Kontext genauer anzuschauen, in dem diese Verbrechen möglich waren und sind.
So ist die Gewalteskalation, die ab Sommer 2015 in der Türkei erneut und in ungewöhnlich brutaler Weise einsetze, kaum zu erklären ohne eine Reihung von politischen Fehlern, die von der EU, vor allem aber von der Bundesregierung in Berlin zu verantworten sind. Zwar kann niemand sagen, in welch anderer Weise die Geschichte verlaufen wäre, wären in der Vergangenheit andere Entscheidungen getroffen worden. Trotzdem ist die Frage zu stellen, ob diese Eskalation nicht hätte vermieden werden können.
Die so genannte Flüchtlingskrise fiel nicht vom Himmel
Bereits 2012 kündigte sich die Entwicklung an. Im Oktober 2012 hatte die Türkei rund 100.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Der damalige türkische Europaminister Egemen Bagis forderte angesichts der zunehmenden Flüchtlingszahl die EU auf, einen Teil der Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen, wie in dem Artikel „Türkei will syrische Flüchtlinge auf Europa verteilen“ in Die Zeit vom 15.10.2012 nachzulesen ist. Die Zahl der Flüchtlinge stieg dann sehr schnell an. Im Frühjahr 2017 waren es rund 3 Millionen, wie dem Beitragt „Flüchtlinge in der Türkei: Geduldet, aber nicht unterstützt“ des Deutschlandfunks vom 11.05.2017 zu entnehmen ist. In den Jahren nach 2012 forderte die Türkei wiederholt von der EU auch finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtling ein. Weder hat die EU Flüchtlinge von der Türkei aufgenommen noch gab es finanzielle Unterstützungen seitens der EU.
Zur Erinnerung: 2012 war die europäische Krise auf ihrem Höhepunkt und die Bundesregierung war – mit Unterstützung Großbritanniens, der Niederlande, Österreichs und Finnlands – damit beschäftig, ihr vermeintliches Allheilmittel für die Krise EU weit durchzusetzen, nämlich eine rigorose Sparpolitik. Weder eine Aufnahme von Flüchtlingen noch zusätzliche finanzielle Mittel für die Türkei passten in das rigorose europäische Sparprogramm à la Berlin.
Die nächste Eskalationsstufe in Folge der europaweiten Sparpolitik ergab sich im Herbst 2014. Damals wurden die finanziellen Mittel des Welternährungsprogramms dramatisch knapper. Zwar hatten die europäischen Länder zu dem Zeitpunkt ihre Zahlungen noch nicht gekürzt, aber die Zahl der Flüchtlinge, die aus diesen Mitteln zu versorgen waren, war dramatisch angestiegen. In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 14.10.2014 („Flüchtlinge in Nahost müssen hungern“) hieß es, dass die Unterstützung für Flüchtlinge in Lagern in Syrien um 40 % gesenkt wurde.
Im Folgejahr, also in 2015, verschärften die EU-Mitgliedsländer aufgrund ihrer Sparpolitik die ehe schon dramatische Versorgungslage von Flüchtlingen in Syrien weiter durch massive Kürzungen ihrer Zahlungen an das Welternährungsprogramm. „EU-Staaten hatten 2015 fast durchweg Hilfen für syrische Flüchtlinge gekürzt“ berichtete das Nachrichtenportal „Telepolis“ am 25.09.2015. Deutschland reduzierte seine Zahlungen in 2015 von 301 Millionen Euro auf 143 Millionen Euro. Etliche Osteuropäische Länder hatten ihre Zahlungen ganz eingestellt.
Wenn Politik durch einen Sparplan ersetzt wird …
Diese Entwicklung führte im Sommer 2015 dazu, dass die Zahl der nach Europa drängenden Flüchtlinge schlagartig anstieg. Sie belegt, dass die heute von Politikern oft gestellte Forderung durchaus richtig ist, dass Flüchtlinge vor Ort unterstützt werden sollten. Solange das geschah, sind die meisten Flüchtlinge aus Syrien in der Region geblieben. Scheinheilig ist diese Argumentation aber dennoch. Denn genau die Politiker, die heute eine Versorgung vor Ort propagieren, haben 2015 eben einer ortsnahen Versorgung von Flüchtlingen, die jahrelang existierte und funktionierte, die finanzielle Grundlage entzogen – im Namen der alles dominierenden Sparpolitik innerhalb der EU.
Anfang 2015 wäre in Deutschland die AfD nach ihrer Spaltung fast wieder in Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die zunehmende Zahl der nach Europa kommen Flüchtlinge hat der extremen Rechten in Deutschland neuen Aufwind verschafft – und das nicht nur in Deutschland. Um dem etwas entgegenzusetzen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel dann im Alleingang mit Erdogan den so genannten Flüchtlingsdeal ausgehandelt.
Dieser Deal wurde ausgehandelt in einer Situation, in der sowohl Merkel als auch die EU unter innenpolitischem Handlungsdruck standen, um rechten Populisten das Wasser abzugraben. Sie war gegenüber Erdogan in der deutlich schwächeren Verhandlungsposition, die Erdogan offenbar hemmungslos ausgenutzt hat.
Der Deal beinhaltete, dass die Türkei für Flüchtlinge die Grenzen Richtung EU schließt und die Türkei dafür finanzielle Unterstützung seitens der EU bekommt. Offenbar hat Erdogan der deutschen Bundeskanzlerin aber ein weiteres Zugeständnis abgerungen: Das Schweigen zu Erdogans Kurden-Politik, zum Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei und – wie sich aktuell zeigt – in Nordsyrien. Mit ihrer „Politik auf Sicht“ und ihren politischen Alleingängen hat Merkel die Bundesrepublik wie auch die EU als ganzes in eine Situation der Erpressbarkeit manövriert. Kritik seitens EU kann Erdogan heute leicht mit der Ankündigung einer Grenzöffnung für Flüchtlinge im Keim ersticken. Und er nutzt diese politisch Schwäche, in die Merkel die EU manövriert hat. Was insofern zu verstehen ist, da die Türkei trotz wiederholter Anläufe seit 2012 keine Unterstützung von der EU erhalten hat.
2012 hätte die EU durchaus andere Optionen gehabt. Eine frühzeitige Einigung mit der Türkei über die Aufnahme eines Teils der Flüchtlinge und über zusätzliche finanzielle Unterstützung für die von der Türkei aufgenommen Flüchtlinge hätte die Türkei entlastet und gleichzeitig der EU einen Hebel in die Hand gegeben, um den damals bereits fortgeschrittenen Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und den Kurden zu forcieren. Denn die zuvor skizzierten Vereinbarungen hätten durchaus an eine Fortsetzung des Friedensprozesses geknüpft werden können. Zweitens hätten spätestens ab 2014 die Mittel der EU bzw. der EU-Mitgliedsstaaten für das Welternährungsprogramm aufgestockte werden müssen statt sie zu kürzen. Auch das hätte zur Entlastung der Türkei beigetragen. Auf diese Weise hätte die EU die heutige Situation der Erpressbarkeit durch Erdogan mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vermieden und hätte das Heft des Handelns in der Hand behalten.
In diesem Sinne tragen die EU und insbesondere die auf Sparpolitik als wichtigstem Ziel fixierte Bundesregierung einen erheblichen Anteil an der Verantwortung für die Kriegsverbrechen des türkischen Staates gegenüber den Kurden seit 2015.
Letzte Handlungsoptionen
Um dem Unwesen Erdogans einen Riegel vorzuschieben bleiben der EU allerdings immer Handlungsmöglichkeiten. Der Europäische Rat könnte sich auf eine sofortige Einstellung aller Waffen- und Munitionslieferungen an die Türkei verständigen. Zweitens könnten alle noch laufenden EU-Finanzierungen an die Türkei ausgesetzt werden bis die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Seite wieder aufgenommen werden und alle kurdischen Politiker*innen, die derzeit inhaftiert sind, wieder auf freiem Fuß sind. Drittens könnte der Europäische Rat die PKK unverzüglich von der EU-Terrorliste streichen und den Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den Kurden als innerstaatlichen bewaffneten Konflikt anerkennen. Das wäre einerseits eine Anerkennung des enormen kurdischen Beitrag im Kampf gegen den IS und zum anderen würde auf diese Weise der Druck auf die türkische Regierung erhöht, auf den Weg einer politischen Konfliktlösung zurückzukehren.
Im Blick auf die EU wäre zudem mittelfristig eine Verlagerung aller Kompetenzen in der Außenpolitik einschließlich der Zahlungen an den Welternährungsfond und der Entwicklungshilfe sowie in der Flüchtlingspolitik auf die EU-Ebene sinnvoll, um politische Fehlentscheidungen, wie sie seit 2012 erfolgten, zukünftig zu vermeiden. Dazu bedarf es allerdings auch einer Neuverteilung der Kompetenzen unter den EU-Institutionen.
Wie Geldroboter unser Geld umverteilen
Unter deutschen Politikerinnen und Politikern wird die Digitalisierung gerne als Industrie 4.0 interpretiert, also als eine weitere technische Modernisierung der industriellen Produktion.
Das dieses Verständnis der Digitalisierung unserer Gesellschaften viel zu kurz greift, verdeutlicht eine neue Publikation des Wiener Promedia Verlags. Dort ist kürzlich der Band „Die Geldroboter“ von Martin Ehrenhauser erschienen. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht der so genannte Hochfrenquenzhandel. Was Hochfrenquenzhandel praktisch bedeutet, macht das folgende Zitat aus dem Band von Ehrenhauser deutlich:
„Doch nicht nur die Geschwindigkeit hat sich [durch den Hochfrenquenzhandel, Anm. d.A.] dramatisch erhöht, auch die Anzahl der Aufträge hat sich potenziert. Waren es vor zehn Jahren noch siebzig Orders, die ein Händler täglich an eine einzige Börse sendet, sind es heute eine Million Orders an fünf verschiedenen Handelsplätzen. Die Bedürfnisse der Realwirtschaft spielen dabei keine Rolle. Schnell kaufen und sofort wieder verkaufen ist die Devise. Auch am Aktienmarkt. So betrug die durchschnittliche Haltezeit von Aktien im Jahr 1980 noch knapp zehn Jahre, im Jahre 2000 waren es noch sechs Monate, im Jahr Jahr 2013 lediglich 23 Sekunden.“ (S. 98)
Was Ehrenhauser hier skizziert sind die realen Prozesse hinter dem, was seit Jahren als Turbo-Kapitalismus bezeichnet und kritisiert wird: Die Digitalisierung der Finanzmärkte – also die Verlagerung der Finanztransaktionen vom Börsenparkett mit realen Menschen in komplexe mathematische Formeln, Algorithmen, die auf Computern laufen und automatisiert in Millisekunden nicht nur die Finanzmärkte abscannen, sondern auch Presseagenturen, und aufgrund der gesammelten Informationen entscheiden, ob Wertpapiere gekauft, verkauft oder ob getätigte Aufträge wieder storniert werden. Hier handeln also nicht mehr reale Menschen mit Wertpapieren, sondern Computer. Menschen geben lediglich Parameter ein, nach denen die Computer dann am Markt agieren.
Martin Ehrenhauser gelingt es, in verständlicher Weise in dieses komplexe und bisher nur einer überschaubaren Gruppe von Fachleuten geläufige Themenfeld umfassend einzuführen. Er verknüpft den komplexen Stoff wo immer es geht mit plastischen Beispielen aus der Alltagswelt und macht ihn so greifbar und anschaulich. Und der drögen Welt der Computer und Finanzstatistiken verleiht er Lebendigkeit, in dem er immer wieder die Personen, die er im Rahmen seiner Recherchen interview hat, und die Orte, an denen er sie getroffen hat, kurz beschreibt.
Auch wenn der so genannte Hochfrenquenzhandel erst seit wenigen Jahren zur vollen Entfaltung gekommen ist – rund 90 % des Wertpapierhandels weltweit wird heute durch Geldroboter ausgeführt – so führen seine Ursprünge doch zurück bis in die 1960er Jahre. Wie Ehrenhauser nachzeichnet, kamen wesentliche Impulse für die Entwicklung der dem Hochfrequenzhandel zugrundeliegenden Algorithmen tatsächlich aus realen Spielkasinos.
Ebenso führt Ehrenhauser in die Entwicklung der Unternehmensstrukturen ein, die die Gelbroboter betreiben und stellt eine Reihe der unterschiedlichen Akteure vor und entwickelt so ein anschauliches Bild dieser Branche, in der sich neben gigantisch großen Vermögenswaltungsunternehmen wie z.B. Blackrock und Geldroboter wie Virtu Financial auch Nerds als Einpersonenunternehmen erfolgreich bewegen – die derzeit wichtigsten Betreiber von Geldrobotern sind im Anhang des Bandes aufgelistet. Dazu gehört ebenfalls die Beschreibung des enorm kostspieligen technischen Wettrüstens dieser Firmen, um wenige Millisekunden schneller an Informationen zu gelangen als die Konkurrenz.
Im Zentrum der Beschreibungen und Analysen von Martin Ehrenhauser stehen jedoch die Dynamiken, die durch die Geldroboter auf den Finanzmärkten ausgelöst wurden, sowie die Frage nach dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen der Geldroboter und des Hochfrequenzhandels.
Die Geldroboter und die Geschäftsstrategien ihrer Eigentümer sind so konzipiert, dass sie selbst in Krisen, wie der europäischen Finanzkrise ab 2008, noch enorme Gewinne einfahren konnten und so zu einer weiteren Vermögensumverteilung beitrugen, die unsere Gesellschaft zunehmend spalten.
Als die wohl brisanteste gesellschaftliche Wirkung beschreibt Ehrenhauser die ungleiche Konkurrenz zwischen den Geldrobotern und den klassischen institutionellen Anlegern, also die Versicherungen und Altersvorsorgekassen. Es gelingt ihm nachvollziehbar darzustellen, worin die Assymetrie der Konkurrenz von Geldrobotern und klassischen Versicherungen liegt und aufzuzeigen, dass diese Assymetrie langfristig zu einer substantiellen Gefährdung der Altersvorsorge in unseren Gesellschaften führt.
Ein solcher Befund sollte eigentlich die Politik alarmieren und zu einer strikten Regulierung des Hochfrenqueznhandels, wenn nicht gar zu einem Verbot, führen. Anläufe dazu hat es auch gegeben, wie Ehrenhauser, der von 2009 bis 2014 Mitglied des europäischen Parlaments war, ausführt. Ab 2011 stand im Europäischen Parlament eine Überarbeitung der erst 2007 in Kraft getretenen EU-Finanzmarkt-Richtlinie MiFID I an. In der MiFID I war der Hochfrequenzhandel noch nicht berücksichtig. Die EU-Kommission wollte diese Lücke schließen. Beide Institutionen, die Kommission und auch das Europäische Parlament haben sich ursprünglich für eine sehr strikte Regulierung ausgesprochen und entsprechende Regulierungsvorschläge gemacht. Übrig geblieben ist von dieser hehren Absicht in der endgültigen Fassung der MiFID II, die 2018 in Kraft getreten ist, nicht viel. Letztlich hat die jetzige Fassung der MiFID II die Situation eher verschlimmbessert, so Ehrenhauser. Gescheitert ist eine effiziente Regulierung daran, dass sich der EU-Rat, in dem die Regierungen der EU-Mitgliedsländer vertreten sind, jeder effizienten Regulierung massiv widersetzt hat. Ernüchtert konstatiert Ehrenhauser: „Viele Regierungschefs kämpften offenkundig im Lager der Geldroboter für deren Privilegien.“ (S.157)
Angesichts der Gefährdung der Altersversorgung von Bürgern und Bürgerinnen durch die Geldroboter ist dies nur als Skandal zu bezeichnen. Es ist ein Verdienst dieses Buches, diesen Skandal sichtbar gemacht zu haben. Denn in beispielgebender Weise hat Martin Ehrenhauser das Scheitern dieses EU-Regulierungsversuches nachgezeichnet. Deutlich wird in dem Nachzeichnen dieses Prozesses allerdings auch, vor welchen Herausforderungen Abgeordnete stehen, die ja nicht als Experten, sondern als Repräsentanten der Gesellschaft in das Parlament gewählt wurden. Ehrenhauser verweist damit auf ein grundlegendes Dilemma repräsentativer Demokratien, dass dringend einer öffentlichen Debatte bedarf. Ebenso wird hier deutlich, dass das Institutionengefüge der EU dringend einer Reform bedarf. Eine wirksame Regulierung des Hochfrequenzhandels ist nicht unterhalb der EU-Ebene möglich. Die EU-Mitgliedsländer für sich haben schlicht nicht die nötige Durchsetzungskompetenz für solche Regulierungen. Sie haben lediglich die Kompetenz, wie Ehrenhauser aufzeigt, eine effiziente Regulierung zu blockieren.
Es mangelt aber nicht nur an einem Bewusstsein unter Politikern für die nötigen Regulierungen, die sich aus der Digitalisierung unserer Gesellschaften ergeben. Ehrenhauser zeigt gerade am Beispiel der Bundesrepublik und am Beispiel des Bundeslandes Hessen, in dem mit der Frankfurter Börse und Eurex zwei wichtige Finanzmarktakteure ihren Hauptsitz haben, nach, dass die Aufsichts- und Kontrollstrukturen für die Finanzmärkte vollkommen unzureichend ausgestattet sind – nicht zuletzt aufgrund der unzureichend ausgestatteten öffentlichen Haushalte. Auch das hat, wie Ehrenhauser darlegt, einen Grund in der mangelnden Bereitschaft der Politik zu einer zeitgemäßen und effektiven Regulierung der Finanzmärkte. Obgleich EU-Kommission und Europäisches Parlament seit Jahren eine Finanztransaktionssteuer fordern, blockieren die Regierungen der EU-Mitgliedsländer ebenso lange die Einführung dieser Steuer im EU-Rat. „Und Vernunft, die zu Einhelligkeit führen könnte [in der Regulierung, Anm. d.A.] ist bekanntlich keine politische Kategorie“, merkt Ehrenhauser bitter dazu an.
Sein Fazit im Blick auf die Geldroboter ist nicht weniger eindeutig: „Sie [die Geldroboter, Anm. d.A.] lindern nicht den Hunger in der Dritten Welt, sie sorgen nicht für mehr Wasser in trockenen Regionen, sie lösen keine Kriege oder reduzieren die Abhängigkeit der westlichen Gesellschaften von fossilen Brennstoffen. ‚Der Hochfrequenzhandel hat nichts mit konkreten Ideen, Plänen und Wünschen konkreter Menschen zu tun, sondern verkündet die Herrschaft des Geldes mit Maschinen‘, kritisierte vor einigen Jahren Horst Köhler, der ehemalige Bundespräsident Deutschlands und vormalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Wenn Geldroboter in irgendeiner Weise Fortschritt erzielen, wie das ihre Proponenten behaupten, dann scheint sich dieser Fortschritt lediglich als Vorteil für ihre wenigen Betreiber zu erweisen, außerhalb des gesamtwirtschaftlichen Geschehens. Denn obwohl Unsummen in die Automatisierung und Beschleunigung des Finanzmarktes investiert wurden, und obwohl die Anzahl der Geldroboter in den letzten Jahren immer weiter zunahm, hat sich die Situation für die Realwirtschaft keineswegs verbessert.“ (S. 206)
Martin Ehrenhauser ist mit diesem Band nicht nur eine gut lesbare und umfassende Darstellung der technischen Funktionsweise des Hochfrequenzhandels, seiner Entwicklung und der sie nutzenden Unternehmen gelungen, sondern auch eine gesellschaftliche Einordnung und eine fundierte Kritik an dieser Form des Handels und an der Politik, die sich bisher einer effektiven Regulierung verweigert.
Das Buch
Ehrenhauser, Martin: Die Geldroboter. Wie Hochfrequenzmaschinen unser Erspartes einkassieren und Finanzmärkte destabilisieren. Promedia Verlag Wien, 2018 (240 S.)
ISBN: 978-3-85371-435-5 (Print) | ISBN: 978-3-85371-861-2 (E-Book)
Der Autor
Martin Ehrenhauser, geboren 1978 in Linz, studierte nach seiner abgeschlossenen Kochlehre Betriebswirtschaft und Politikwissenschaften in Österreich und England. Zwischen 2009 und 2014 war er Abgeordneter des Europaparlaments. Danach gründete er ein Unternehmen und vertiefte sich investigativ als Trader in die Welt der Finanzmärkte.
Sozialer Wohnungsbau in der EU
Nicht erst die deutlich verstärkte Zuwanderung von aus ihren Heimatländern vertriebenen Menschen hat die Frage nach sozialem Wohnungsbau wieder auf die politische Agenda gebracht. Für viele Bürger und Bürgerinnen sind die Wohnkosten schon seit längerem auf eine problematische Höhe angestiegen: bis zu 40 Prozent des Einkommens müssen in den unteren Einkommensbereichen für Wohnunkosten aufgebracht werden. Da bleibt nicht mehr viel übrig für den restlichen Lebensbedarf.
Die Europäische Union hat auf diese Entwicklung reagiert und stellt verstärkt Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung.
Vor diesem Hintergrund haben die Stadt Wien und die internationale Union der Mieter (IUT) am 13. November 2015 in Brüssel im Wien-Haus gemeinsam einen Workshop zum Thema „Zukünftige Herausforderungen des sozialen Wohnungsbaus in der EU“ durchgeführt. Dass die Stadt Wien den Workshop mit organisiert hat, hat seinen Grund darin, dass Wien sich in besonderer Weise im sozialen Wohnungsbau engagiert und sogar eine eigene Forschungsstelle für Wohnungsbau unterhält.
Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan – Analysen und Stimmen aus Rojava
Zehntausende durch Krieg und Not aus ihren Herkunftsländern vertriebene Menschen sind in den letzten Monaten auf der Suche nach einem sicheren Ort in Europa angekommen. Ein großer Teil von ihnen kommt aus Syrien, in dem seit mehreren Jahren ein furchtbarer Bürgerkrieg tobt. Lange haben die Mitgliedsländer der EU diesen Bürgerkrieg ignoriert. Angesichts der Menschen, die durch den Bürgerkrieg und das faschistische Terrorregime des IS aus Syrien vertrieben wurden, und nun in Europa Schutz und Hilfe suchen, können die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht länger Augen und Ohren vor der Lage in Syrien verschließen – sowohl in einem wohlverstandenen Eigeninteresse als auch im Interesse der Menschen in Syrien.
Eine Politik zu entwickeln, die die Lage in Syrien zum Besseren wenden kann, setzt eine gute Analyse und Kenntnis der Situation vor Ort voraus. Der Wiener Politikwissenschaftler Thoma Schmidinger hat dazu mit seinem Ende 2014 erschienen Buch „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan – Analysen und Stimmen aus Rojava“ einen hervorragenden Beitrag geleistet.
Nicht mehr Subventionen, sondern faire Produktionsbedingungen für Milchbauern
(Brüssel, 16.11.2015) Das European Milk Board (EMB) mit Sitz in Brüssel hat am 16. November in einer Pressekonferenz anlässlich des Treffens der EU-Agrarminister erneut kostendeckende Produktionspreise für Milch gefordert.
Hintergrund dieser Forderung ist die Beendigung der 1984 eingeführten Quotenregelung für die Milchproduktion innerhalb der EU vom 31. März 2015. Die Quotenregelung diente der Begrenzung einer Überproduktion von Milch, die dann zum Teil eingelagert und zum Teil außerhalb der EU zu Dumpingpreisen verkauft wurde und wird – mit oft katastrophalen Folgen für die betroffenen Länder.
In Verbindung mit einem Nachfragerückgang von ca. 1 % nach Milchprodukten innerhalb der EU und in Verbindung mit den Boykottmaßnahmen gegenüber Russland, die auch Milchprodukte betreffen, hat die Aufhebung der Quotenregelung allerdings im laufenden Jahr zu einem erheblichen Milch-Preisverfall geführt. Der gegenwärtige Milchpreis liegt unterhalb der Produktionskosten. Um den Preisverfall wenigstens teilweise auszugleichen, reagieren viele Milchbauern mit einer Steigerung der Milchproduktion, was für die Milchkühe wie für den Milchmarkt negative Folgen hat.
Help Kobanê
Vor einem Jahr – am 15. September 2014 – fiel der IS/ISIS in den vorwiegend von Kurden bewohnten Kanton Kobanê in Nordsyrien – kurdisch: Rojava – ein. Knapp zwei Wochen später, am 28. September, begann der IS-Angriff auf das Stadtgebiet von Kobanê. Trotz des erbitterten Widerstandes der kurdischen Selbstverteidigungskräfte (YPG/YPJ) konnte der IS in den folgenden Wochen große Teile der Stadt unter seine Kontrolle bringen. Der IS war den Kurden zahlenmäßig und militärtechnisch überlegen. Doch sowohl der IS als auch die internationale Öffentlichkeit hatten den Widerstandswillen der Kurden unterschätzt.
Kobane: Türkei spielt mit dem Feuer
Der Spiegel meldete heute, dass Kurden auch von türkischen Angriffen auf Kobane berichten (Militärschläge in Syrien und Irak: Die Türkei führt Krieg gegen die Feinde des IS).
Heute morgen am 27.07.2015 um 09:30 h hat die YPG (kurdische Volksverteidgungseinheiten) dazu ein Pressemeldung veröffentlicht (YPG: Turkish army attacking YPG and FSA positions near Kobani) und die Meldungen präzisisert.
Demnach wurde nicht die Stadt Kobane angegriffen, sondern Stellungen der YPG und der FSA (Freie Syrische Armee) in der Nähe von Kobane. Die von der türkischen Armee beschossenen Stellungen der YPG und der FSA befinden sich in dem rund 40 km westlich von Kobane gelegenen Dorf Zormikhar unmittelbar gegenüber der vom IS besetzten Stadt Jarabulus.
Was will die neue griechische SYRIZA-Regierung? (Teil 1)
Für deutsche Verhältnisse hat die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras ungewöhnlich schnell ihre Arbeit aufgenommen und gleich damit begonnen, Wahlverspechen auch umzusetzen. In deutschen Medien hat das ein weitgehend negatives Echo gefunden bis hin zu der schroffen Behauptung, die Regierung Tsipras habe einen Fehlstart hingelegt. So David Böcking in seinem Kommentar vom 30. Januar auf Spiegel online. Skepsis gegen die ausgesprochen monotone Berichterstattung über die ersten Tage der Regierung Tsipras hast lediglich Georg Diez (Immer voll auf Merkel-Linie) auf Spiegel online geäußert.
Die Rasanz und Konsequenz, mit der die Tsipras Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat, kann man allerdings auch anders interpretieren: Anders als ihrer Vorgängerregierungen meint die Regierung Tsipras es ernst mit den im Wahlkampf angekündigten Reformen.
Von Parteitagen abgesegnete Partei-Programme sind in Griechenland nicht üblich. Gleichwohl ist Syriza mit klar umrissenen und detaillierten Zielen in den Wahlkampf gezogen. Alexis Tsipras hat diese Ziele am 13. September 2014 in einer Rede auf der internationalen Messe in Thessaloniki vorgestellt und erläutert.