In Teil 2 der Serie erzählt Degenhardt von der Verhaftung seiner Eltern durch die Stasi und der Familienzusammenführung in einem bayrischen Asylantenheim.
Degenhardt (früher: Disko Degenhardt) ist –im Slang der Vertriebsmenschen gesprochen- ein erklärungsbedürftiges Produkt. In seiner Lyrik verschmilzt eine Vielzahl doppeldeutiger, politisch aufgeladener Versatzstücke. Einzelne Passagen sind durchwoben von proletarisch angereicherten Slogans: Talent ist was für reich und schön/ Ich steh auf hart erarbeitet. Daneben wird die Stalinorgel aufgestellt. Dieser Eindruck wird in Johnnys Ende wieder ins Gegenteil verkehrt: Wir sind prokapitalistisch/ Also fick dich/ Alles Absicht. Dabei schwingt hintergründig das Unbehagen eines selbsternannten Egonazis in der spätkapitalistischen Konsumwelt mit. Doch noch bevor sich Degenhardts Texte als Ausdruck einer politischen Gesinnung überführen lassen, negiert er die Sphäre des Politischen in Terror Tradition selbst: Ich bin positiv politisch/ Das heißt: Nicht aktiv.
Die Selbstverortung im Widersprüchlichen hat Methode: Wer sich darauf einlässt, erhält einen intimen Einblick in das Spielzimmer eines Dreckskindes aus dem Osten, das vom Durchbruch in Hollywood träumt. Degenhardts Alben klären niemanden auf, wollen nicht belehren, geschweige denn indoktrinieren. Der kommunistische Liedermacher Franz-Josef Degenhardt erzählte in seinen Liedern Geschichten, um politische Statements zu untermalen. Beim neuen Degenhardt erscheint Politik nur noch als das Bühnenbild eines Psychodramas, das mit der Hoffnung seiner Eltern auf eine Zukunft beginnt, die außerhalb der Zielreichweite der Mauerschützen der DDR liegt.
Raider und das MfS
Auf dem Wohnzimmertisch habe ich -in der Bemühung, mich als Gastgeber zu bewähren- Süßigkeiten und Softdrinks aufgetürmt. Degenhardt greift nach der Flasche Arizona Ice Tea und betrachtet den Aufdruck. „Die Packung ist viel schöner als der Geschmack“ stelle ich fest. „Die ist echt gut. Tolles Produktdesign“ bestätigt Degenhardt mit leuchtenden Augen. Ich will mit ihm über „den Osten“ sprechen, seine Kindheit in Honeckers Arbeiter- und Bauernstaat. „Ich habe mir die Faszination für Verpackungen immer bewahrt.“ sagt er. „Da bin ich dankbar, Ossi zu sein. Ich steh immer noch vorm Schnapsregal und denk mir: Das sieht wunderschön aus! Du kannst dir das nicht vorstellen. Ich kannte kein Produktdesign. Es gab ja keine Werbung im Osten. Du weißt nicht, wie schön Werbung sein kann.“
Der Lockruf der Bundesrepublik durchbrach den antifaschistischen Schutzwall schon vor der Wende. Niemand sprach darüber, aber fast jeder DDR-Bürger empfing West-Fernsehen. „Ich bin damals bei einer Freundin in Berlin-Lichtenberg rausgeflogen, weil wir zusammen Werbelieder von Raider aus dem West-Fernsehen gesungen haben.“ Von Lichtenberg aus agierte das Ministerium für Staatssicherheit. „Das Schlimme am Osten war, dass du schon als Kind dachtest, dass du niemandem vertrauen kannst. Du hattest ein Gefühl, wie wenn dir ein beschissener Chef über die Schulter schaut. Du denkst: Der zieht mich ab, der nutzt mich aus, der kontrolliert mich. Und deine Kollegen warten nur auf eine Gelegenheit, dich zu verpfeifen- auch, wenn du nichts falsch gemacht hast. Du spürst die Hinterfotzigkeit um dich herum. Niemand droht dir offen an, dich ins Gefängnis zu stecken. Aber du weißt, dass du in einer heimtückischen Gesellschaft lebst.“
Rote Kirschen
Die Heimtücke des real existierenden Sozialismus schildert Degenhardt in seinem Lied Rote Kirschen. „Meine Eltern haben damals einen Ausreiseantrag gestellt, der von der DDR natürlich geflissentlich ignoriert wurde. Der wird wohl in irgendeinem Papierkorb gelandet sein. Dann haben sie eine andere Fluchtmöglichkeit gesucht und sich mit einem Freund in Ungarn getroffen, der einen Brief an in die Bundesrepublik schmuggeln sollte. Darin stand, dass wir in der DDR festgehalten wurden. Der Freund wurde an der Grenze festgehalten. Der Brief wurde entdeckt. Einen Tag vor dem Geburtstag meiner Mutter sind meine Eltern vom MfS vorgeladen worden. Morgens erzählten sie mir von der Vorladung. Sie hatten Angst. Aber ich war zu jung und habe nichts verstanden.“
Die Eltern kamen nicht heim. Die Vorladung stellte sich als Vorwand für die Inhaftierung heraus. Statt der Eltern betrat ein Hippie mit Latzhose, ein Familienfreund und Systemgegner, die Wohnung. Dieser hatte von der Inhaftierung der Eltern erfahren und brachte Degenhardt in seine Wohnung. In derselben Nacht klingelte die Volkspolizei und fuhr Degenhardt zu seiner systemtreuen Großmutter, die ihm ihr Nähzimmer herrichtete, wo er als Junger Pionier die nächsten Jahre verbrachte.
Über den Verbleib seiner Eltern konnte ihm niemand Auskunft geben. Erst nach einem halben Jahr ließ die Gefängnisleitung erste Briefe zu. „Sie wurden in getrennten Gefängnissen untergebracht. Natürlich in den schwierigsten Haftanstalten. Es war üblich, politische Häftlinge mit den schlechtesten Haftbedingungen zu konfrontieren. Meine Eltern wurden zusammen mit Schwerverbrechern untergebracht. Mein Vater teilte sich das Hochbett mit einem Mörder. In den Gefängnissen gab es noch Wasserzellen. Sie wurden zwar nicht mehr genutzt, es gab sie noch, was man die Häftlinge auch wissen ließ. Ein halbes Jahr lang erfuhren meine Eltern nicht, wo der andere ist. Sie wussten auch nicht, was aus mir wurde. So hat man versucht, sie zu brechen.“
Ein unmittelbarer Kontakt zu den Eltern wurde Degenhardt verwehrt. Mit seiner Großmutter packte er Zigarettenpakete, damit die Eltern im Gefängnis zur Existenzsicherung handeln konnten. Über die Haftbedingungen von Republikflüchtlingen erfuhr Degenhardt erst im Nachhinein mehr: „Ich bin mit meiner Mutter zusammen in die Gefängnisse gefahren. Mein Vater berichtet als Zeitzeuge an Schulen über die DDR.“
Die Haft dauerte zwei Jahre. Anschließend wurden Degenhardts Eltern als zwei von insgesamt 33.755 politischen Gefangenen von der Bundesrepublik freigekauft. Der Häftlingsfreikauf diente dazu, die klinisch tote Planwirtschaft künstlich am Leben zu erhalten. „Meine Eltern sind Akademiker, Bauingenieure. Sie wurden natürlich sehr gerne freigekauft. Honecker hat auch richtig Kohle bekommen.“ Wenige Jahre vor der Wende betrug der Preis pro Häftling bis zu 100.000 DM. „Sie wurden in denselben Klamotten entlassen, in denen sie inhaftiert wurden.“
Um ihren Sohn wiederzusehen, stellten die Eltern vom Westen aus einen Antrag auf Familienzusammenführung, der nach sechs Monaten angenommen wurde. „Ich war zu jung, um alleine über die Grenze zu gehen. Meine Oma war systemkonforme Sozialistin, also war niemand da, der mich rüberbringen konnte. Über zwanzig Ecken fanden meine Eltern dann aber doch jemanden, der mich abgeholt hat.“
Leben, Singen, Kämpfen
Das Wiedersehen mit den Eltern verarbeitet Degenhardt in der letzten Strophe von Rote Kirschen:
Sie haben dieselben Klamotten an wie vor drei Jahren bei der Inhaftierung
Denn sie haben keine anderen und zur besseren Orientierung
Diplombauingenieure mit dreihundert Mark vom Staat
Verlieren Haus, Familie, Freunde, ihren Sohn an einem Tag
Sie wollten frei sein auch für mich- so etwas musst du dich erst trauen
Sie gaben das, was sie besaßen für das, woran sie glauben
Und jetzt sitz ich hier im Auto und ich kenn sie irgendwie nicht mehr
Ich weiß nicht, was ich sagen soll- drei Jahre sind sehr lange her
Ich weiß nicht, wie es mir geht, mir ist nicht nach Heulen oder Feiern
Wir fahren ins neue Zuhause- von Ostberlin nach Bayern
Den abrupten Systemneustart darf man sich nicht als Seifenoper vorstellen: „Wir lebten mit drei Familien in einer Dreizimmerwohnung in einem Asylantenheim zusammen mit Rumänen, Russen und anderen Flüchtlingen aus dem Ostblock. Als ich eintraf, sah auch ich aus wie ein Ossi und hatte den Geist der DDR aufgesogen. Man hatte mir diese Honecker-Brille verpasst. Sie wurde schnellstmöglich durch eine Brille von der Kasse ersetzt. Das war natürlich nur Kosmetik.“
Degenhardt musste nun die Spielregeln der kapitalistischen Gesellschaft erlernen, die er nur aus den Werbespots des Westfernsehens kannte. Ich möchte wissen, wie schnell die Integration dieses innerdeutschen Migranten gelang. Degenhardt erwidert mit einer Anekdote. Sein erster Schultag auf einer Würzburger Hauptschule begann mit der Aufforderung des Lehrers, zur Vorstellung etwas singen. Der ehemalige Junge Pionier trat vor die Klasse und stimmte das erste Lied an, das ihm einfiel:
Ich trage eine Fahne,
und diese Fahne ist rot.
Es ist die Arbeiterfahne,
die Vater trug durch die Not.
Die Fahne ist niemals gefallen,
sooft auch ihr Träger fiel.
Sie weht heute über uns allen
und sieht schon der Sehnsucht Ziel.
Ich frage, ob er diese Situation so komisch findet wie ich. „Ich habe die klassischen Lyrics, die ich vom System geballert gekriegt habe, völlig frei und in vollster Überzeugung gesungen. Ich habe damals nicht realisiert, was ich da gesungen habe. Das waren halt Volkslieder. Das ist im Nachhinein nicht nur irre komisch, sondern auch verdammt peinlich. Ich habe mich immer dafür geschämt, Ossi zu sein. Als wäre ich behindert. Oder impotent. Früher gab es keine Ostalgie- als Ossi warst du ein Spasti.“ erzählt er. „Ich kann diese Lieder wahrscheinlich besser auswendig als meine eigenen Texte. Ich habe das Liederbuch immer noch. ‚Leben, Singen, Kämpfen‘ heißt es. Den Buchtitel ließ ich mir ins Tschechische übersetzen und auf mein Knie tätowieren.“ Ich stecke eine Zigarette an und scherze, dass der real existierende Sozialismus seinen Bürgern wohl tief unter die Haut ging. Es ist Zeit, zum letzten Themenblock überzugehen. Degenhardt nimmt einen Schluck Arizona Ice Tea. „Du wolltest mit mir noch über meine Drogenphase reden, oder?“
Degenhardts Internetpräsenz findet man hier.
Teil 1 der dreiteiligen Serie widmete sich der Koexistenz von romantischem Kitsch und Perversion.
In Teil 3 berichtet Degenhardt von der Arbeit in der Psychiatrie, seiner drogeninduzierten Psychose und dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wahnsinn.