Ein paar Anmerkungen zur Missbrauchsdebatte

Gut an der gegenwärtigen Debatte ist, dass die Opfer endlich wagen zu sprechen. Das befreit. Doch dringt der aktuelle Diskurs in den Massenmedien, der stark an die sprichwörtliche durchs Dorf getriebene Sau erinnert, zum Kern des Problems vor?

Kein Mitleid mit der katholischen Kirche! Die öffentlichen Aggressionen treffen hier sicherlich keine falsche Adresse. Aber ist die Tatsache, dass sie sich auf dieses Ziel richten, nicht schon ein Indiz für eine rapide verfallende Macht? Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker glänzt manchmal auch als scharfer Analytiker: für ihn ist die katholische Kirche, wie sie sich hierzulande darstellt, ein Auslaufmodell – „die wäre imgrunde nur noch durch die Frauen zu retten“ meint er sehr richtig. Das wird sie natürlich nicht zulassen; lieber geht sie unter. Fast ist es schon mitleidserregend, dass diese streng hierarchisch strukturierte Organisation, mit einer besonders hohen Schwulenkonzentration in den Führungsebenen, sich als führende Organisation des Schwulen- (und damit Selbst-!)Hasses zu profilieren versucht. Herrgott, wirf Therapeuten vom Himmel! Welche Erkenntnisse werden sich erst auftun, wenn mann parallel mal die diversen Islamistenzirkel darauf untersucht? Aber das ist ein anderes Thema.

Obwohl nicht ganz. Das, was wir den Islamisten oftmals zu Recht als mittelalterlich unterstellen, wenn wir ihre gesellschaftliche Unterdrückung individueller Freiheiten anklagen, ist hierzulande noch nicht einmal eine historische Hundertstelsekunde her: egal, ob es die Rechte von Kindern, Menschen diverser sexueller Orientierung oder auch von erwachsenen Frauen betrifft. Ich selbst bin 53 Jahre alt, als Kind in der Mitte des Ruhrgebietes in Gelsenkirchen, Gladbeck und Essen aufgewachsen – nicht sexuell missbraucht worden, auch als Messdiener nicht – aber selbstverständlich wurde noch auf mannigfachste Art geschlagen und geprügelt, zuhause, in der Schule (Volksschule und Gymnasium) und der Kirche.

Vieles hat sich gebessert. Vor allem natürlich, dass das alles keine Privatsache mehr ist, sondern öffentlich debattiert wird. Auch dass die Eltern heute mehr wissen über die Erziehung von Kindern, und dass sie so engagiert für ihre Kinder Partei nehmen, wie sie es niemals zuvor getan haben. Was selten ist, ist wertvoll. In den Straßen, in denen ich aufgewachsen bin, sehe ich heute keine Kinder mehr toben. Nicht nur, weil es viel weniger Kinder gibt. Die Eltern haben vor lauter Kindesliebe- eine bedauernswerte Kehrseite – auch Angst, das Kind noch alleine auf die Straße zu lassen – bekanntestes Symptom: die berühmten „Mama-Taxis“. Und die Aufregung, wenn es mal zu einer Prügelei gekommen ist; das steht heute sofort in der Zeitung. Weil es dort häufiger steht, heisst das aber nicht, dass es häufiger vorkommt, sondern vor allem, dass wir heute besorgter darum sind, was ja kein Fehler ist. An „Jugendgewalt“ hat es jedoch durch alle Zeiten keinen Mangel gegeben.

Die Kriminalitätsstatistiken geben klare Auskunft, wo es für Frauen und Kinder am gefährlichsten ist. Es ist nicht in der Schule, nicht im dunklen Stadtpark, nicht in Bus und S-Bahn, sondern zuhause in der eigenen Wohnung. Die ist aber heilig, ebenso wie die Familie, hier gilt, wie in den Schulen, aus denen der Missbrauch jetzt öffentlich wird, das „besondere Gewaltverhältnis“, das sich weiter austobt, mit einer Riesendunkelziffer. Und übrigens scheint es kein Klassenproblem zu sein; Frauen und Kinder werden auch in der Oberschicht misshandelt.

Es ist also gut, dass es die Diskussion heute gibt. Aber sie darf nicht stehen bleiben. Das Private ist politisch. Da gibt es noch vieles, von dem bisher kaum die Rede war.

Eine öffentliche Debatte über Körperpolitik gibt es kaum. Fast rührend hilflos sind die Versuche, Jugendliche vor den Gefahren der Pornografie zu bewahren, sind es doch die Kids, die heute Eltern und Lehrern Technik- und oftmals auch Medienkompetenz vermitteln müssen.
Einerseits ist es moralisch notwendig und richtig, sexuelle Handlungen nur zwischen Personen zu erlauben, zwischen denen ein gleichberechtigtes und kein Gewaltverhältnis besteht. Andererseits werden in unserer Gesellschaft immer mehr Lebensbereiche durchökonomisiert und vermachtet, eine Entwicklung, die die Kids sehr aufmerksam rezipieren und uns mit ihren neuesten Pornotrends oftmals brutal den Spiegel vorhalten. Verdruckste erzieherische Moralisiererei hilft da nicht viel weiter. Die Älteren tragen selbst noch schwer an der Ideologie von Körper- und Lustfeindlichkeit, die sie nicht nur in einer Kirche, sondern – zumindest in Deutschland – auch in linken Bewegungen eingebimst bekommen haben. Das hat dazu geführt, dass sich eine Mehrheit der Alten und der Jungen in ihrem Körper unwohl fühlt – zu dick oder zu dünn, aber keinesfalls richtig, ganz so, als wenn ein Körper „richtig“ oder „falsch“ sein kann. Wie soll jemand, der oder die so wenig zur Selbstliebe fähig ist, andere lieben oder ihnen Liebesfähigkeit beibringen können? Als „MärtyrerIn“ vielleicht? Womit wir wieder bei Lattenjupp und den Parallelen zum Islamismus wären …..

Ressentiment oder Ökonomie

Selbst PolitikjournalistInnen und halb oder ganz linke PolitikerInnen verstehen bis heute nicht den Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen Haushalt, ganz zu schweigen von der globalen Ökonomie.

Ihre Weisheit erschöpft sich in dem Satz: „Man kann nur ausgeben, was man auch eingenommen hat.“ Und wer sich daran nicht hält, ist günstigstenfalls ein Schlawiner, will mit weniger Arbeiten mehr verdienen und hat recht häufig dunkle Haare und auch einen dunkleren Teint. Denn es ist ja bekannt, da unten am Mittelmeer ist nicht nur schöneres Wetter, da besteht das Leben vor allem aus Pausen, wie fast alle von uns aus unseren Urlauben wissen.

Diese Klippschulwirtschaftslehre verbindet sich auf das Feinste mit alten rassistischen Ressentiments und bildet ein stimmiges Weltbild, auf das unsere Regierung und unsere Kanzlerin ihre Bewältigung der griechischen Finanzkrise bauen. Ohne von übermässigen inländischen Debatten gestört zu werden, können so die Interessen deutscher Banken und Rüstungskonzerne, die veritabel im Griechenland-Geschäft engagiert sind, gewahrt werden. Denn der wichtigste Punkt für Merkel und Co. ist, dass deren Forderungen auf Heller und Cent beglichen werden. Und dafür müssen die gleichen GriechInnen, die schon unter ihren korrupten Regierungen gelitten haben, eben nun noch einmal leiden, mit Renten- und Lohnsenkungen. Hiesige ArbeitnehmerInnen haben davon überhaupt nichts. Im Gegenteil: durch ihre eigenen Reallohnverluste, hervorgerufen vor allem durch jahrzehntelang allzu bescheidene Tarifabschlüsse, haben sie zu den Voraussetzungen der Griechenland-, die auch eine Irland-, Italien-, Portugal- , Spanien-, Baltikum-, Balkan-, EU- und Europakrise ist, selbst beigetragen.

Der Exportvizeweltmeister Deutschland, der den Löwenanteil seiner Exporte im EU-Raum und Europa realisiert, hat alle seine potenziellen Konkurrenten kaputtkonkurriert, weil hierzulande die üblichen Verteilungskämpfe zwischen Unten und Oben viel deutlicher als in anderen demokratischen Ländern zugunsten von Oben ausgegangen sind. Von den Produktivitätsfortschritten, die natürlich im globalen Wettkampf die entscheidende Rolle spielen, hat Unten in Deutschland niemand etwas abbekommen. Die anderen EU-Länder finden das nicht amüsant, denn solche Handelsungleichgewichte können naturgemäß nicht von Dauer sein, und dann ist Schluss mit den lustigen Exportüberschüssen.

In dieser Lage sind wir jetzt in Europa. Und die Bundesregierung lässt nun heftig den „hässlichen Deutschen“ raushängen, und glaubt sich das leisten zu können, weil das in der inländischen Öffentlichkeit ja niemand thematisiert. Sie verweigert sich kooperativen Lösungen in EU- und Euro-Raum und setzt brutal das durch, was sie als „deutsche Interessen“ definiert, bzw. von der Zeitung deutscher Klippschüler definieren lässt. Im Unterschied zur hiesigen biodeutschen veröffentlichten Meinung ist die Debatte der Deutschland-Griechen, wie sie z.B. auf dem Premium-Radiosender Funkhaus Europa zu verfolgen ist, angenehm selbstkritisch und differenziert. Aber wer hört das schon?

Wie kann es nur zu so einem Demokratie-Desaster in der Ökonomie-Debatte kommen? Ist es die deutsche Inflationstraumatisierung aus den 20er Jahren? Noch nicht einmal meine Eltern haben die miterlebt; meine mittlerweile allesamt verstorbenen Großeltern haben sie mitbekommen, und ja, von ihrer Sparparanoia haben wir Enkel sogar über ein ansehnliches Erbe profitiert. Und ich würde die These wagen, dass die 12 Jahre Faschismus hierzulande auch in diesem Bereich bis heute historisch wirksame Zerstörungsschneisen in Wissenschaft und Ökonomieöffentlichkeit hinterlassen haben, da sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zum Teil bewusst nicht bearbeitet sondern restauriert wurden.

Das führt dazu, dass wir heute von amerikanischen Präsidenten belehrt werden müssen, wie Banken besser kontrolliert werden sollen, oder von einem ideologisch eigentlich reaktionären französischen Präsidenten, wie man eine rationale Konjunkturpolitik macht. Und ausgerechnet ein rechter Luxemburger, Jean-Claude Juncker, muss in deutschen Rundfunkinterviews den Sinn einer europäischen Griechenlandsolidarität erklären, weil deutsche Regierungsmitglieder dazu zu feige sind. Und nur in wenigen, vor allem wenig massenwirksamen inländischen Medien wird Anschluss an diese Debatte gehalten , z.B. von den Kolumnisten Fricke, Münchau und Zeise in der deutschen Financial Times.

Das wird alles auf uns zurückfallen, auch und gerade ökonomisch. Die europäischen Freundinnen und Freunde werden das deutsche Verhalten in dieser Krise nicht vergessen. Zu diesem ökonomisch unsinnigen Verhalten gehört ja ausserdem das moralische und menschenrechtliche Desaster der deutschen Rolle in der europäischen Flüchtlingspolitik. Hier lassen wir die nämlichen Länder Griechenland, Italien, und Spanien genauso alleine. Unsere Regierung scheint die Szenerie, in der nicht nur jährlich tausende jämmerlich im Mittelmeer ersaufen, sondern sich auch rassistische Progrome mit sichtbarer Förderung durch Mafia und reaktionäre Regierungen und Parteien häufen, mit Wohlgefallen zu betrachten, nach dem Motto: „Siehste, Einwanderung bewirkt eben sowas.“
Nur, wenn man das will!

Einwanderung bedeutet immer auch Innovation, ökonomisch, kulturell, sozial. Wer sich so konservativ abschottet, wie wir Deutsche es unseren Regierungen erlauben, der wird in Kürze nicht nur demografisch, sondern vor allem ökonomisch den Allerkürzesten ziehen. Ich wage, die These, dass nicht nur China oder Indien, sondern auch Länder wie, wenn dort erst massentauglicher Internetzugang geschaffen wurde – und das steht bevor – sogar ehrgeizige Länder wie Äthiopien oder Ruanda uns innovatorisch in schätzungsweise nur 50 Jahren noch was vormachen werden. Während wir ihre Leute nicht reinlassen und auch keine Geschäfte mit ihnen machen wollen, weil sie uns zu doof, zu schwarz und zu korrupt sind (Siemens oder Daimler sind dort aber sehr wohl bekannt!), machen sie ihre Geschäfte eben mit Chinesen oder Brasilianern. Sie brauchen uns nicht.
Entscheidend für die Wachstumsperspektiven einer Volkswirtschaft ist, ob die Menschen glauben, dass die Zukunft besser wird, als Gegenwart und Vergangenheit. Ein Land, in dem die Alten eine wachsende Mehrheit stellen, das sich einmauert und in dem diese Mehrheit glaubt, „früher war alles besser“, wird ihnen bald hinterhergucken .

Probleme beim „Der Freitag“

freitagVorausgeschickt: ich bin nicht neutral. Es geht um meinen besten Freund in der „Freitag“-Redaktion, den Literatur-Redakteur, zeitweiligen Feuilleton-Chef, zeitweiligen Chefredakteur Ingo Arend. Er streitet sich mit der Freitag-Verlagsgesellschaft, die heute Jakob Augstein gehört, vor dem Arbeitsgericht. Und die Frage, die sich dabei stellt, ist, was das für das politische Projekt „Der Freitag“ bedeutet.

Ingo Arend hat mich vor ca. 8 Jahren gefragt, ob ich nicht auch im „Freitag“ schreiben wollte. Damals gehörte der einer Gruppe von VerlegerInnen, darunter den Journalisten Wolfgang Storz und Holger Schmale, die ihn vor der Pleite gerettet hatten, eine „operative schwarze 0“ schafften, aber die Altschulden nicht wegkriegten, für sie alle ein existenzielles Risiko. Davor hatte und habe ich einen Riesenrespekt und war zu jeder Hilfe bereit. Schreiben hat mir dann vor allem viel Spass gemacht. Ich tat es vorwigend zu medienpolitischen Themen, in einer wunderbar angenehmen und effizienten Zusammenarbeit mit der damaligen Medienredakteurin Barbara Schweizerhof (heute bei epd-Film).
Der „Freitag“ trat jedoch strategisch auf der Stelle. Zu alte LeserInnenschaft, zu wenig innovative Themen, keine Chance zu aggressiver Expansion (wg. der Altschulden). Da war es für seine VerlegerInnen nur folgerichtig, ihn an einen reichen und publizistisch ehrgeizigen Mann zu verkaufen. Jakob Augstein ist als Miteigentümer des „Spiegel“ sehr reich, beim „Spiegel“ allerdings überhaupt nicht mächtig, weil er aufgrund des Testaments von Rudolf Augstein dort über keine Sperrminorität verfügt.

Er brachte neue und vernünftige Ideen mit, z.B. Ausbau der Onlinepräsenz, und auch einige neue Leute – die Mehrheit der Alt-Redaktion, auch Ingo Arend, war froh über die neuen Chancen.

Jetzt ist das Projekt in dem Stadium, dass sich die Hoffnungen bisher nicht erfüllt haben. Die Auflage steigt nicht wirklich, viele der dogmatischen Alt-LeserInnen sind sauer über das ganze neumodische Zeugs und die größere politische Diskussionsbreite, nur wenige neue und jüngere wurden hinzugewonnen. Der Verleger will rationalisieren. Ingo Arend ist der dienstälteste und damit teuerste Redakteur und ausserdem ja „nur“ für Literatur zuständig. Darum ist er das erste Opfer. Das ist schade. Denn er gehört sicherlich nicht zu den PDS-nahen Eisenärschen in der Redaktion.

In seiner Jugend war er Juso, hat sich aber, weniger politisch als alltagskulturell, im weiteren Leben sehr weit von traditioneller Parteipolitik entfernt, was ihn zu einem sehr angenehm diskussionsfreudigen Mitmenschen und zu einem erstklassigen Kulturjournalisten gemacht hat. Darum ist er als Rationalisierungsopfer beim „Freitag“ besonders schlecht gewählt – meine ich. Das finden auch viele angesehene Schriftsteller wie Christoph Hein, Anett Gröschner und Raul Zelik, in deren illustrer Gesellschaft ich mich als Mitunterzeichner beim Verleger über diesen beabsichtigten Rausschmiss beschwert habe.
Dieser traurige Vorgang könnte die Sichtweise bestätigen, die ich aus Berlin schon oft gehört habe:

Augstein und seine Freunde haben eine Menge modernerer Ideen für den Freitag mitgebracht, aber ihnen fehlt ein eigener politischer Kompass. Schade eigentlich.

Enke – was sagt er uns?

Alle Nachrufe sind geschrieben. Weil auf dieser Seite an anderer Stelle immer wieder in Kommentaren gefragt wird, Fan welches Vereins ein ruhrbaron-Autor sei: ich konnte diesen Nachruf auf dem Borussia-Mönchengladbach-Fanblog seitenwahl.de besonders gut nachfühlen.

Vieles spricht dafür, dass der Fall Enke nur die Spitze eines Eisberges ist. Kürzlich hat Sebastian Deisler, ebenfalls ein Ex-Gladbacher, mit einer Buchveröffentlichung, bei der ihm Tagesspiegel-Autor Michael Rosentritt behilflich war, einen tiefen Einblick in seine Krankheitsgeschichte gegeben. Wer das gelesen hat, wird von Enkes Fall weniger überrascht gewesen sein. Deisler/Rosentritt vermittelten das Bild einer archaisch und extrem gestrig anmutenden verschwiemelten Männer-Macho-Gesellschaft, die, verbunden mit dem milliardenschweren Geschäfts- und Profitdenken des heutigen Profifussballs auch weniger zarte Gemüter schnell anwidern kann.

Es gibt Bereiche, in denen Modernisierungs- und Menschlichkeitsfortschritte erkennbar sind, allerdings auch diese nur, weil sie dem strikten Erfolgsdenken Folge leisten.

Da sind zum einen die schwarzen Fußballer, die sich mit wachsendem Selbstbewusstsein aufgrund starker sportlicher Leistungen dem Rassismus entgegenstellen. Namentlich sind da – in schöner Ruhrgebietsausgewogenheit – Gerald Asamoah und Patrick Owomoyela zu nennen, die auch ausserhalb des Platzes eine starke Position beziehen. Unsichtbar hinter diesen Stars bleiben jedoch die zahlreichen afrikanischen Fußballer, die in sklavenähnlichen Verhältnissen – meistens über die Drehscheibe Belgien – nach Europa gebracht werden, um auf diesem Kontinent der unbegrenzten Fußball-Möglichkeiten für sich und ihre zurückbleibenden Angehörigen das Glück zu finden. Weniger als 5% von ihnen sehen wir in den Stadien des Profifußballs. Die andern sehen wir so wenig, wie die Tausenden, die jedes Jahr im Atlantik und im Mittelmeer jämmerlich ersaufen.

Zum andern sind das die deutschen Fußball-Frauen, die, wie in anderen Branchen auch, eine signifikant stärkere Leistung als die Männer liefern, nämlich als Serien-Welt- und Europameisterinnen, und dafür wie üblich entschieden schlechter bezahlt werden. Immerhin habe beide, die Schwarzen, wie die Frauen offizielle Unterstützung durch den DFB und seinen Präsidenten. Das ist noch nicht lange so.

Ein großer Schritt nach vorn war ausserdem das SZ-Interview von Philipp Lahm. Mit einer glasklaren Problemanalyse hat er sich bei seinen Bossen unbeliebt gemacht, deren Sprüche („wird er noch bedauern“) wenige Tage später durch Enkes Selbstmord eine Kodierung bekamen, die sicher nicht beabsichtigt war, und ihre Artikulierer hoffentlich ein wenig beschämt.

Dann ist da noch der Bereich der Homophobie im Fußball, dessen widerliche Ausprägungen in verschwitzten Umkleidekabinen Deisler zu schildern wusste. Auch da will DFB-Präsident Zwanziger ran, aber bisher ist er – zumindest in der Öffentlichkeit – nicht so richtig vorwärts gekommen. Jürgen Klopp ventilierte kürzlich in einem Interview auf ungewohnt zurückhaltende Art eine durchaus gute Idee: nicht ein einzelner Spieler sollte sich als schwul outen. Seit dem Selbstmord des schwarzen Briten Fashanu 1998 traut sich das verständlicherweise sowieso keiner. Sondern eine Gruppe von mindestens 10, besser mehr Spielern sollte es tun, damit sich die Publicity-Belastungen auf viele Schultern verteilen.

Ein frommer Wunsch wird es bleiben, das Rad des grassierenden Milliardenwahnsinns im Fußball, das den jugendlichen Millionären eine materielle Verantwortung für ihr soziales Umfeld aufbürdet, die sie gar nicht tragen können, zurückzudrehen. Ein ebenso frommer Wunsch ist es, dass das Männerbusiness, wie es andere Branchen längst tun, die Relevanz sog. „soft skills“, wie Empathie, Kommunikations- und Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft etc. anerkennt, und fähige Frauen in die Chefetagen einziehen lässt. In Zeiten des aufrechten Gangs, der Entwicklung von Schrift und Sprache, des Herabsteigens von Bäumen und des Bewohnens von richtigen Häusern müsste das eigentlich möglich sein und könnte das Business sowohl effizienter als auch menschlicher machen. Schauen wir nach Rom: dort wird eine Millionärs- und Vereinserbin, Signora Sensi gerade nach allen Regeln der Berlusconi-Kunst fertig gemacht. Wäre das hier anders? Mangels Versuch wissen wir es nicht.

 

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Salut! 20 Jahre BAG der Fanprojekte

Foto: Thomas Meiser

Der folgende Text ist eine Grußadresse des Fan-Soziologen Dieter Bott, der seit 28 Jahren Fanforschung betreibt und mit den Fanprojekten in Frankfurt, Düsseldorf und Duisburg eine von den Vereinsinteressen unabhängige „Sozialarbeit mit Fussballfans“ vorbereitet hat. 1968 gründete Dieter Bott in Frankfurt das „1. Anti-Olympische Komitee“ – nach der Devise „vögeln statt turnen!“ Gegenwärtig bildet er an der Fachhochschule in Düsseldorf Sozialarbeiter für ihre Tätigkeit in sozialen Brennpunkten aus. von Dieter Bott

Am  13. November  2009  feiert die Bundesarbeitsgemeinschaft  (BAG) der Fanprojekte ihr 20-jähriges  Bestehen in Dortmund. Den Festvortrag hält der renommierte Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der zu Beginn der nun institutionell abgesicherten und vom Verein unabhängigen »Sozialarbeit mit Fußballfans« die nationale Orientierung und Gewaltfaszination der jugendlichen Szene untersucht und auch auf strukturelle Ursachen und Defizite der für sie zuständigen gesellschaftlichen Institutionen zurückgeführt hat. Die Kommerzialisierung des Profifußballs nimmt seinen Anhängern ihre  frühere  Bewegungsfreiheit.  Die »Enteignung  vormals  selbstbestimmter Räume« (Heitmeyer) schwächt die jugendliche Selbstregulierung und  Selbstverantwortung  –  verbunden  mit  Versitzplatzung und Verkäfigung. Dazu kommt eine alles und alle erfassende Überwachung.

Nach Heitmeyer findet neben dieser Enteignung zusätzlich auch eine Entwertung statt, indem der finanzielle Anteil, den die anwesenden Zuschauer einbringen, abnimmt gegenüber den dominierenden Fernseh- und Sponsorengeldern, deren Interessen die Rahmenbedingungen und den Ablauf bis hin zum Amateur-Fussball immer stärker beeinflussen. Was der dem DFB und den mittlerweile vierundvierzig Fanprojekten verbundene Sportsoziologe Gunter Pilz kommerz- und repressionskritisch die »Eventisierung des Profifußballs« nennt, die diesem immer neue Besucherschichten erschließt, hat bei den organisierten traditionellen Fans keinen Beifall gefunden. Im Gegenteil: Vom Bündnis aktiver Fussballfans gegen Rechts (BAFF) bis zu diversen Ultra-Gruppierungen, die etwa seit 1997 nach und nach die Meinungsführerschaft in den Fanblöcken übernommen haben, regt sich Widerstand  gegen »den  größten  Scheiß  vom  Merchandise«.  Der  kann  so  weit gehen, dass diese  aktiven  und für die Stimmung in der Arena unverzichtbaren Ultra-Fans die sponsorenabhängigen Vorgaben der Vereine ignorieren und überteuerte Vereinstrikots durch ein dezentes eigenes »old-school
outfit« ersetzen.

Die Kritik am großen  Geld, die sich stets und besonders  an Hoeneß  und Bayern München  festmachte,  trifft  allerdings auch die eigenen »Scheiß-Millionäre«,  wenn  sich  die  investierten  Riesenbeträge  nicht  auszahlen. Aber auch dort,wo sie einen Dorfverein kurzfristig zum Spitzenreiter der Liga machen, weckt diese enorme Förderung des modernen Fußballs keine Begeisterung bei den traditionellen Fans, die den Milliardär und Sponsor Hopp  ins  Visier nehmen, weil er zweifellos nicht selbstlos dort investiert, wo sich das Geld beinahe automatisch vermehrt und seinen hauseigenen Produkten das  Attribut der  Bodenständigkeit  und der Popularität durch sein Fußball-Engagement hinzukauft. »Dass dich keiner leiden kann, stand nicht in deinem Business-Plan« schreiben Düsseldorfer Fans auf eins ihrer Banner. Übereifrige Zensurmaßnahmen gegen diese Art der Majestätsbeleidigung verderben als feudale Willkür das Klima und verschärfter Einsatz durch Polizei und Ordnungskräfte verhärten die Fronten.

Das ist die Stunde der unabhängigen Fanprojekte, ihrer zentralen Koordinierungsstelle (KOS) und der sie begleitenden Forschung (Pilz, Heitmeyer u. a.). Aufklärung, Vernunft und Versachlichung ist gegen  die skandalisierende Medienberichterstattung aufzubieten. Die unabhängigen Fanprojekte vor  Ort  sind in ihrer Vermittlerrolle gefragt, damit  die kooperationswilligen Kräfte vom Verein  und der Polizei den  jugendlichen Fans auf Augenhöhe begegnen und sich auch auf deren Interessenlage einlassen können. Dazu gehört  ganz  wesentlich  die  Plausibilität  und  Transparenz  der  Vergabe von Stadionverboten. Nur etwa zehn Prozent der von einem Stadionverbot betroffenen Fans nehmen dort, wo sie ihnen inzwischen angeboten wird, die Möglichkeit zu einer Stellungnahme aus ihrer Sicht wahr, höre ich von Thomas Schneider (DFL). Dass dieses resignative, weil erfahrungsgesättigte Desinteresse der betroffenen Fans an ihrer eigenen Verteidigung (»Gegen ein Polizeiprotokoll hast du so gut wie keine Chance«) als Schuldeingeständnis gewertet wird, zeigt die Szeneferne des verwalteten Fußballs.

Wenn die Fanprojekte den 20. Jahrestag ihres Zusammenschlusses in der BAG mit durchschnittlich 1,8 Mitarbeitern pro Projekt zelebrieren, anstatt spätestens bis zu  diesem Datum die ihnen  seit 1992  (Nationales KonzeptSport und Sicherheit) zustehenden mindestens drei fest  angestellten  Mitarbeiter  verbindlich  zu fordern, dann  stellt  sich die Frage,  wie  man  die berechtigten Interessen der Jugendlichen mit so wenig Kräften vertreten kann,  wenn  man  es  schon  nicht  schafft,  die  legitimen  eigenen  Interessen durchzusetzen. Als Seismografen der jugendlichen Fußball-Subkultur haben die Fanprojekte frühzeitig Kenntnis von den Stimmungen in der Fankurve – und können beurteilen, wie diese sich aufbauen. Es ist  nicht nur klassische Sozialarbeit und aufsuchende Jugendarbeit, Einzelfallhilfe und Gruppenbetreuung, die von den vereinsunabhängigen Sozialarbeitsprojekten mit überwiegend sportlichen Angeboten betrieben wird. Es sind nicht nur die Service-Leistungen für besorgte Eltern und den Verein, wenn zum Auswärtsspiel  ein  betreuter  Bus für Jugendliche unter  18  Jahre bereitgestellt wird  und es ist nicht nur gut  fürs Image gegenüber den Behörden, wenn Fußballturniere der Projekte auch gegnerische Fangruppen integrieren können  und dem  Rassismus symbolisch die rote Karte  gezeigt wird. Das  alles sind Tropfen  auf den heißen Stein, die strukturell nicht greifen können!

Es fehlen jugend-  und kulturpolitische längerfristige Angebote und Partizipation fördernde Interventionen der Projekte. Dazu müssen die Bundesligavereine und ihre Verbände allerdings auch bereit sein. Die von Wilhelm Heitmeyers Bielefelder  Forschungsgruppe jährlich erhobenen  Befindlichkeiten der »deutschen Zustände« geben keinen Anlass zum Jubel. Die empirisch erhobenen Werte beispielsweise zum Sexismus und zur Homophobie, zu Rassismus und Antisemitismus verlangen nach Gegenmaßnahmen, die ohne eine personelle und finanzielle Verstärkung der Fanprojekte nicht zu leisten sind.

Eine detaillierte Untersuchung zur »Menschenfeindlichkeit«, speziell im Fußball-Milieu kann die erste Heitmeyer/Peters-Studie aus den 1980er Jahren auf den neusten Stand bringen. Wilhelm Heitmeyer  will mit seinem, die Fremdenfeindlichkeit erweiternden Begriff der Menschenfeindlichkeit, besonders die Verachtung und Ausgrenzung von Schwachen und Prekären, Verlierern und Opfern ins Bewusstsein heben. Speziell im Fußball-Milieu können die Forschungen  von Gunter Pilz sinnvoll  ergänzt und  erweitert werden,  weil hier der traditionelle »Anti-Intellektualismus« und das »verhängnisvolle Härte-Ideal«  (Adorno) beinahe  unreflektiert  abgefeiert werden – gegen »Memmen und Weicheier, Schattenparker und Frauenversteher«. Woher das Geld für diese Studie nehmen?

Wenn alle Hersteller von überflüssigen und ästhetisch minderwertigen Fanartikeln samt der unsäglichen Maskottchen für ihre Geschmacksverirrungen einen Obolus entrichten, dann ist die halbe Miete schon zusammen. Die andere Hälfte zahlen DFB und DFL  aus ihrer  Portokasse, weil sie  diese  Zumutungen solange schon toleriert haben.

Presseschau Migration/Integration aus dem Oktober 09

Foto: Beate Moser

Das Ruhrgebiet ist die größte Einwanderungsregion Europas. Da kann es nichts schaden manchmal über den Tellerrand zu schauen, wie es in der Einwanderungs-, Integrations- und Flüchtlingspolitik zugeht. An dieser Stelle erscheint ca. einmal im Monat eine Presseschau zu diesem Thema. Sie erhebt keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit, sie enthält Texte, die aus meiner Sicht für – die oftmals kontroverse – Debatte in diesem Themenbereich von Interesse sind. Die Aufnahme von Texten bedeutet keine Identifikation mit ihren inhaltlichen Aussagen. Auf den Link klicken führt zum Text.

Zum unvermeidlichen Sarrazin nur das hier: Ratschläge und Erkenntnisse zum Problem der Unterschicht (Telepolis)

Das Essener "Zentrum für Türkeistudien" widerspricht der These von der gescheiterten Integration (Zeit)

Die NRZ berichtet über die Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh und derwesten.de hat die Kommentarfunktion mal wieder abgeschaltet (derwesten.de), und hier über die Moschee in Berlin-Heinersdorf (Tagesspiegel)

Jugendliche Doppelstaatler müssen sich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden (Zeit)

Immer mehr türkischstämmige Akademiker wollen Deutschland verlassen (Telepolis)

Ein Berliner Sozialarbeiter fordert ein integrationspolitisches "Rettungsprogramm wie bei den Banken" (KStA)

Die taz über die Selbstvermarktung des SPD-Bezirksbürgermeisters von Berlin-Neukölln Buschkowsky (taz), Die FAZ sieht dort eine Parallelgesellschaft – wie Buschkowsky (FAZ), Ambros Waibel meint, Westdeutschland solle Neukölln endlich in Ruhe lassen (taz), Duisburgs Dezernent Dressler findet türkische Stadtteile gut, auch hier mit abgeschalteter Kommentarfunktion (derwesten.de)

Daniel Bax kommentiert den Prozessbeginn zum Mord an Marwa El Sherbini in Dresden (taz)

Die FR dokumentiert Passagen aus einem Buch und Theaterstück über Jugendszenen in Bonn-Bad Godesberg, das aufgrund der quasi entanonymisierten Statements für viel Stress bei den Betroffenen gesorgt hat (FR)

Ein junger Türke über sein früheres Gangstertum in Berlin (Berl. Zt.)

derwesten.de berichtet über binationale Paare und hat diesmal die Kommentarfunktion nicht abgeschaltet (derwesten.de)

Türkische Frauen über ihre Sexualität, Interview mit der Buchautorin Hülya Adak (Süddeutsche)

Deutschland will 10.000 Roma ins Kosovo abschieben (Jungle World)

Operiert ein ruandischer Völkermörder von Deutschland aus? (taz), hier eine Reportage über das Kigali von heute (Tagesspiegel)

Ist Bundesgesundheitsminister Rösler "für immer Asiat"? (taz)

Ein Pro und Contra zum "Schwarz-Somalier" Wallraff (taz), die schwarze Autorin Sheila Mysorekar reagiert darauf verständnislos (taz), ebenso Sven Mekarides vom Berliner Afrika-Rat (Tagesspiegel), sowie weitere schwarze Deutsche (Sp-on), Wallraffs Originatext aus der "Zeit" hier (Zeit)

"Die Zeit" über einen "neuen Cem Özdemir" (Zeit)

Ein weiteres Interview mit der deutschen Fußballnationalspielerin Lira Bajramaj, diesmal von Roger Willemsen (Zeit), ein Porträt des malischen Nationalspielers Frederic Kanoute, der beim FC Sevilla spielt (taz) und weitere Begeisterung über Mesut Özil (FAZ), der meint, sein Ballgefühl sei "türkisch" (Tagesspiegel)

Barack Obama – ein konsensfixierter Zauderer? (Berl. Zt.), das sei eine Täuschung von Linken mit der Lust am Scheitern, meint Robert Misik (taz)

Kurdische Frauenorganisationen machen Kampagne gegen Ehrenmorde (Junge Welt)

In Italien gibt es – sehr spät, aber immerhin – einen Frauenaufstand gegen Berlusconi (Berl. Zt.)

Strukturwandel in Wien: Wird der Ortsteil Ottakring zu einer "Republik Bionade"? (Zeit)

Wie Müllrecycling in Istanbul funktioniert (Freitag)

Die taz berichtet über eine LeserInnenreise in die Kulturkampfmetropole-Istanbul (taz), dazu ein Interview mit dem Reiseführer (taz)

Wie die "Schweinegrippe", die nichts mit Schweinen zu tun hat, in Kairo für "Strukturwandel" und soziale Verwerfungen gesorgt hat (FAZ)

Wie man in Dänemark gutes Fernsehen macht: "Protectors" , z.Z. sonntags 22 h im ZDF (taz)

Was der Westen von China lernen kann (taz)

Reza Hajatpour über Probleme islamischer Theologie (FAZ)

Partynächte in Teheran, Kairo und Damaskus (Sp-on)

 

Wessen Zahlen sind röter – die von S04 oder die der SZ?

Die "Süddeutsche" von heute (nicht online verfügbar) bestätigt weitgehend Gerüchte über die Finanzlage des FC Schalke 04, über die schon die Financial Times Deutschland (FTD) berichtet hatte und fügt noch einige Details hinzu.

Am 29.September sollen sich bei S04-Aufsichtsratschef und Großschlachter Tönnies der Londoner Heuschreckeninvestor Schechter, der damalige S04-Anwalt Päffgen, S04-Geschäftsführer Peters, Tönnies und dessen Schwager im gefliesten Konferenzsaal der Firma Tönnies, "bewirtet von polnischen Köchinnen", so die SZ, getroffen haben. Bei diesem Treffen sei man sich nicht einig geworden, Rechtsanwalt Päffgen verlor sein S04-Mandat und einen Tag später erschien die Story in der FTD.

Die SZ berichtet, Tönnies habe vor S04-affinen Landtagsabgeordneten die Schulden mit "136 bis 140 Mio." angegeben. Dem stünde aber ein Vereinsvermögen von 400 Mio. gegenüber. Der Gesamtumsatz habe 2008 139 Mio. ausgemacht, und werde in diesem Jahr wegen fehlender Europacupeinnahmen auf 108 bis 112 Mio. sinken. Die berühmten vier "Sicherheitskonten", die nicht gefüllt seien, gebe es nach SZ-Recherchen tatsächlich. Aus dem Ein- und Auszahlungsverlauf eines dieser Konten vermuten die SZ-Autoren Leyendecker und Nitschmann, dass es Tönnies selbst sein könnte, der es gefüllt habe, damit unruhige Gläubiger bedient werden. Das klingt alles nicht gut.

Doch nun der Trost für die gebeutelten S04-Fans. Auch über die Häuser, die diese Nachrichten verbreiten, gibt es jede Menge Gerüchte. Über die seit Jahren chronisch defizitäre Financial Times Deutschland, die über den Verlag Gruner&Jahr zum weitverzweigten Gütersloher (!) Bertelsmann-Konzern gehört, der letzte Woche ebenfalls rote Zahlen melden musste und der mit mehreren Milliarden verschuldet ist, weil die Besitzerfamilie Mohn den Minderheitsaktionär Albert Frere rausgekauft hat, – wo waren wir? – ach ja, über die FTD gibt es schon seit Jahren Schliessungsgerüchte. Ich muss allerdings gestehen, dass ich ihre Art Wirtschaftsjournalismus durchaus informativ und gelungen finde (aber ich bin ja auch kein S04-Fan).

Und die SZ, die heute so gemein gegen S04 war, die hat Dienstag ihre ganz eigene Krisensitzung. Das berichtet die Medienjournalistin Ulrike Simon, die gewöhnlich gut recherchiert, heute in diversen Blättern des Verlagshauses Neven DuMont, u.a. hier. Die SZ schreibe erstmals in ihrer Geschichte auch rote Zahlen, die Anzeigen- seien hinter die Vertriebserlöse zurückgefallen, der Verlagsneubau in München verursache eine hohe Mietbelastung und der Mehrheitseigner Südwestdeutsche Medienholding (SWMH) habe sich für den Erwerb ebendieser Mehrheitsanteile ebenfalls hoch verschuldet. In 2008 hätten bereits 70 Mitarbeiter aus Redaktion und Verlag das Haus über ein lukratives Abfindungsangebot verlassen. Am Dienstag will nun der Herausgeberrat beraten, wie es weitergehen soll. U.a. ist bisher noch nicht bekannt, wer den 2010 ausscheidenden SZ-Chefredakteur Hans-Werner Kilz beerben soll.

Aufmerksamen SZ-Lesern ist nicht entgangen, dass eine Menge erstklassiger Leute schon weg sind. Einer der besten Fußball-Journalisten, Christoph Biermann, in Herne aufgewachsen, ist zu Spiegel-online gegangen. Juan Moreno, ein genialer Kolumnist, moderiert jetzt im WDR-Funkhaus-Europa (103,3 Mhz), Marcus Jauer schreibt jetzt für die FAZ. Wenn die SZ-Eigentümer die Schraube so weiter drehen, steigt die SZ schneller in die 2. Liga ab als S04.

Nun auch Horst Szymaniak

Der Sensenmann hat nun auch Horst Szymaniak geholt. Beim ersten TV-übertragenen Länderspiel, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnern kann, war er dabei. Am 26. September 1965 musste die deutsche Nationalmannschhaft zum Auswärtsspiel gegen Schweden nach Stockholm – es war eine Situation wie heute vor dem Russlandspiel: bei einer Niederlage wäre sie in der Qualifikation für die WM 1966in England weg vom Fenster gewesen. (Dort wurden sie später Vizeweltmeister in einem 2:4 gegen England mit dem berühmten "Wembley-Tor".) In einem typischen Uwe-Seeler-Kampfspiel, und nicht auf Kunstrasen, sondern auf Matsch und Geröll des damaligen Rasunda-Stadions, wurde 2:1 gegen Schweden gewonnen. Es war der Beginn einer Legende, die sich bis in die Gegenwart gehalten hat, und die von Gary Lineker mal so zusammengefasst worden sein soll: "Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten und am Ende gewinnen immer die Deutschen". Szymaniak, der Bergmann von Zeche Ewald Fortsetzung, hat diese Legende mitbegründet. Legenden sind, nebenbei bemerkt, nicht die Wahrheit, sondern nur ihre Verkleidung in Redensarten und Erinnerungen, und sagen nichts über die nahe und ferne Zukunft. Russland könnte heute also durchaus gewinnen, was mit Horst Szymaniak in der Innenverteidigung oder im defensiven Mittelfeld allerdings erheblich unwahrscheinlicher wäre.

1964 war Szymaniak der erste Deutsche, der den Europapokal der Meister, dem später das heutige Geldruckprodukt "Champions League" folgte, gewann, in der Mannschaft von Inter Mailand. Das ins-Ausland-gehen war damals unter deutschen Fußballfans noch extrem als geldgierig verrufen, und dann auch noch zu den fiesen, hinterhältig foulenden Catenaccio-Totengräbern des ehrlichen Fußballs, den Italienern. 1965 kam Szymaniak in die Bundesliga, zu "Aufsteiger" Tasmania 1900 Berlin. Der Aufstieg dieser Mannschaft war extrem dubios; er war verbunden mit der Aufstockung der Bundesliga von 16 auf 18 Mannschaften, der Vermeidung des sportlichen Abstiegs von S04 und der sportpolitischen Ersetzung von Hertha BSC durch Tasmania – Berlin sollte unbedingt dabei sein. Tasmania 1900 ging 1966 mit einem Punktekonto von 8:60 und einem Torverhältnis von 15:108 in die ewige Bundesligageschichte ein. Szymaniak spielte in dieser Saison 29 mal und erzielte ein Tor – alle Beobachter waren sich einig: an ihm hats nicht gelegen, er war ein armer schlecht beratener Wicht.  Zur WM 1966 schmiss Bundestrainer Schön ihn dann aus der Nationalmannschaft, angeblich wegen einer Kneipentour. Aus heutiger Sicht muss man sich fragen, wer dann seinerzeit hätte dabeibleiben dürfen. Szymaniak war immer ein Freund offener Aussprache und hat dabei auch seine Beiträge zu den zahlreichen Sammlungen von Fußballer-Stilblüten geleistet. Weil ihm das häufig nicht gelohnt wurde, hat er sich in seinem späteren Leben von den meisten Medien ferngehalten.

Er war ein großer Fußballer und wenn er 10 Jahre später gelebt hätte, wäre er irgendwann auch als wohlhabender Mann gestorben. Das war ihm nicht vergönnt. Schade.

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Hungermodels und Ernährungskampagnen

Foto: Thorsten Schraven

Hatte Marilyn Monroe Übergewicht? Wer sie mit heutigen Models oder Star-Schauspielerinnen wie Jessica Alba, Angelina Jolie oder Nicole Kidman vergleicht, müsste wohl zu diesem Schluss kommen. Nach einem Vorstoss der Frauenzeitschrift "Brigitte", die auf den Abdruck von professionellen Hungermodelfotos verzichten will, hat das Thema wieder Eingang in die öffentliche Debatte gefunden.

Noch 20 Jahre nach dem Tod der Monroe wurden in Karikaturen die fiesen Kapitalisten als Dicke in Anzug und mit Zigarre gezeichnet; in manchen Versionen zogen sie mittels eines Flaschenzuges einen Korb mit Nahrung vor den hungrigen Arbeitermassen hoch. Das ist heute alles umgewertet: die fiesen Kapitalisten sind heute durchtrainierte Männermodels à la René Obermann. Die Dicken sind die, die von ihnen rausgeschmissen werden. Ums Essen geht es auch nicht mehr, das macht weniger als 15 Prozent der privaten Haushaltsbudgets aus.

Vernachlässigt wird in landläufigen Ernährungskampagnen, dass es nicht nur viele Übergewichtige, sondern vielleicht noch mehr Essgestörte gibt. Von konkreten Strategien gegen die Ausbreitung dieser Massenkrankheit ist leider nirgends die Rede. Schon vor einigen Jahren hat eine Studie der Universität Jena ergeben, dass ein Drittel der 10-31-jährigen Frauen und Mädchen von Essstörungen betroffen ist oder war. Eine vom Robert-Koch-Institut veröffentlichte Studie zur Kindergesundheit kommt zu einem ähnlichen Ergebnis für 11-17-jährige: 28,9 Prozent der Mädchen und 15,2 Prozent der Jungen seien betroffen. Adipositas-betroffen sind dagegen nur 8,9 Prozent der 14-17-jährigen, beziehungsweise noch weniger in jüngeren Altersgruppen.

Bei Übergewichtigen lautet das Klischee, sie ließen sich gehen, würden sich selbst vernachlässigen. Da ist es stimmig, wenn Politik und Medien als Umerzieher auftreten und den unter Übergewichtigen stark vertretenen Unterschichtlern vorhalten, sie seien an ihrem Schicksal selber schuld und sollten sich erst mal selbst läutern, bevor sie Staat und Krankenkasse auf der Tasche liegen. Bei den Essgestörten sieht das Bild anders aus. Auch bei ihnen sind die Armen und die mit Migrationshintergrund (letztere laut RKI über 50 Prozent) überrepräsentiert. Sie versuchen, das Leben mit übersteigerter Selbstkontrolle in den Griff zu bekommen, sie üben zu viel Selbstdisziplin. Warum nur? Sigrid Borse vom "Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen" beschreibt es als Versuch, "aus einer Ohnmacht heraus den Körper zum Bereich eigener Handlungsmacht" zu machen. Es fehle den Betroffenen an – schöner Begriff! – "innerer Sicherheit"! Und es gibt sie über 90 und unter acht Jahren, die Tendenz geht zur durchschnittlichen Verjüngung.

Es ist also unumstritten, dass Ess-Störungen eine Massenerkrankung, eine Volkskrankheit sind. Doch es ist merkwürdig, wie wenig das politische Debatten beschäftigt. Die Essgestörten sind schlimme Opfer herrschender Individualisierung. Sie treiben sie gegen sich selbst auf die Spitze, und kommen zu allerletzt auf die Idee, sich gar politisch dagegen zu organisieren. Foren, in denen sie sich zu immer höheren Hungerleistungen anspornen, gibt es dagegen wie Sand am Meer. In Wohngemeinschaften junger Frauen, besonders natürlich wenn sie "schön" sind, gehört das Kotzen zur gemeinsamen Alltagskultur. Sie finden nichts dabei, so wenig wie Alkoholiker ihr Saufen bemerkenswert finden. Den Regierungen fällt offensichtlich nichts dazu ein. Selbst in den Debatten der Feuilletons kommt es selten vor. Sind zu viele in der Branche selbst betroffen? Wer mag schon über sich und seine ganz persönlichen Fehler disputieren?

Doch es ist nicht "ganz persönlich". It´s the economy, stupid! Der Halt, den Berufstätigkeit und Arbeit gegeben haben, wurde und wird demontiert. Heute versuchen alle, nach Kräften zu funktionieren, weil sie nur dann durch Gehalt und soziale Anerkennung belohnt werden. Bei wem das Funktionieren gefährdet wird, verbirgt das lieber – darum auch die abnehmenden Krankheitstage. Das lässt sich der Körper nicht gefallen. Er reagiert bei jedem und jeder anders. Die einen fressen, die andern hungern, wieder andere tun beides. Die häufigste Krankheitsursache, sagt Wiglaf Droste, ist die Arbeit. Wer also gesund leben will, sollte als Erstes das Arbeiten, aber nicht Essen und Trinken einstellen.

But it´s not only the economy. Die Deutschen sind durch eine lange preußische und faschistische Genussfeindlichkeit geschädigt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. (Sic!) War das nicht sogar ein Slogan von sozialdemokratischen Revolutionären? Die Hartz IV-Politik lässt sich jedenfalls genau davon leiten. Hier wird Essen als Nahrungsaufnahme zwecks Funktionieren des Körpers verstanden. Und das ist genau das große Missverständnis. Wenn der Mensch gesund bleiben soll, braucht er Lust und Genuss. Am Mittelmeer wurde das traditionell immer besser verstanden. Weil es dort mehr Licht gibt? Während im winterlich dunklen Skandinavien trotz prohibitiver Steuern und Preise erheblich haltloser gesoffen wird?

Heute existieren längst soziale, technische, wissenschaftliche und kulturelle Instrumente, die aus diesem archaischen Abhängigkeitsverhältnis von der Natur befreien können. Genuss kann gelernt werden, in Frankreich sogar in der Schule. Die internationale Slowfood-Bewegung bemüht sich darum, die sich bedauerlicherweise in Deutschland mehr als elitäre Gourmet-Vereinigung darstellt, als es diesem eigentlich hochpolitischen und sozialen Gedanken gut tut. Global engagiert sie sich unter italienischer Führung für regionale Erzeuger gegen die Patentpolitik der internationalen Saatgutkonzerne und für "das Recht auf Genuss". Auf jeden Fall kann man den nicht autoritär durch Regierungsdekret vermitteln, sondern nur durch Mitmenschen, die Freude und Genuss selbst vorleben können und dürfen. Furcht, Angst, Strafe haben da keinen Platz. Sie breiten sich aber gerade aus. Das ist das Ernährungsparadox unserer Tage. Wer da nicht dran will, wird weder Übergewichtigen noch Essgestörten helfen können.

Informationen über Essstörungen:

www.essstoerungen-frankfurt.de

www.bzga-essstoerungen.de

Sportjournalismus im TV? – Es gibt ihn noch!

Sport im Fernsehen heisst heute in erster Linie "Produktpräsentation". Die Bundesliga ist hierzulande die Avantgarde des Berlusconismus. Nichts ist ihr wichtiger als die Kontrolle der Bilder. Private und öffentlich-rechtliche Sender lassen sich beliebig vorschreiben, welche Bilder sie zu senden haben, und welche nicht. Bei Ersteren erwartet man nichts Anderes, bei Letzteren ist es ein politischer Skandal. Dass das dennoch niemand juckt, sagt viel über die öffentliche Wertschätzung dieser Sender aus. Ein gallisches Dorf des Sportjournalismus im TV gibt es jedoch, es sendet heute um 22.45 Uhr im WDR-Fernsehen: "Sport inside".

 

 

Hier hat die viel zitierte "ARD-Dopingredaktion" eine ihrer wenigen Abspielstellen. Mir persönlich hat sich ein Beitrag von Vincenzo Delle Donne besonders eingeprägt, der die Dopingpraktiken im italienischen Fußball darstellte. Zu sehen war ein wie ein Schlosshund heulender Ruud Gullit, der einen im Rollstuhl sitzenden ehemaligen Mannschaftskameraden bei dessen Benefizspiel begrüßte.

Heute geht es in "Sport inside" u.a. um die ökonomischen Interessen, die sich hinter der Ausbreitung von Kunstrasenplätzen verbergen, und – da wird Gelsenkirchen wegzappen müssen – um den Brasilianer Dede, der seit 1998 beim BVB unter Vertrag steht.