Europameisterschaft: Fußballflucht quer durchs Revier – Ein Protokoll

Wenn mich später jemand fragt, wo ich das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft erlebt habe, kann ich umfassend Auskunft geben. Ich habe im Bus gesessen und in der Bahn. Ich habe versucht, diesem Spiel zu entgehen, im öffentlichen Nahverkehr.

20:48 Uhr. Der Bus ist pünktlich. Die UEFA ist es nicht. Als der SB 20 den Busbahnhof verlässt, fängt das Viertelfinale in Warschau gerade an. Die Verbindung zwischen Recklinghausen und Herne ist die einzige Strecke, mit der die Vestische Straßenbahnen AG Gewinn erzielt. Mögen die Straßen menschenleer sein, der Gelenkbus ist es nicht. Er muss schon nach hundert Metern einen Umweg nehmen, der Wall ist gesperrt für das Public Viewing. Busse haben zum Glück kein Autoradio. Unter den Fahrgästen dominiert die U20. Männer mit Migrationshintergrund, MMH. Gibt es die Abkürzung schon? Spätestens jetzt. Neulich hörte ich im WDR-Fernsehen erstmals das Fachkürzel MILF. Ich sitze also im Gelenkbus mit Menschen, die sich wohl auch deshalb nicht für die EM interessieren, weil ihre Herkunfts-Nationalmannschaft erst gar nicht dabei ist.

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Dortmund: Wir sind die Freaks – Crashtest Nordstadt

Der Name ist ein Witz. “Hotel Aufbruch“ nennt sich die Herberge heute. „Endstation“ wäre passend. Ich hocke mit vier anderen Menschen, die ich erst seit einer Stunde kenne, in einer Gruppenunterkunft. Von der Dortmunder Münsterstraße sind wir eine glänzende Steintreppe in die erste Etage gestiegen, an der engen Rezeption vorbei, durch den Notausgang, einen schmalen Flur entlang, eine nicht mehr glänzende Treppe runter, durch eine Stahltür. Gut, Mario ist dabei, ein Kumpel, aber der ist in diesem Moment keine Hilfe. Weiße Bodenfliesen, vier Etagenbetten, Neonlicht. Sauber das Ganze, aber unwirtlich. Wer nächtigt freiwillig in so einer Bude? Ich halte einen handgeschriebenen Zettel in der Hand. „Großmutters Strickzeug“ steht darauf.

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Die Herren der Ringe – Krupp im Ruhr Museum

Alfred Krupp

Schon der Titel der Ausstellung: „200 Jahre Krupp – ein Mythos wird besichtigt“ macht mich wahnsinnig. Bislang ging ich davon aus, dass Mythen, die nüchtern besichtigt werden, zur Schau gestellt werden also, ihre Aura in dem Moment verlieren. Revolutionäre kennen sich da aus, weshalb sie nach erfolgreicher Machtübernahme tote Diktatoren präsentieren oder zum Tag der offenen Tür in ehemals hermetisch verschlossene Herrscherpaläste einladen. Besichtigt ist der Mythos tot.

Bei der am Wochenende gestarteten Krupp-Ausstellung im Essener Ruhrmuseum scheint es komplizierter. Denn Krupp war wohl nie ein einziger Mythos, er war polymythologisch, falls es dieses Wort geben sollte. Große Erfindungen wie der nahtlose Radreifen, der Mitte des 19. Jahrhunderts das Eisenbahnwesen und parallel das Essener Unternehmen anschob, der Nirosta-Stahl, das sagenhafte Sozialwesen, der Rüstungskonzern mit seinen Wunderwaffen, der dicken Bertha, die Nähe zu Kaiser Wilhelm II ebenso wie zu Hitler, all das ist vielschichtig und kaum trennscharf zu betrachten.

Mein flaches Kruppbild aus der Zeit des politischen Erwachens wurde von Bernt Engelmann 

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„Mehr Explosionen!“ – Grimme-Preise in Marl verliehen

Der Grimme-Preis wird  in Marl verliehen, in der Provinz. Das ist richtig, denn grundsätzlich ist Fernsehen das Medium der Provinz. Er wird verliehen vom Deutschen Volkshochschulverband, das kann man historisch verstehen. Denn Auftrag des einst allein existierenden Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks waren Bildung, Information und Unterhaltung. Und der Grimme-Preis ist praktisch unkritisiert, was leicht zu verstehen ist, sitzen doch nahezu alle relevanten Medienkritiker in irgendwelchen Jurys und Nominierungskommisssionen

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich mag den Grimme-Preis. Ich bin in Marl groß geworden, in der Provinz; ich habe mit dem Grimme-Preis Fernsehen gelernt. Er war immer unprätentiös und dünkelfrei. Als junger Dödel von der Lokalpresse konnte ich dort mit

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NRW: Fristen, Formen, Fürsten – Die SPD schreitet zur Wahl

Wenn Dortmund die Herzkammer der Sozialdemokratie ist, muss Recklinghausen ein anderer Körperteil sein. Das Gehirn ist es nicht. Vor einiger Zeit reklamierte die Geschäftsführerin der SPD im Kreis Recklinghausen noch, mehr Mitglieder zu betreuen als der Dortmunder Unterbezirk. Jetzt sitzen am Samstagvormittag 150 Delegierte in der Stadthalle Oer-Erkenschwick.

Vor drei Tagen ist ihnen die rotgrüne Minderheitsregierung in Düsseldorf irgendwie abhanden gekommen. Laien erwarten hier und jetzt vielleicht brodelnde Wahlkampfstimmung, hochrote Köpfe, überbordende Gefühle angesichts der ersten Wahlprognosen. Ein „Ordentlichen Kreisverbands-Parteitag“ folgt einem anderen Drehbuch. Er ist seit Monaten geplant und hat 13 Punkte auf der Tagesordnung. Bei der Wahl der Kreisverbands-Schiedskommission werden vier BeisitzerInnen benötigt. So geht deutsche Parteiendemokratie.

Die Stadthalle ist eigentlich das Obergeschoss eines großen Supermarktes, wahrscheinlich irgend so ein Privat-Public-Partnership-Ding. Vor kurzem hat der Pächter gewechselt, mit dem alten streitet man sich über fehlendes Mobiliar und solchen Kram. Am Tag zuvor spielte im selben Saal noch der Don Kosaken Chor Serge Jaroff, die Karten kosteten 15 Euro im Vorverkauf.

Heute zahlen die Delegierten ihren Kaffee selbst, im Foyer gibt es Gulaschsuppe und Currywurst, Vegetarier sind nicht vorgesehen. Nicht einmal WLAN gibt es hier. Das fällt weiter nicht auf, nur ein paar Delegierte aus Castrop-Rauxel schauen in ihre Netbooks.

Die Neuwahlen spielen auf dem Podium und in den wenigen Wortbeiträgen kaum eine Rolle. Aufbruchstimmung, Wahlkampfreden, Analysen: Fehlanzeige. Das überfordert die Organisation. Noch gibt es keine Slogans, Flyer und Plakate aus Düsseldorf, aber jede Menge Arbeit für den

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Wenn Winkelmann Winkelmann ins U reisen lässt

Winkelmanns Reise ins U Foto: Theater Dortmund

Fahrt vorbei am Dortmunder U, oben in den Fliegenden Bildern Kickerfiguren, schwarz und gelb unterlegt, ein kurzer Blick, verkehrsgefährdend, dann verschwinden sie hinter der Fassade eines Krankenkassenbaus. Er ist bar jeder Abstands- und Anstandsregel so nah an den alten Brauereiturm geklatscht, dass jeder Kleingärtner, der sich so mit seiner Gartenlaube an den Parzellennachbarn ranwürfe, aus dem Verein ausgeschlossen würde oder mindestens tausend Stunden Strafharken in den Gemeinschaftanlagen aufgebrummt bekäme.

Draußen vor dem Stadttheater begrüßt Adolf Winkelmann Freunde, Gäste, Kollegen und weiß nicht so recht, über welche Schulter man sich zur Theaterpremiere glückbringend über die Schulter spuckt. Drinnen fummelt Jost Krüger vergeblich an einem dieser Garderobenschränke herum. Man setzt sich, und auf der Bühne stehen nach kurzem Vorspiel Winkelmann und Krüger. Unsicher, täppisch der eine, zauselig verstrahlt der andere. Dargestellt von Axel Holst und Uwe Rohbeck.

Warum tut sich Adolf Winkelmann das an, mit 65 Jahren noch mit dem Stadttheater anzufangen? Einem Betrieb, vor dessen strikten Zuständigkeiten, Ruhezeiten- und Sicherheitsvorschriften es manchem graust, der zeitlebens frei arbeitete? Beim Film hat er im Schneideraum das letzte Wort über das Produkt, wenn er dem zuständigen WDR-Redakteur die eine Szene geopfert hat, die nur deshalb dringeblieben war, damit der arme Kerl aus Köln das Gefühl hat, kreativ mitgewirkt zu haben. Im Theater machen die Schauspieler nach der Premiere eh was sie wollen, da gibt es auch keinen zweiten Take.

Es scheint ihm Spaß gemacht zu haben, mit diesem Apparat zu spielen. Das Dortmunder Haus ist ja gegenüber einer mittelprächtigen TV-Produktion eher Kleines Fernsehspiel. Aber der Apparat läuft, und Winkelmann nutzt ihn weidlich. Ständig surrt etwas vom Schnürboden herab, da dürfte jeder Zug belegt sein und der Inspizient zwischendurch nicht zum Kaffeetrinken kommen. Da wird projiziert, funken

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„Herr Professor, Sie sind ja teurer als der Jauch!“

Hanna Arendt

Was ein Montagsauto ist, wusste ich schon lange. Ein Freund fuhr mal so ein Ding, also wenn es denn mal fuhr. Seit gestern weiß ich  auch, was ein Montagsökonom ist. Er schreibt zum Wochenbeginn einen Artikel für die Wirtschaftsseite der WAZ und funktioniert nach (besser: unterliegt) den Prinzipien des Montagsautos. Jedenfalls, wenn dieser Montagsprofessor sich wohlfeil einreiht in den Club der ARD/ZDF-Basher, der derzeit ihren Verlegern zwar Freudentränen in die Augen treibt, auch wenn sie ansonsten im Tarifstreit hart bleiben. Wolfram F. Richter, Professor für Öffentliche Finanzen an der TU Dortmund, nahm sich gestern in der WAZ den ARD-Neutalker Günter Jauch vor. Er hält ihm sein

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„Ein Tick anders“ – eine FotzenpimmelArschWichser-Komödie aus dem Ruhrgebiet

So könnte man beginnen: Manchmal sind Filmpreise wie Fallbeile. Da holt ein junger Regisseur, Cutter oder Darsteller irgend so eine Trophäe, nicht die schlechteste in der Branche. Und dann ruft keiner an, liegt kein großartiges Drehbuch im Briefkasten, schlägt sich der eben noch Umjubelte jahrelang mit Brotjobs und kleineren Projekten durch. Dem Bochumer Regisseur Andi Rogenhagen ist es so ergangen. Vor 16 Jahren holte er mit seinem Erstling gleich den Grimme-Preis. „The Final Kick“ zeigt die Welt am Tage des WM-Finales 1994, an verschiedenen Orten von verschiedenen Regisseuren gedreht. Rogenhagen selbst steuerte nur die Episode vom Rhein-Herne-Kanal bei. Ansonsten montierte er einen großartigen Sportfilm. Nebenbei bemerkt machte er das Jahre vor Pepe Danquarts „Heimspiel“ und Sönke Wortmanns „Sommermärchen“. Heute kommt Rogenhagens Komödie „Ein Tick anders“ in die Kinos, sein zweiter Spielfilm. Darin geht es um die 17-jährige Eva, die eigentlich glücklich in ihrer Familie aufwächst, bis ihr Vater, ziemlich pleite, einen Job im fernen Berlin annimmt. Dahin will das Mädchen mit Tourette-Syndrom auf keinen Fall. Eva muss dringend Geld besorgen, was mit legaler Arbeit bei der Krankheit nicht so einfach ist.

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Samstags in der City: Doitsche Doppelmutti mit Umschnalldildo

Nazis in Recklinghausen Foto: Indymedia/PD
Nazis in Recklinghausen Foto: Indymedia/PD

Irgendwo ist Schluss, Nationaldemokraten, Autonome Nationalisten und unter welchem Namen Ihr sonst noch durch Recklinghausen marschiert.

Als Ihr am Samstagnachmittag mit 36 Leuten an meiner Wohnung vorbeilatschtet, begleitet und beschützt von Polizeihundertschaften aus Osnabrück und Gelsenkirchen, war ich schon etwas sauer. Der Wohnwert dürfte jetzt erheblich gesunken sein. Da müsstet Ihr Euch doch auskennen, das ist doch immer ein Thema für Euch und Eure Gesinnungskameraden, Stichwort: Flüchtlingsheime in der Nachbarschaft. Gut, andere klagen über Straßenstriche, Kohlekraftwerke oder Jazzclubs.

Dabei war ich gegen 14 Uhr wirklich wohlgelaunt zu der Versammlung am Hauptbahnhof erschienen, bereit zwei, drei Stunden meines Wochenendes für eine unbedeutende Veranstaltung zu opfern. Ich habe mich auch gerne vor Start der Nazidemo von einem Teilnehmer fotografieren lassen, nur getrennt durch ein Polizeiabsperrgitter. Die Frage: „Bist du auch Autonomer?“, war zwar etwas unbedacht,

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Ruhrfestspiele – Ein Rockfestival der 70er Jahre

John Malkovich Foto: © Nathalie Bauer

Manchmal reicht ein Satz um zu wissen: Das kann nichts werden. Regisseur Michael Sturminger haute ihn raus, einen Tag vor der Deutschlandpremiere von „The Giacomo Variations“ bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. „Nur John Malkovich kann Giacomo Casanova spielen“, behauptete er auf der Pressekonferenz. Die anwesenden Journalisten lachten nicht auf, wüteten nicht, sondern kritzelten eifrig mit. Prima, dachte ich, dann können wir unsere Schauspielschulen ja dicht machen und deren Absolventen mit anderen Jobs beauftragen. Vielleicht versuchen die es mal eine Nummer kleiner, mit Hamlet, King Lear, Faust oder so ´nem Kram.

Gut, ich hakte das Gerede ab als völlig unnötige Reklame, denn immerhin war das Gastspiel auf dem Festspielhügel längst ausverkauft. Vielleicht war es auch nur Höflichkeit gegenüber dem grandiosen Schauspieler, der sich auf diese Produktion eingelassen hat. Wenn dann aber noch davon geredet wird, dass die Inszenierung als „work in progress“ zu sehen sei, dass die Sache im Ruhrgebiet damit besser werde als bei der Uraufführung in Wien, dann könnte man als Kulturjournalist schon mal nachfragen, ob da irgendwas schief gegangen ist, ob man sich im

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