November Sun – Gregor McEwan mit neuer CD in der Heimat

Musikjournalismus ist ein verkommenes Gewerbe, etwa so seriös wie Reiseblätter und Autobeilagen der Tageszeitungen. In den gängigen Musik- und Szeneblättern ist es üblich, bei Anzeigenschaltungen auch nette Beiträge zu liefern und für die Aufnahme einer Band auf die CD-Beilage abzukassieren.

Bei dem in diesem Blog völlig überlobten Boris Gott liegt der Fall anders. Die Kollegen mögen ihn einfach, ich auch. Dabei kommt ein wenig zu kurz, dass es noch andere Musik in der Gegend gibt, von anderen Musikern gemacht. Gregor McEwan ist so einer, der kommt aus Haltern, lebt derzeit in Berlin und macht wunderbare Folkmusik. Gerade stellte er sein Debütalbum „Houses and Homes“ vor. Heute Abend spielt er im Bam Boomerang in Dortmund. Den Termin zu verpassen, wäre dumm.

Um auch die eigene Verkommenheit gleich zu enthüllen: Ich habe Gregor McEwan nicht entdeckt – er hat mich adoptiert, vor einigen Jahren. Da war er das Hirn der erquicklichen Britpopband Helter Skelter. Ich hatte ein Konzert besucht, was auffiel, weil ich der einzige zahlende Gast war. Er kriegte raus, dass ich „irgendwas mit Medien“ machte, und schon war ich Pressewart, Berater, Manager oder so etwas bei den Jungs.  Was genau, habe ich bis heute nicht rausbekommen. Was uns nicht davon abhielt, manch schönes Ding zu drehen. So lieferte Helter Skelter den offiziellen Song der Ruhrolympiade 2004. Das brachte zwei laue Konzerte unter Abwesenheit der Sportjugend, dafür in Anwesenheit mäßig interessierter Funktionäre, und die Kohle für eine wunderschöne EP. Gregor McEwan, damals noch Hagen Siems, bekam ein Jahr lang Geld aus dem Sozialfonds der EU, das er als Künstlerstipendium nutzte. Wie üblich, waren die Eltern irritiert. Doch schnell war klar, dass aus dem Typen nix Ordentliches mehr werden könnte. Die Band spielte noch eine Zeit, war gern gesehener Gast etwa im legendären Dortmunder Cosmotopia.  Vor zwei Jahren war Schluss. Maik wurde Polizist, Tim Lehrer, Patrick Sozialarbeiter, Peter ging wieder arbeiten und Hagen nach Neukölln.

Seither kenne ich den Mann nicht mehr wieder. Zwischen jugendlicher Frisch- und Forschheit  und folkigem Songwriterleben liegen gerade mal 24 Monate und 500 Kilometer. Sorgte man sich früher darum, den Kumpel vom Stadtspiegel zu einem netten Artikel zu überreden, rauschen jetzt Besprechungen rein, die aufhorchen lassen. Gregor McEwan wird gelobt, durchweg, und bejubelt, stellenweise. Die NDR-Jugendwelle ist ebenso dabei wie das Schweizer Fernsehen SF2. Dessen Magazin „Music night“ kürt den Erstling des Exil-Ruhris gleich zur CD der Woche, neben dem neuen Ding von Rihanna. Da muss was dran sein.

Da ist was dran. McEwan hat eine  ziemlich perfekt gebaute CD hingelegt, bei der auch das Beiwerk stimmt.  Man kann sich nicht sattsehen an dem zurückhaltend mysteriösen Artwork von OlgaUwaga, einer Designerin, die gerade auf Island lebt. Tiere, Typen und Fabelwesen bevölkern das Booklet von „Houses and Homes“, das sie im Übrigen mit handgeschriebenen Lyrics füllt.

Die zwölf Tracks, keiner davon auf Hit gedrängt, jeder eigenständig, hören sich flüssig durch. Im Pressetext steht was vom Herbst, ich höre Melancholie, lausche kleinen Geschichten, auch über die Heimat am Rande des Ruhrgebiets. Das ist alles nicht die gute alte „Junge mit Gitarre“-Tour, das ist viel feiner komponiert, arrangiert und zusammen gefügt. Richtig war die Entscheidung, im Studio Gesang und Gitarre zusammen aufzunehmen. Das bringt Dynamik, hält die Songs im Fluss und sorgt fast für die Liveatmosphäre eines kleinen Clubs. Gregor McEwans schwarzer Silberling  klingt deshalb anders als Max Mutzke, bei dessen „Can´t Wait Until Tonight“ allein an der Hook bis zu 22 Musikprofis rumgeschraubt haben, um den Künstler anschließend als authentisch zu verkaufen. Rezensenten von „Houses and  Homes“ stürzen sich unisono in Vergleiche mit Damien Rice und Ryan Adams, nicht den schlechtesten Verbündeten im Geiste. Pubertärere Geister oder bekennende Romantiker unter den Kritikern kommen dann noch auf Rilke, man ahnt es, dieses Gedicht mit dem Haus, das sich keiner mehr baut.

McEwan hat ein kleines Album herausgebracht, aber die Songs entfalten immer mehr Größe und Zauber,  je öfter man hinein hört. Dann entdeckt man sinnvoll sparsam eingesetzt Mandoline, Flügelhorn, ein zurückhaltendes Cello, den zärtlich starken Gesang von Tess Wiley. Klänge aus dem Ruhrgebiet,  der großen Sammlung von Richard Ortmann entstammend, zurückhaltend, fast ambienthaft eingesetzt, runden die Stücke ab. Offensichtlich haben sich Künstler und Produzent bestens verstanden. Verantwortlich für die Produktion zeichnet der Hamburger Dinesh Ketelsen, den man ansonsten mit Niels Frevert, Nationalgalerie und Birgit Minichmayr in Verbindung bringt.

So wie die Lieder aufgenommen werden, entstehen sie auch, möglichst am Stück. Kaum hat der Songwriter eine Phrase im Kopf, ein paar Lyrics, setzt er sich an die Gitarre, schläft zur Not noch mal drüber und entscheidet dann am Morgen: Muss er die Arbeit des Abends mühselig rekonstruieren, hat die Idee verloren, wochenlanges Grübeln über Strophe, Bridge, Refrain is seine Sache nicht. Da macht er sich vorab zum Verbündeten der Hörer. Er möchte ihnen keine Sachen zumuten, denen man die Geburtsmühen anhört. Leise funkeln sollen seine Herbstbabys. November Sun. Neukölln, dort vermutet man eher Kirmes-Gangsta-Rap oder arabeske Hochzeitslieder mit Migrationshintergrund. Die zwölf Songs des Debüts sind dann auch eher unterwegs entstanden, am Strand, beim Rumhängen nach Gigs oder noch in der alten Heimat am Ruhrpottrand. Das passt zur Folkmusik. Wovon singt der Typ? Vom Abschied nehmen, vom Reisen und dem Versuch anzukommen. Es ist ein doppelter Abschied, der von Jugend und Kleinstadt gleichzeitig, ein Coming-Of-Age-Album im Rückblick quasi.

Wenn Gregor McEwan über den Alltag singt, in „Pigeon Breeders Club“ etwa, dann ist das kein Bashing, sondern noch immer verstörte Wehmut, die aus den Zeilen spricht. Das Album ist fast symmetrisch. In der Mitte, Titel sieben, „Change is Happening When I´m almost gone“ findet es sein Thema, kommt fast zum Stillstand, als solle der Moment nie vergehen, nimmt anschließend in „A Part of You“ Fahrt auf, um im wüsten Geschrammel der  Stromgitarre zu enden. Die darf ausklingen, sekundenlang, wird nur ganz langsam ausgefadet. Der Reisende Gregor McEwans ist soweit gekommen, im folgenden „Drinking Burgundy“ an einen schwedischen See, dass er ironisch zurückschauen kann. Diese Generation ist mit Oasis groß geworden, da zitiert man schon mal mit dem Glas Burgunder in der Hand am Lagerfeuer „Wonderwall“. Auch Gregor McEwan steht halt auf den Schultern der Riesen, zumindest hockt er dort mit seiner Gitarre.

Gregor McEwan „Houses and Homes“ Ludwig/Indigo, VÖ: 12.11.2010

Live in Dortmund: heute, 16.11.2010, 20 Uhr, Bam Boomerang, Kuckelke 20.

Auf zum Griechenriechen – Tourismusknaller im nördlichen Revier

Das Schicksal spielt der Stadt Herten übel mit. Erst wird man nicht „InnovationCity Ruhr“, verliert gegen Bottrop. Das ist schlimmer als im Wettbewerb „Welche Stadt ist fast so scheiße wie Gladbeck?“ wieder nur den zweiten Platz gewonnen zu haben, weil seit Jahren Gladbeck selbst unter falschem Namen siegt.

Jetzt der nächste Schlag: die 90 Sozialwissenschaftler kommen im Herbst 2011 auch nicht. Sie werden nicht mit dem Segway die Halde runter brettern, keine Radtour im Schlosspark unternehmen und das Dorf Westerholt wäre ihnen auch egal. Wäre, wenn es sie gäbe. Allein, sie sind ebenso wie ihre Tagung in der Recklinghäuser Justizakademie reine Erfindung von mir. Irgendwas musste ich doch erzählen am Samstag im örtlichen Tourismusbüro, um die Qualität der Einrichtung zu testen. Die ist gut. Nur leider merkt es niemand. Wahrscheinlich, weil trotz vergeblicher Innovation und ausplätschernder Hauptkultur.2010 kein Mensch freiwillig nach Herten kommt.

Die Stadt hat es nicht leicht. Früher war sie mal angeblich die „größte Bergbaustadt Europas“, ein Titel, der in den letzten 20 Jahren mit jeder Zechenschließung im Ruhrgebiet weiter gereicht wurde. Den hätte man sich noch auf die Ortschilder pinseln können. Jetzt ist Herten „die größte Stadt Festlandeuropas ohne eigenen Bahnhof“. Zum Kontinentalsieg hat es nicht gereicht, Reykjavik ist größer und ebenfalls bahnhofslos. Sowas pinselt sich niemand freiwillig auf die Ortsschilder. Auch wenn ein paar Kilometer weiter nördlich aus Haltern offiziell ein Haltern am See wurde, nur damit man sich anschließend mit grausamen Wortspielen blamieren kann. Milde Sympathie für dieses Städtchen schlägt in blanken Hass um, wenn man am Ortseingang begrüßt wird von einem Schild mit dem Spruch: „Schön Sie zu Seen“ und folglich, nach Vollbremsung und Kehrtwendung diesem Vergehen gegen das Sprachgesetzbuch entfliehend, auf der Rückseite eben dieses Schildes konsequent weiter verhöhnt wird mit der Wendung: „Auf WiederSeen“.

So fies ist Herten nicht. Herten ist freundlich, leistet sich ein Tourismusbüro auf Zeche Ewald –  kurz vor Wanne-Eickel, dicht bei der Müllverbrennung, dem schön getauften Rohstoffrückgewinnungszentrum der AGR, unweit der Zentraldeponie Emscherbruch, aber die ist schon Gelsenkirchen – an einer Stelle also, an der selbst Herten längst den Versuch aufgegeben hat Urbanität vorzutäuschen. Das Tourismusbüro ist eigentlich schnuckelig, vielleicht etwas kühl jetzt im Herbst. Jedenfalls hat die kurz nach Öffnung aufgeschreckte Mitarbeiterin einen kalten Händedruck und eine verschnupfte Nase. Sie beruhigt, im Backoffice laufe die Heizung. Immerhin. Sie sucht mir den einen Stadtprospekt heraus, 16-seitig, fein gestrichenes Papier, die drei Miniatur-Leporellos zu Spezialthemen und die schöne Schrift zum Schlosspark. Die Clubzeitung des Hertener Tennis  Clubs e.V. greife ich auch noch ab, 76 Seiten, vierfarbig.

Die Dame bemüht sich um meine 90 Sozialwissenschaftler, auch noch als ich fantasiere, dass man sich am Freitagnachmittag in Gruppen aufteilen, verschiedene Orte besuchen wolle. Sie empfiehlt die Mitbewerber, Zeche Zollverein und den Gasometer, da gäbe es 2011 auch wieder eine schöne Ausstellung. Sie bedauert, dass das Hertener Horizontobservatorium auf der Halde nebenan wohl noch länger gesperrt bleibe, gefährliche Risse in der Metallkonstruktion. Und die Wasserstoffräder führen auch nicht mehr, Probleme mit den Kartuschen. Aber mit Citybikes sei man dabei, ich solle doch unbedingt die Fahrradstation im Keller besuchen. Auf dem Weg dahin betrete ich den Lichthof der Lohnhalle und erblicke Schemen einer wahrscheinlich wunderbaren Ausstellung. Mehr ist nicht zu erkennen, der Lichthof liegt Anfang November im Dunklen. Bei 438 000 Euro an europäischen Fördergeldern in drei Jahren muss an der Beleuchtung gespart werden.

Der Fahrradkeller sieht aus wie ein Projekt der Diakonie, bei dem die Wiedereingliederung arbeitsloser Aussiedler gescheitert ist. Dafür kann der nette Mitarbeiter nichts. Ganze zwei Citybikes stehen dort und einige andere mehr oder minder fahrtüchtige Räder. Ich stelle mir die enttäuschten Gesichter meiner Sozialwissenschaftlerhorde vor und verlasse die Tourismuszentrale. Ich entschließe mich zur unbeteiligten Beobachtung vom Parkplatz aus.

11:15 Uhr. Fünf Menschen in Outdoor-Kleidung von links nach rechts, am Tourismusbüro vorbei.

11:22 Uhr. Vier Mountainbiker auf dem Weg zur Halde, ohne Beachtung der Einrichtung.

11:33 Uhr. Schwarzer Kastenwagen des Wachschutzes dreht seine Runde. Fahrer beobachtet mich.

11:40 Uhr. Mann in mehrfarbiger Sportkleidung, begleitet von drei Hunden (Mischlinge?) von rechts nach links.

12:00 Uhr. In der gegenüber liegenden Kochschule tut sich was. Köchin holt etwas aus dem Auto, verschwindet wieder in der Schule.

12:05 Uhr. Die Sonne kommt hervor.

12.27 Uhr. Ein schwarzer Golf rast heran, stoppt vor dem Büro. Mann mit Schnäuzer, Bürstenfrisur, in Tarnklamotten springt heraus. Reißt der Beifahrerin die Tür auf, küsst sie. Frau verschwindet mit Staubsauger und Eimer im Büro.

12:28 Uhr. Der Golf verschwindet. Das Geschehen beruhigt sich. Lektüre der „Hertener Allgemeinen“.  Erste Lokalseite: „Leiche wird mitten auf der Kreuzung umgeladen“. Unfall mit einem Leichenwagen. „Die Unfallfahrzeuge standen ungesichert auf der viel befahrenen Kreuzung, während es draußen dunkler wurde.“

12:37 Uhr. Radfahrer von rechts nach links.

12:38 Uhr. WDR2 berichtet von der Soester Kirmes. Besuchermassen trotz Dauerregens.

12:41 Uhr. Außenrecherche. Im Straßenbegleitgrün ein vermoderndes Werbeschild. „Eiskiste Glück auf. Ab sofort auf Zeche Ewald. 16 leckere Milchspeiseeis Sorten!!!“ Eiskiste trotz intensiver Suche unauffindbar. „Milchspeiseeis“ ergibt ein schönes Schriftbild.

12:51 Uhr. Frau aus dem Golf verlässt das Zechengebäude, geht in die Fahrradstation im Souterrain.

12:55 Uhr. Golf-Frau zurück aus dem Souterrain, mit Wischmopp.

12:59 Uhr. „Hertener Allgemeine“, Umfrage zu den örtlichen Männertagen. „Maurice W. (24) ist Choreographie-Tänzer und dem Programm gegenüber schon deshalb nicht abgeneigt.“ Ein Problem hat er mit den Männertagen: „Da gibt es dann ja gar keine Frauen.“

13:00 Uhr. Tourismusexpertin holt Besen aus der Fahrradstation. Beginnt mit Fegen des Eingangsbereichs. Schaut aufmerksam in meine Richtung. Verstecke mich hinter spannender Lektüre, „The Emscher Landscape Park“.

13:06 Uhr. Fegen beendet. Tourismusexpertin bringt Besen zurück.

13:09 Uhr. Ältere Dame, begleitet von noch älterer Dame (ihre Mutter?) von rechts nach links. „Hertener Allgemeine“, Tagestipp: „50 Jahre Griechen in Herten, 16 Uhr: Schnupperkurs“. Wollte schon immer wissen, wie Griechen riechen.

13:17 Uhr. Ereignisse überschlagen sich. Schwarzer Smart hält vor dem Gebäude. Bekannte ältere und noch ältere Dame von links nach rechts. Die weniger Ältere hat zwei Wanderkarten in der Hand. Wegen Ablenkung durch Zeitungslektüre verpasster Besucher-Peak! Ich lande nie beim Spiegel. Hans Leyendecker würde mich verachten.

13:19 Uhr. Smart-Fahrerin verschwindet mit Pappkarton in der Kochschule.

13:30 Uhr. Abbruch der Beobachtung. Beschämt von meiner Sozialwissenschaftlerlüge und frustriert vom Recherche-GAU.

Bilanz eines Milchmädchen-Sohnes: Das Projekt Tourismusbüro Herten kostet in drei Jahren 438 000 Euro, das sind pro Öffnungstag etwa 480 Euro. Das sind in dreieinhalb Recherchestunden am letzten Samstag 336 Euro.

Wenn in Herten Besucher annähernd so abgerechnet werden wie in vergleichbaren öffentlichen Einrichtungen, habe ich erlebt: Intensives Beratungsgespräch mit Einzelgast, Vermittlung diverser Broschüren, Konzipieren eines Gesamtpaketes für eine Großgruppe, Zusammenstellen eines Rundumpaketes für verschiedene Gruppen, Beratung eines Tourismus-Managers, Ausarbeiten je einer geführten Radtour rund um Herten, auf die Halde, durch den Schlosspark, in die City und nach Westerholt. Aktive Kooperation mit Anbietern in Oberhausen, Essen und anderen Städten, Bildung eines sozialwissenschaftlichen Netzwerkes.

Implementierung eines Mehrgenerationenprojektes unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings, Ausarbeiten verschiedener Wanderrouten, Beratung von Familientouristen, Kooperation mit der Fahrradstation, Konzipierung und Ausführung einer praktischen Einheit zur Erstellung eines Facility-Management-Master-Plans. Hintergrundgespräch mit Journalisten.

Das Tourismusbüro Herten ist also ein Erfolg. Der Besuch der bahnhoflosen Stadt kann nur dringend empfohlen werden, nicht nur zum Griechenriechen.

Tourismusbüro Herten. http://www.tourismusbuero-herten.de/

Marl – durch Abriss zur „InnovationCity Ruhr“

Glückliches Bochum. Es landete bei Städteranking des Manager-Magazins auf Platz 29, wurde Vorletzter vor Chemnitz. Andere Städte der Region traf es in der Vergangenheit härter.

Recklinghausen etwa sah sich schon des Öfteren am Tabellenende, landete bei älteren Erhebungen mit 90 oder 125 Teilnehmern auf Platz 89 oder 124. Noch schlechter dran im Ruhrgebiet sind Randexistenzen wie die Stadt Marl. Die Stadt im Norden des Reviers kennen ältere Fußballfans noch vom einst beinahe glorreichen TSV Marl-Hüls, Fernsehprofis vom Grimme-Preis und Jüngere vom Da-Wegziehen nach dem Abitur. Die Stadt würde allzu gerne nur einmal in irgendeiner Rangliste auftauchen. Sie sollte aufgeben.

Man muss sich der Resignation hingeben, in Demut, der letzten Zuflucht des Stolzes. Denn Resignation ist ein großes Gefühl, leider völlig unterschätzt. Öffentlich will sich niemand ihr zu bekennen. Warum nicht? Marl hätte beste Aussichten  jede Pottgemeinde, die sich derzeit als „Innovation City“ versucht, zu schlagen. Durch ein wirklich innovatives Konzept: Das Aufgeben des urbanen Willens, den Verzicht, das Eingestehen der Niederlage. Marl sollte bei den „shrinking cities“ ein letztes Mal den Versuch unternehmen in einem Ranking weit vorne zu landen durch einen Totalabriss. Sie könnte zur Modellstadt werden für viele andere Gemeinden im Revier, für Bergkamen, Witten oder Gladbeck.

Letzte Woche beim hochkarätigen Festival „TV: Tour de Ruhr“ im Adolf-Grimme-Institut bestand die Chance einen Pakt des endgültigen Untergangs zu schließen. Gut 200 Einwohner sahen Peter Lilienthals Film „Marl – Versuch einer Stadt“ aus dem Jahre 1964, eine großartige Dokumentation über delirierenden Größenwahn, über die normale Stadtplanung der 60-er Jahre halt. Marl kassierte Gewerbesteuern ohne Ende, von den Zechen und den Chemischen Werken Hüls (CWH) und träumte von 160 000 Einwohnern. Derzeit sind es etwa die Hälfte. Meinen beim Festival lässig in den Saal geworfenen Aufruf zur Resignation hockten die Marler in westfälischer Sturheit aus, als sei Verharren schon Aktivität. Sie verpassten ihre Chance.

Lieber verlor man sich in Debattenbeiträgen der dümmsten Art, verwies auf den desolaten Haushalt, den Streit der der Politiker im Rat und steigerte sich in die idiotischste aller Forderungen: Der Jugend müsse mehr geboten werden. Was denn, bitteschön? Trendige Saufräume, hippe Verrichtungsboxen zum fröhlichen Kennenlernen der Sexualität, damit man noch mal ordentlich saufen und ficken kann, bevor man sich nach dem letzten Sommer endgültig zum Studium in einer lebbaren Stadt verabschiedet? Das wäre pure Geldverschwendung, denn zurück kommt keiner. Hans-Christian Ströbele, Sönke Wortmann, Heinrich Breloer, Bernhard Sinkel, selbst Peter Neururer  sind vernünftiger Weise für immer abgehauen. Am anderen Ende des Lebens wird auch nach Jürgen Möllemanns freiem Fall auf dem örtlichen Flugplatz niemand die Stadt zum Venedig des Ruhrpotts erheben, Motto: „Marl sehen und sterben“.

Die Bewohner, als Bürger versteht sich dort offensichtlich kaum noch jemand, müssen sich eingestehen, dass sie vom Kapitalismus belogen wurden. Aus den Ackerdörfern wurde nach 1900 eine Stadt, schließlich brauchten Zechen und später die Chemischen Werke Unterkünfte für ihre Arbeiter, dazu den üblichen Kram, Schulen, ein paar Läden, etwas Verwaltung. Das klang nach dem Zweiten Weltkrieg nach einem Versprechen ewigen Fortschritts, war aber eine Lüge. Was soll man anderes erwarten von Konzernen, die heute ihren Namen, morgen ihren Eigentümer und übermorgen ihren Standort wechseln? Wenn sich Kohle und Chemie nicht mehr rechnen, interessiert die Unternehmer herzlich wenig, was mit ihren ehemaligen Schützlingen passiert. Aus Entlassenen werden ganz schnell Verlassene. Noch sitzt man aus.

Im leeren Zentrum verrottet ein übles Einkaufszentrum aus den 70-er Jahren, an dem jede Stadt, die heute einer Shopping Mall in der City entgegengeilt, lernen kann, wie es dort in 30 Jahren aussehen wird. Nebenan steht ein einst als kühn und modern empfundenes Rathaus, marode, und verursacht Energiekosten, dass man der Stadt nur wünschen kann, noch RWE-Aktien zu besitzen.

Marl hat schon verloren. Einwohner, die Philharmonia Hungarica, Arbeitsplätze, das Wunderauto Loremo, Hoffnung.  Die BASF hat ihre Zeche Auguste Victoria an die RAG abgetreten, in sechs Jahren wird sie geschlossen. Aus der CWH-Wohnungsgesellschaft wurde Veba-Wohnen, wurde Viterra, wurde Deutsche Annington. Tropfte früher der Wasserhahn, stand Stunden später der Klempnertrupp im Badezimmer, heute erhöht die Vermieterin darob die Nebenkosten. Ab und zu wird ein Altbaukasten mit außen angeschraubten Blechbalkonen aufgerüstet, ansonsten verlässt auch der Mietzins die Stadt auf Nimmerwiedersehen.

Vereinzelt macht sich noch Optimismus breit. Entweder bessert sich die Lage wirklich oder jahrelanger Drogenkonsum entfaltet seine Wirkung. Marl ist die einzige Einpendlerstadt im Kreis Recklinghausen. Klingt gut, heißt aber: Die Leute wollen dort zwar arbeiten. Aber da wohnen – um Gottes Willen. Die Kriminalitätsrate ist zurückgegangen. Klingt auch gut, bedeutet aber: Die kriminelle Klasse hat kapiert, dass sie ihrer qualifizierten Tätigkeit anderswo profitabler nachgehen kann. Mit anderen Worten: In Marl ist nichts mehr zu holen ist.

Wäre Marl eine Stadt am Amazonas, einst gebaut um eine jetzt ausgebeutete Kupfermine, sie wäre längst verwaist, der ständige Kampf gegen den Verfall längst aufgegeben. Westfalentum und Subventionen verhindern ökologische und ökonomische Vernunft an der Lippe.

Dabei erfüllte das Aufgeben der Stadt alle Kriterien der „InnovationCity Ruhr“ – der Ort würde nicht auf halbe, sondern auf null Energie gesetzt. Auf den Brachen könnten sich wie gefordert „grüne Firmen“ ansiedeln. Detroit als Stadtleiche macht gerade vor, wie das geht. Eine verwaiste Stadt wäre vorübergehend eine tolle Location fürs Geocaching und wilde Gotcha-Spieler. Später dann und völlig von allein käme man in Einklang mit der Natur. Nicht so schnell wie die üppige Tropenvegetation, sondern langsam und westfälisch gründlich eroberten sich Bruchwälder geraubtes Terrain zurück. Greenpeace und Al Gore würden Urkunden verteilen. Man sollte sofort die Pumpen abstellen und so die Ewigkeitskosten des Bergbaus drastisch reduzieren. Christoph Zöpel hat schon mal in diese Richtung gedacht, leider nur einmalig. Mit dem Ja zur Resignation wäre es vorbei mit dem elendigen Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt kein großer Wille steht.

Als Zöpel noch NRW-Städtebauminister war, hat er den damals schon maroden Stadtkern besucht, dabei das 17-stöckige Hochhaus „Goliath“ besichtigt. Es stand halb leer. Zöpel schlug vor, einfach ein paar Stockwerke abzutragen. Für die Zuschüsse solle man mal im Ministerium anrufen. Die Stadtspitze war schockstarr baff. Aus- und Übersiedler ließen den Klotz mit seinen 153 Wohnungen eine Weile überleben, bevor er endgültig verkam. 2006 wurde er gesprengt. Das wäre ein guter Auftakt gewesen. Was machten aber die Verantwortlichen? Sie räumten den Schutt beiseite und setzten ein Elektrokaufhaus dahin. In einem anderen Stadtteil riss man jetzt drei Hochhäuser aus den 60-er Jahren ab, die anfangs von Zahnärzten bewohnt wurden und später von Menschen, die selten zum Zahnarzt gehen. Die Fläche wird gerade bebaut. Vielleicht gehört zu viel Mut zur Resignation.  Eines macht Hoffnung. Vor dem Film gab es bei Grimmes am Donnerstagabend Biografien der Podiumsteilnehmer. Der städtische Bau-Beigeordnete Wolfgang Seckler führte für die Jahre 1982 bis 1986 den Besuch der Siegener Schule für Technik an, „Abschluss: Sprengmeister Bauwerkssprengungen“.

Der Autor wurde in Marl geboren. Er wuchs dort auch auf.

Umarmt alle Nazis!

Am 9.November wollen die Nazis wieder durch Essen-Borbeck marschieren und, wie schade, der Bochumer „Tortenprozess“ findet am kommenden Donnerstag nicht statt. Neuer Termin ist der 18.11.

Ich liebe Gerichtsveranstaltungen, die jede noch so irrsinnige Barbara-Salesch-Verhandlung toppen. Zum wiederholten Male die Fakten: Martin Buddich, Chef des Blogs bo-alternativ.de, hatte auf eine angekündigte Nazi-Demo mit einer Karikatur reagiert. Ein Comic-Männchen begrüßt die Rechten mit dem Spruch: „Kein Zuckerschlecken für Nazis“ und hält dabei eine Torte in der Hand. Irgendwas brennt auf der Torte, vermutlich eine Kerze oder Wunderkerze. Die Staatsanwaltschaft jedoch erkannte „eine als Torte geplante Bombe mit brennender Lunte“, womit klar war, dass es sich nur um einen Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung handeln kann.

Offensichtlich muss bei denen ein Praktikant am Werk gewesen sein. Nur so lässt sich diese juristische Stümperei erklären. Bombenwürfe auf belebten Straßen, da geht es nicht um eine popelige Körperverletzung. Da geht es um Mord (§211, StGB) und um das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion (§308, 3 StGB).

Erstaunlicher noch ist die Beweisführung. Ich frage mich, über welche grandiosen Bildbearbeitungsprogramme die Juristen verfügen. Ich sehe eine Comic-Torte, sie aber können mit ein paar Mausklicks die tarnende Sahne beiseite wischen und die tödliche Bombe zutage fördern, woraus sie ihren Gewaltvorwurf konstruieren. Ich sollte demnächst mit Fotos im Internet vorsichtiger sein. Da lasse ich mich unbedarft in meiner Lieblingsjeans knipsen, die Jungs jagen mich durch den Computer, entdecken meinen mit einer Hose getarnten Pimmel, und schon bin ich dran wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder schlimmerer Sachen.

Die Torte als Mittel der Notwehr gegen das Nazipack ist wesentlich eleganter als mein jugendlicher Versuch, eine Versammlung der Republikaner zu sprengen. Ich rief damals in ihrem Treffpunkt, dem Dorfkrug an, fragte: „Sind bei Ihnen gleich die Reps?“ – „Ja. Warum?“ – „Ich wollte nur sagen: Bombe!“ Gut, ich saß dabei damals als freier Mitarbeiter einer Lokalzeitung in der Redaktion, als eine halbe Stunde später der Fotograf von Straßensperren, Bulleneinsatz und Terroranschlag berichtete. Nur, um das klarzustellen. Die Aktion ist hoffentlich verjährt und wird jugendlichem Leichtsinn zugeschlagen. Außerdem habe ich nichts angedroht. „Bombe“ war als Adjektiv gemeint, also, ich meine bombe, im Sinne von bombastisch. Scheiße, das Wort war damals noch gar nicht Jugendslang? Immerhin habe ich damals nicht über das selbst initiierte Ereignis geschrieben. Ich habe keinen Pfennig daran verdient.

So sollte man heute nicht mehr gegen unerwünschte Aufläufe vorgehen, nicht nur, weil heute Anrufe leicht zurück verfolgbar sind. Im Gegenteil: Als Normalbürger oder Normalempörter sieht man Naziaufmärsche viel zu selten, werden die doch hermetisch und weiträumig abgesperrt. Ich habe mir das einmal angetan, habe mich an einen Fotografen gehängt und als Journalist ausgegeben. (Mist, das ist noch nicht verjährt.)

Es war in Düsseldorf, kurze Einweisung der Polizei. Es gab eine rote Linie. Bis zum Polizeikordon, der die Demo einrahmte, garantierte man für meine Sicherheit, näher dran an den Nazis agierte die Presse auf eigene Gefahr, die angebliche Presse erst recht. Ein armseliges Häufchen bewegte sich am menschenleeren Rheinufer entlang. Zur Hälfte sah das Pack aus wie unterwegs zur Lederparty im Gayclub,  zur anderen Hälfte schritt es damals schon dem geistigen Hartz IV entgegen. Man nutzte die immer wieder angeordneten Marschpausen, um aus dem tarnfarbenen VW-Bulli heraus Sprüche wie: „Hoch die na-ha-hationale Solidarität!“ zu skandieren. Parolenklau kann ich nicht leiden.

Höhepunkt war die Kundgebung vor dem Innenministerium. Auftritt einer sehr älteren Dame, die offensichtlich vormittags noch mal beim Friseur war für ihren Auftritt. Typ Gauleiterwitwe, die ein Kleid trug, das ursprünglich mal für Führers Geburtstag gedacht schien. Sie begrüßte die Meute mit den Worten: „Liebe junge Freunde. Ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind. Aber können Sie sich nicht mal etwas Ordentliches anziehen?“ Da musste ich, diesseits der roten Linie, doch schon leise lachen und der Regierungspräsident Jürgen Büssow neben mir auch.

Still dachte ich mir: Wenn du jünger wärst und politischer Analphabet, würdest du hier mit marschieren. Es gibt doch wohl nichts Geileres, als mit so einem Jammerhaufen Samstag für Samstag eine Großstadt lahmzulegen. So viel Effekt mit so geringem Einsatz erzielst du nicht mit Graffiti, dem Rumkratzen auf S-Bahn-Scheiben und auch nicht als Fußballhooligan. Und abends kannst du dir zufrieden mit Billigalk ein paar von deinen wenigen Resthirnzellen wegballern.

Es nervt aber, ständig auf den nächsten Naziaufmarsch reagieren zu müssen. Vielleicht will ich samstags mal einfach nur zuhause ein gutes Buch lesen, die Wand angucken oder meine Ruhe haben. Vielleicht will ich nicht ständig als Künstler von irgendeinem DGB-Vorsitzenden moralisch zur Mitwirkung auf eiskalter Bühne verpflichtet werden und nachher mitbekommen, wie der dem letzten Ordner und dessen Ehefrau dankt, aber die Musiker vergisst, die sich die klammen Finger an der Gitarre wund gespielt haben. Vielleicht will ich mich nicht von irgendwelchen Nazis zwingen lassen, sie jedes zweite Wochenende auch öffentlich scheiße zu finden.

Reflexhafte Demos von Antifaschisten und Antirassisten haben sich überholt. Wir sollten es vielleicht am 9.November in Essen mal mit einer Neuinterpretation der „Free Hugs Campaign“ versuchen, mit den Gratis-Umarmungen, im entsprechenden Retro-Outfit, mit Scheitel und Bärtchen. (Mein Foto entstand absichtlich im scheußlichen 70-er-Jahre-Badezimmer, um jedem Vorwurf der Verherrlichung durch Armseligkeit zu begegnen.) Verblüffte oder peinlich berührte Nazis wären mir eine große Freude. Alternativ werfe ich auch gerne Unterwäsche und kreische.

Als gastfreundlicher Mensch wollte ich den Nazis bei ihrer letzten Demo vor meiner Wohnung derart festlich zurecht gemacht einen netten Empfang bereiten, ihnen winken und ein freundliches “Willkommen!” zurufen. Ich bekam dann doch Zweifel. Entweder sie nehmen mein Outfit ernst und rennen mir die Tür ein oder sie verstehen die Satire und treten sie ein. Beides keine gute Perspektive fürs Wochenende. Im letzten Moment merkte ich, dass es die Antinazi-Demo war, die an meinem Wohnzimmer vorbei zog.

Beim Ruf nach der „nahahationalen Solidarität“ kam mir der Gedanke, es nicht mit Gegenparolen zu versuchen, sondern mit dem Urheberrecht. Storch Heinar ist  der viel zu schüchterne Versuch, Symbolen der Rechten zu begegnen. Nicht ironisch brechen, kaufen muss man das Zeug. Die sichtbaren Buchstaben der Marke Lonsdale, jenes „NSDA“, schützen lassen. „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus“, alle denkbaren, straffreien Abwandlungen des Hakenkreuzes und anderen Müll beim Patentamt eintragen lassen. Sobald es rudimentär musikalisch wird, das Zeug bei der GEMA anmelden. Anschließend bei jeder Demo Lizenzgebühren kassieren und notfalls Abmahnungen rausschicken. Glaubt mir, selbst Hirnlose kann man zur Not immer noch an der Geldbörse erwischen.

Mein Traum bleibt die aktive Förderung des internationalen Rassismus. Jede Nation, vermeintliche Rasse, ethnische Großkotzgruppe beansprucht für sich die Nummer Eins. Vizeweltmeisterschaft wird vielleicht im Fußball noch gefeiert, bei Blut und Genen ist der Zweite schon der erste Verlierer. Oder hat jemand jemals gehört, dass ein Nazi grölt: „Deutschland, Deutschland, über alles, ok, außer Amerika“? Die Heinrich-Böll-Stiftung könnte den Rassisten-Worldcup fördern, irgendwo im entvölkerten Mecklenburg-Vorpommern. Die Teams, Faschisten, Rassisten und unbedingt auch religiös Größenwahnsinnige, könnten offen gegeneinander antreten, unter selbstbestimmten Regeln. Gruppenphase, Zwischenrunde, Halbfinale, Finale. Mit Wetten ließe sich eine Menge Kohle machen. Ich würde blind auf das Finale setzen „Ostdeutschland gegen Taliban“. Ich fürchte aber, dieser „Clash of Civilizations“ fällt aus. Es wird sich einfach kein Sponsor finden. Ich hätte doch einfach nur gerne mal ein ruhiges Wochenende.

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Wattenscheider Schule: Ein Schauspieler und ein Journalist ziehen in die Welt…

Wattenscheider Schule live Foto: Matthäus Dolibog

Max beklagte in einem Kommentar die Lieblosigkeit im gestrigen Text über die Wattenscheider Schule. Er mag in der Tendenz Recht haben. Denkt man, wenn man den Text liest. Ein Schnellschuss. Stefan Laurin ist kein Kulturkritiker. Das war ein grandioser Abend am Mittwoch in der Rottstraße. Nach kleinen Vorpremieren gab es die Wattenscheider Schule erstmals bei einem Heimspiel, das immer als Auswärtsspiel zählen wird, im Herzen der Bochumer Innenstadt.

Schlange und Joswig, gebürtige Gesinnungswattenscheider, erzählen die Geschichten aus dem Revier und bereisen aus dem Revier heraus die Republik. Reportagen sind das angeblich, so sehen diese Stories auf den ersten Blick auch aus. Faktensicher, in der Zeit und mehr der Wahrheit als der Wirklichkeit verpflichtet, stehen sie dabei ganz nebenbei in der Tradition von Egon Erwin Kisch, der die Wirklichkeit gerne mal der zu erzählenden Wahrheit unterordnete. Wenn ab Neujahr von der Nachhaltigkeit der Ruhr.2010 wenig übrig geblieben sein wird, werden die Reportagen der Wattenscheider Schule weiter zu lesen sein. Man kann nur hoffen, dass es sie auch weiter zu hören gibt. Wenn sich Koloniebewohner, Taubenväter, Stahlkocher und Bergleute endgültig verabschiedet haben, wird der Kern des Ruhrgebiets übrig bleiben: Haltung.

Das Duo ist genial, nicht nur bei den Lesungen, die nie die erzählenden Typen hinter den Texten verstecken. Ein Schauspieler und ein Journalist ziehen in die Welt und setzen sich den Absonderlichkeiten des modernen Lebens aus, bleiben stets Außenseiter, Loser, auch oder gerade in der Masse. Dazu wenden sie wirkungsvoll einen simplen Kunstgriff an, der nun mehr Schauspiel ist als Journalismus. Das Duo Bastian Schlange und Patrick Joswig inszeniert das Duo Schlange/Joswig. In ihren Texten umgehen sie das reporteronkelhafte: “Wir… betreten den Raum”, wenn der Schreiber eigentlich sich meint, aber um jeden Preis das peinliche “Ich” vermeiden will, und verfallen auch nicht in das nicht weniger dumme “der Berichterstatter schaut verwundert”, um eine leere Hülle der Objektivität vorzutäuschen. Sie schreiben von sich in der dritten Person, aber diese beiden Dritten sind fein und genau gezeichnet, irgendwie tölpelig, versoffen oder verkatert, zumindest vollkommen verpeilt. Das leben sie nicht nur im Außen-, sondern auch im Binnenverhältnis aus. Mal trägt der eine zum Ärger des anderen die nützlichen langen Unterhosen beim Auswärtsspiel der SG Wattenscheid, mal zeigt einer sich als Festivalprofi (“Jesus Freaks”) und packt die rettenden Flipflops ein. Und wechselseitig hilft man sich bei alkoholgeschuldeten Aussetzern weiter. Was da im einzelnen Pose und was Geschehenes ist, bleibt uns Zuhörern verborgen. Egal. Wichtig ist die Story, denn, das wusste schon Alfred Polgar: “Geschichten werden niemals richtig erlebt, nur manchmal, sehr selten, richtig erzählt.” Das tun die Beiden.

Erstaunlicherweise entsteht gerade aus ihrer charmanten Deppenperspektive der klare Blick des inszenierten Außenseiters. Das ist ein alter Comedian-Kunstgriff: “be vulnerable”, sei angreifbar, verwundbar. So funktioniert Komik. Journalismus ist eher das Gegenteil.

Die Wattenscheider interessiert die Masse, und auch hier steht, scheinbar widersprüchlich, der Außenseiter im Fokus. Sie fahren mit der SG Wattenscheid im Linienbus zum Auswärtsspiel statt in der Schalker Nordkurve zu stehen, besuchen die Jesus Freaks statt beim Hurricane abzuhängen und betreten die absonderliche Welt des Halterner Prickinghofs, wo andere Disneyland ansteuern würden. Entsprechend ist das Personal der Reportagegeschichten, eher abwegig, seltsam, verloren. Über die Schönen und Reichen der Republik sollen andere schreiben, die aus Frankfurt kommen, oder aus Düsseldorf.

Das großartige Label der “Wattenscheider Schule” scheint weniger Gag als berechtigte Einordnung. Komisch wie die Neue Frankfurter Schule, Pop wie die Hamburger Schule und Philosophie wie die Mutter aller Schulen, die Frankfurter. Wer das Reporterduo ergründen will, schaue nur einmal in Siegfried Kracauers “Ornament der Masse”.

Kritik soll auch sein, gerne. Vor Veröffentlichung sollte an seine Texte noch einmal gegenlesen lassen. Es sind Winzigkeiten. So gibt es zu Bauer Ewald eben keine Butter-, sondern Kaffeefahrten, beides ist beileibe nicht synonym. Ein Jungsozialist würde im SDAJ-Pfingstcamp nicht viel Freude haben, gemeint ist auch ein junger Sozialist. Das sind Lächerlichkeiten, da zuckt der Klugscheißer kurz beim Zuhören. Wirklich schade ist, dass Joswig und Schlange manchmal ihren Texten nicht trauen. Der schmierige Kellner vom Prickingshof etwa muss nicht auch noch “menschenverachtend” gucken. Der Text hat uns längst verraten, was dort geschieht. (Dieser Absatz sollte vor allem der Glaubwürdigkeit der Kritik dienen, bewahrt er doch den Lehrsatz: Nie mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit der Guten.)

Der Rezensent hat alle drei Lesungen der Jungs nüchtern mitbekommen. Er hat jedes Mal in den vermeintlich bekannten Texten Neues entdeckt. Jede Lesung war besser. Am Mittwoch mussten wir die Veranstaltung leider kurz vor Schluss verlassen, es gab noch eine Geschichte zu erleben in Dortmund.

Her mit der Kohle! – Die RAG-Stiftung könnte kippen

Es gibt Menschen, die sollten das bergmännische Arschleder besser vor dem Gesicht tragen, Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle etwa, und EU-Kommissar Günther Oettinger.

Was beide in der letzten Zeit geleistet haben, um die Zechen an der Ruhr vorzeitig absaufen zu lassen, kann allenfalls der Ruhr.2010 gefallen. Die Kohlefeinde sorgen nämlich für die in der Kulturhauptstadt vermisste Nachhaltigkeit. Ruhrtriennale und Extraschicht könnten bald schon neue Spielstätten beziehen, ehemalige Pütts für Ausstellungen, Oper und Kreativwirtschaft genutzt werden. Nur haben die Jungs die Rechnung ohne mich gemacht.

Unbestritten vorbei sind im Pott die goldenen Zeiten. Damals waren alle auf Zeche. Da war die Berufswahl für junge Menschen kein Problem. Die Mädels wurden irgendwas, und für Jungs  galt: Wenn du was mit Tieren machen willst – ab auf Zeche zum Grubenpferd. Wenn du mehr mit Menschen arbeiten willst – ab auf Zeche, nach Schicht den Kumpels den Rücken schrubben. Und wenn du eine künstlerische Ader hast – ab auf Zeche, damit du mal auf vernünftige Gedanken kommst.

Als durchschnittlicher Kabarettist bist du heute auf mehr Schachtanlagen angefahren als je ein Bergmann zuvor. Bei mir waren es: Zollverein, Zollern, Minister Stein, Zeche Carl, Prinz Regent, Haard, Hansa, Prosper Haniel, Waltrop, Auguste Victoria und das Bergbaumuseum. Gut, letzteres zählt nicht, das ist ein umgebauter Schlachthof, und auf Auguste Victoria habe ich richtig malocht, übertage im Eisenlager. Gut, das war ein vierwöchiger Ferienjob. Aber immerhin bin ich auf dort Ehrenhauer.

Damit beginnt das Problem für Brüderle und Oettinger. Im Kleingedruckten des Ehrenhauerbriefs steht nämlich: „Diese Ehrung ist nicht mit Rechten, sondern nur mit Pflichten verbunden.“ Ich nehme so etwas ernst und fühle mich verpflichtet, am Kohlekompromiss festzuhalten, am vereinbarten Ausstieg im Jahr 2018.

Ganz Deutschland jubelt, wenn in Chile 33 Kumpels nach 69 Tagen gerettet werden, übersieht darüber aber total und gerne, dass in der Zeit in China rund tausend Bergleute ums Leben gekommen sind. Während der politisch Korrekte streng darauf achtet, dass unsere Nelken in Kolumbien ausschließlich von glücklichen Kindern gepflückt werden, interessiert das große Krepieren in China keine Sau. Mich schon. So sehe ich mich zur Notwehr gezwungen. Die Zechen an der Ruhr müssen gerettet werden.

Eigentlich gehört die RAG-Stiftung mir. Solange es im Ruhrbergbau gut lief, habe ich mich nicht weiter darum gekümmert. Jetzt scheint es an der Zeit, brisante Papiere aus dem Giftschrank zu holen. Bekanntlich haben 2007 die Alteigentümer ThyssenKrupp, E.ON, RWE und ArcelorMittal ihre Anteile an der Ruhrkohle für jeweils einen symbolischen Euro an die Stiftung abgetreten. Für sie ging die Rechnung auf, hofften sie doch, sich so um die immensen Ewigkeitskosten der Nachkohlezeit zu drücken. Durften sie das? Nein, denn ihnen lag ein wesentlich besseres Angebot vor. Per Einschreiben vom 30.12.2006 bot ich jedem Eigentümer fünf Euro für seinen Anteil am Unternehmen, also satte 400 Prozent mehr als der kniepige damalige RAG-Chef Werner Müller.

Mein Hinweisim Angebot: „Gerade in Hinblick auf die Interessen Ihrer Anteilseigner sollte man in heutigen Zeiten darauf bedacht sein, anvertrautes Vermögen nicht unter Wert zu verschleudern“, konnte durchaus als milde Drohung verstanden werden. Wer auf einen solch fetten Mehrgewinn ohne Not verzichtet, sieht sich schnell dem Verdacht der Untreue ausgeliefert. Man stelle sich nur vor, Manager eines Konzerns verscherbelten eine Unternehmenssparte für eine Milliarde, obwohl ein anderer Investor fünf Milliarden bietet. Sie säßen längst auf der Straße oder im Knast.

Dem damaligen RAG-Chef Werner Müller bot ich in aller Freundschaft eine Weiterbeschäftigung an: „Ich möchte Ihnen versichern, dass ich Ihre Politik, im engeren Sinne Geschäftspolitik, nahezu vollkommen stütze. Sie haben gerade zu dem öffentlichen Geschrei um eine vermeintlich zu hohe Subventionierung des deutschen Bergbaus die richtigen Worte und den richtigen Ton getroffen. Da merkt man den Musiker.“

Weiter hieß es: „Ich hoffe, Sie auch für eine Mitarbeit der alternativ von mir zu gründenden Stiftung gewinnen zu können. Nur mit Ihrer Klarsicht wird auch der Börsengang zu bewerkstelligen sein. Nur über das scheußliche BVB-Trikot sollten wir bald Einigung erzielen.“ Der letzte Satz bezog sich auf das grauenhafte Sponsorenlogo auf den Trikots, jenen obskuren Würfel mit Fragezeichen.

In einem wesentlichen Punkt unterschied sich mein Konzept von Müllers Ideen. „So sollte der Bergbau m.E. möglichst lange weitergeführt werden. Das senkt die Ewigkeitskosten und erhöht die Planungssicherheit. Sie werden rasch verstehen, dass Kosten, die ein laufender Bergbau verursacht, Betriebskosten sind und eben keine Ewigkeitskosten. Jeder Euro, der so etwa der Wasserhaltung eines laufenden Betriebes dient, entfällt bei den Ewigkeitskosten nach Stilllegung.“ Je kürzer die Ewigkeit, desto billiger wird sie.

Werner Müller hielt sich bedeckt, Arcelor-Boss Lakshmi Mittal ebenfalls. Für die anderen Angeschriebenen, Ekkehard Schulz (ThyssenKrupp), Harry Roels (RWE) und Wulf Bernotat (E.ON), war die Festtagsruhe schlagartig vorbei. Sie setzten umgehend ihre Juristen in Marsch. Zehn Tage später, am 9.Januar 2007, starteten sie ihre Abwehrschlacht. Schriftlich teilten die E.ON-Juristen mit: „Die Aktionäre haben ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt, die RAG-Aktien unter bestimmten Voraussetzungen zu einem symbolischen Preis an eine Stiftung zu veräußern. Dadurch soll der RAG eine Zukunft als integrierter Industriekonzern ermöglicht werden. Eine Zukunftssicherung der RAG setzt insbesondere das fortdauernde Engagement der öffentlichen Hand als Subventionsgeber voraus, mit der auch das Erwerbskonzept abzustimmen ist. Eine freie Veräußerung an Dritte kommt damit nicht in Frage.“

Das lange Zitat ist leider notwendig. Denn abgesehen davon, dass es eben darum ging, den Aktionären mein bis dahin unbekanntes Angebot zu unterbreiten, was der verdammte Job dieser Manager gewesen wäre, hat die Absage einen brisanten Schönheitsfehler: Die Briefe der Unternehmen waren völlig identisch.  Alle drei Konzerne argumentierten unübersehbar exakt gleich, antworteten bis auf den Punkt wortgleich. (RWE wählte einen anderen Schlusssatz: „Ihr Angebot müssen wir daher ablehnen.“). Hier haben sich also Konzerne zum Schaden ihrer Aktionäre zu einem Kartell zusammen geschlossen, um ein ungeliebtes Angebot auszubremsen. Somit scheint das gesamte Konstrukt der RAG-Stiftung fraglich.

Bevor Stümper wie Oettinger und Brüderle alles vermasseln und die IGBCE hilflos in Kundgebungsfolklore verfällt, melde ich mich zurück. Die für die Übernahme bei der Sparkasse Dortmund angelegten Sparbücher liegen unberührt im Schreibtisch. Zu den fünf Euro dürften sich satte Zinsen im zweistelligen Centbereich gesellen. Es liegt mir nichts an einem aufwendigen Kartellverfahren. Mir liegt alles an der Zukunft der Kumpels. Ich bin gesprächsbereit. In diesem Sinne: Glück auf! – Oder, wie es moderne Manager in Englisch formulieren: luck up!

Vom Wirzen und Unszen – Never-ending Integrationsgelaber

Hat vielleicht noch irgendjemand irgendeine Meinung zur Integration? Es wäre doch jammerschade, wenn die Kette Sarrazin-Wulff-Seehofer abreißen würde. Was denken eigentlich ADAC, der Sauerländische Gebirgsverein und die Ornithologische Bundesvereinigung zu dem Thema? Kommt da nichts mehr, müssen wir uns, wo es gerade so schön zur Sache geht, einer neuen diskutier- und diskriminierbare Minderheit zuwenden? Interessant wäre doch mal wieder eine hochrangige Debatte um luxuriös subventionierte Bergbauern, faule Beamte oder die leider völlig unterdiskutierten Sorben, jene völlig vernachlässigte Minderheit in der Gegend von Bautzen.

Aber wir bleiben bei den Migranten. Putzig als Neueinsteiger kam am Wochenende Horst Seehofer rüber. Deutschland brauche keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen, warf er ein. Putzig deshalb, weil Seehofer Ministerpräsident ausgerechnet jenes Bundeslandes ist, das Jahrzehnte nicht nur vom Geld und der Kohle aus fremden Kulturkreisen gelebt hat, aus Nordrhein-Westfalen in dem Fall, sondern auch vom zugeflossenen Humankapital von Rhein und Ruhr. Unvergessen die BMW-Kampagne: „Jupp, komm nach Bayern“, mit der man Ruhris in den Süden lockte, damit die den Bauern mal zeigen, wie Industrie geht. Aber das war eine Zeit, in der Seehofer sich vielleicht schon in Stammtischparolen übte –  mit dem Unterschied, dass er da noch kein Amt hatte.

Den Trubel um Christian Wulffs Feiertagsrede verstehe ich so ganz nicht. Da war ein anderer Bundespräsident, Johannes Rau, vor zehn Jahren mit seiner Berliner Rede schon zwanzig Jahre weiter. Nur leider wurde sein Debattenbeitrag im Gegensatz zur ruckeligen Hotelansprache seines Vorgängers Herzog kaum beachtet. „Die Freiheit des Glaubens und der Religion gilt für alle Menschen in unserem Land, nicht nur für Christen“, sagte Rau. Am Abend stand die Rede im Internet, übrigens gleich auch in türkischer Sprache. Im Jahr darauf besuchte er als erster Bundespräsident eine deutsche Moschee, die Fatih-Moschee in Marl. Geht doch.

Christian Wulffs Rede war im Feiertagstrubel an Banalität kaum zu überbieten. Der Islam gehöre auch zu Deutschland – ebenso gut hätte er sagen können, dass in der Pommesbude an der Ecke neben Currywurst mittlerweile auch der Döner dazu gehört. Die Aufregung indes war so groß, als hätte der Präsident behauptet, Deutschland sei Teil des Islam oder hätte irgendwie den Moslems die Schuld an Stuttgart21 in die Schuhe geschoben.

Völlig untergegangen ist auf dem Weg von Wulff zu Seehofer ein Beitrag meines katholischen Lieblingsbischofs Franz-Josef Overbeck, Chef des Essener Kleinstbistums. Da bin ich Lokalpatriot. Der Mann stammt wie ich aus Marl. Als mir vor gut 25 Jahren Franz-Josef Overbecks Vater, ein Bauer, Schnapsbrenner und Grundbesitzer, eröffnete, dass ein Sohn Priester werde, reagierte ich spontan und ergriffen mit der Frage, ob er da denn nicht traurig sei, wegen der ausbleibenden Enkelkinder. Freundlich formuliert weiß ich seither um die Kraft westfälischer Volksfrömmigkeit.

Deshalb lese ich vom Ruhrbischof immer gerne. Es war schon ein starker Medieneinstieg, wie er bei Anne Will cool dozierte, was katholische Lehrmeinung zur Homosexualität ist. In der Islam-Debatte ist er leider untergegangen. Wenn man der WAZ Glauben schenken will, und das sollte man in religiösen Fragen, sagte der Ruhrbischof, immerhin anerkennend: „Deutschland ist sehr klassisch kulturell vom Christentum geprägt – seit der Reformation von der evangelischen und der katholischen Konfession. Das Judentum ist eine wesentliche Quelle des Christentums“, der Islam hingegen sei erst 600 Jahre später gekommen. Mal abgesehen davon, dass danach das Evangelische auch etwa 800 Jahre Verspätung hatte, denke ich bei dieser Formulierung sofort an Gorbatschows Wort vom Zuspätkommen und der daraus erwachsenden Lebensstrafe.

Dann wird Overbeck auf merkwürdige Weise tolerant: „Insofern gehören Menschen anderer Konfessionen und die Menschen, die keine religiöse Überzeugung haben, selbstverständlich mit zu uns.“ Das nehme ich persönlich. Was erlauben Overbeck? Mir als Gottfreien generös und tolerant zu attestieren, dass ich mit zu „uns“ gehöre? Wer ist „uns“? Welches „Wir“ erlaubt sich so von oben herab, Menschen, die nicht katholisch sind, mit an den Katzentisch zu bitten, wenn bei einer wundersamen Brotvermehrung mal wieder ein paar Krumen übrig bleiben? Und dann gehören für den Bischof diese Menschen nicht einmal „zu uns“, sondern lediglich „mit zu uns“. So wie die Migranten lange nicht als Bürger, sondern als ausländische Mitbürger galten. Ich mag so ein Unszen und Wirzen nicht. Ich habe um die Gnade des Mitdazugehörens weder gebetet noch gebeten.  Ich gehöre nicht zu euch. Im Gegenteil, ich bin aus dem Verein ausdrücklich ausgetreten, obwohl ich mich nicht erinnere, jemals eingetreten zu sein. Unsere Gesellschaft ist  „stärker säkularisiert, als viele wahrnehmen“, um noch einmal Johannes Rau zu zitieren.

Es ist vielleicht schwer sich daran zu gewöhnen. Aber wenn der Gott, an den  man als Katholik so glaubt, wirklich allmächtig ist, dann hatte er, als er Moslems, Schwule, Religionslose, Schalker, engagierte Verteidigungsminister-Gattinnen und andere missliebige oder nervige Randgruppen  schuf, nicht einfach nur einen schlechten Tag. Schwer vorzustellen, dass deren Existenz für die „Unszer“ so eine Art globale Hiobsgeschichte sein sollte. Wenn Gott recht bei Trost ist, wovon ich als Katholik ausginge, dann hat er all diese Anderen bewusst in die Welt gesetzt, weil ihm vielleicht eine Monokultur von unverheirateten katholischen Priestern und ihren Freunden wahnsinnig auf den heiligen Geist gegangen wäre.

Johannes Rau: Berliner Rede

Wo warst du am 3.Oktober? Geburtstagsnachlese

Vor zwei Tagen war wieder Montagsdemo. Da denkt man nostalgisch an die großen Leipziger Montagskundgebungen von 1989, steht aber inmitten acht erregter Menschen vorm Karstadt in Recklinghausen.

Die reden engagiert über Atomkraft, Stuttgart, „Bahnvorstand Gruber“, ein Dattelner Kohlekraftwerk, Afghanistan, Vorstände und Filz, schlimme Fernsehanstalten und Busfahrten, die um 4.30 Uhr nach Berlin gehen.  Mit wechselnden Rollen und einem Ansager in Radlerhosen, die man nicht sehen möchte, jedenfalls nicht an diesem Mann. Die Veranstaltung ist großartig. Christoph Schlingensief würde weinen vor Freude.

Aber Recklinghausen ist nicht Leipzig, sondern eine zwar hübsche, aber völlig unbedeutende Stadt im Westen, im Norden des Ruhrgebiets, eine Stadt, deren Süden so aussieht wie man sich den Osten der Republik vorstellt, wenn man noch nie da war. In dem man Ostalgiefilme drehen könnte, was in manch aufgehübschter Gegend des realen Ostens heute kaum mehr möglich ist. Was ist geblieben von der DDR außer grauer Montagsdemo, grünem Ampelpfeil und Rotkäppchensekt? Die Erinnerung.

Da wäre ich bei der Frage: Wo warst du am 3.Oktober? Ich meine nicht vorgestern. Ich meine jenen Tag 1990, den wir heute noch feiern, in Recklinghausen mit einer Kranzniederlegung für die Maueropfer, man beschränkt sich hier auf das Wesentliche, der Rest der DDR und was danach kam, kommt später dran. Noch ehe Antworten eingehen, behaupte ich mal: Zum 9.November im Jahr davor fällt einem mehr ein. Ich erlebte den Beginn des Vereinigungstages auf dem Busbahnhof von Bursa/Türkei, ein Uhr Ortszeit, auf einem kleinen Fernseher sah man das Feuerwerk am Brandenburger Tor, die Leute interessierte das kaum weniger als mich. Am Abend landete ich im feiertagsverwaisten Düsseldorfer Flughafen, wartete unten im alten Bahnhof auf die S-Bahn, vielleicht vier, fünf Fahrgäste, etwas Personal. Man hört, hallig, aus dem Fußgängertunnel das harte Schnarren von Kofferrollen. Es wird lauter. Die Rheinbahner klettern aus ihren Kabinen, wenden sich rückwärts, im Tunnel erscheint: Heinz Kluncker. Sie fallen innerlich auf die Knie und lesen Messen. Ich sage: „Hallo, Heinz!“ (Für Jüngere: Heinz Kluncker, prominenter ÖTV (für noch Jüngere: was heute verdi ist)-Vorsitzender von immenser Statur (wieder für Jüngere: So wie Helmut Kohl, nur mit Power), 11 Prozent Lohnabschluss 1974.) Willkommen in der alten Bundesrepublik!

Mein plump vertraulicher Gruß war gestattet, ich hatte Kluncker kurz zuvor in der ÖTV-Bundesschule am Wannsee getroffen, an dem Festtag, der am 3.Oktober als Kirmes wiederholt wurde, am 1.Juli 1990 also. D-Day. Die D-Mark kam, die DDR war im Arsch. Da sind meine Erinnerungen vielfältiger. Vorabend, Treffen in einer Penthousewohnung in Ost-Berlin, Sonderobjekt, Eigentümerin C.B., Schriftstellerin, partei- und krenznah. Spanisch sprechend, wendefähig. Vermietete sich in selbiger Nacht an ein spanisches TV-Team, doppeltes Honorar, Angebot und Nachfrage… Auftritt eines Mannes mit Alukoffer, erkundigt sich nach Bankschaltern, die um 22 Uhr noch geöffnet sind, letzte Gelegenheit, 15 000 DDR-Mark günstig in künftiges Westgeld zu investieren. Alle außer mir sind in der SED. Ich, der Tochter der Wohnungseignerin nicht abgeneigt, unterschreibe die rückdatierte Gründungsurkunde eines Sozialvereins, als siebtes Mitglied. Solcher Vereine waren plötzlich viele in Berlin, Hauptstadt. Sie kümmerten sich nebenbei um arme Kinder und Witwen, hauptsächlich versorgten sie ungelernte Kinder der Kader mit lukrativen ABM-Stellen. BAT 2 (Ost), dafür mussten Facharbeiterinnen in den Treuhandbetrieben, die ab morgen arbeitslos sein sollten, schon lange das Arbeitsamt bescheißen. Willkommen in der neuen Bundesrepublik! Für die Unterschrift schäme ich mich heute noch.

Danach ab ins Getümmel. Freund Ingo nur knapp einer polierten Fresse entgangen, sah wohl irgendwie punkig aus. Deutsche Bank am Alex, kurz nach Mitternacht. Kollabierte DDR-Bürger hinter Glas, den frischen Hunderter noch in der Hand. Irgendein Kellerinstitut der Humboldt-Uni. Kino Babylon an der Volksbühne. Geile Party, FDJ-Fahne geklaut, habe ich heute noch, und eine Trabi-Anrechtskarte. Das war der strukturelle Nachteil der DDR etwa gegenüber dem Christentum. Das Paradies kannst du dir bis an dein Lebensende ausmalen, der Trabi stand nach neun Jahren vor der Tür. Und im Westfernsehen holte derweilen Rainer Günzler den neuen BMW 318 aus der Kältekammer. Später ins Tacheles, zum letzten Mal eine Club-Cola mit DDR-Mark bezahlt. Abends auf dem Weg zur ÖTV-Schule (Heinz Kluncker…) vom Taxifahrer im Westen fast rausgeschmissen: „Alles Bonzen in der Gewerkschaft!“

Die DDR war mir immer wunderlich. Je näher ich sie kennen lernte, desto wunderlicher wurde sie mir.

Dienstag, 13 Uhr. Große Wachablösung, Alte Wache, Unter den Linden, Tschingderassassa und Stechschritt. Feixende und grölende Schülergruppe aus dem Ruhrgebiet. Energischer Anschiss eines Stiernackens im Publikum. Bautzen und Sibirien vor Augen, verstummt die Gruppe spontan. Bei der Ausreise später stellt sich heraus, der Stiernacken kam aus Bayern. Systemüberschreitender Militarismus.

Grenzübergang Marienborn. Ein abgerockter Renault 14. Insassen: Die Studenten Eichhorn (später „Pigor singt, Benedikt  Eichhorn muss begleiten“) und Kaysh. Grenzsoldaten, mürrisch. Vorzeigen  des „Visums zur mehrmaligen Ein- und Ausreise, gültig für alle Bezirke“. Mit Gruß der Leitung des Institutes für Allgemeine Geschichte des ZKs der SED. Grenzsoldaten, strammstehend.

Partykeller einer Jugendherberge, wochentags, abends. Null Stimmung. Planwirtschaft live. Das Thekenkollektiv hat jeden Abend zwei Kisten Bier zu verkaufen. Im Alltag heißt das: Läuft die Riesenparty, ist um halb neun nix mehr da und Feierabend. An öden Abenden wie heute hält man bis Mitternacht Stellung und schwätzt zur Not den Gästen den Alk auf. Meistens nimmt man hin.

Lustiger Abend in Eisenach. Kneipe. Mir geht die 150-prozentige FDJ-Jugendtourist-Betreuerin Simone auf die Nerven. Habe ihr gerade den Klaus-Lage-Song „Monopoly“ erklärt. „Monopoly,
und die an der Schlossallee verlangen viel zu viel.“ Erkläre das mal einer gelernten DDR-Bürgerin. Da checke ich sie. Gebe galant den Angetrunkenen, der kein Ostgeld mehr hat zum Weitertrinken. Tausche zwanzig D-Mark zum offiziellen Kurs, Quittung können wir morgen erledigen. Vergesse am Morgen die Quittung. Simone auch. Puh, niemand ist vollkommen, was auch immer.

Jugendherberge in Weimar. Seit Stunden trägt der junge FDJler Zahlen vor. Planübererfüllung überall, selbst in der Schweinemast. Der Typ trägt ein fürchterliches Hemd. Wir, Jugendbetreuer aus dem Norden des Ruhrgebiets, kommen auf die Kernkraft. Die Atomkraftwerke im Warschauer Pakt seien sicher, sagt er, hundertprozentig. Aus ideologischen Gründen. Sie befinden sich in Händen der Arbeiterklasse. Arbeiter schaden Arbeitern nicht. Das Problem seien die kapitalistischen Reaktoren im Westen, das Kapital… Es ist Herbst 1986. Tschernobyl war am 26. April 1986. OK, lies weiter Erfolgszahlen vor.

Erfurt, am Fuße der Domtreppe. Ich sehe eine riesige Schrift über dem Eingang einer Kneipe. „Nichtrauchergaststätte“. Ich lache und fotografiere. Das glaubt mir im Westen keine Sau, sowas kann es nur in der DDR geben. Ich habe der DDR nie so Unrecht angetan.

Immer noch Erfurt. Unterwegs mit dem Stadtbilderklärer, einem alten Mann. „Führer“ sagt man im sozialistischen Deutschland nicht zu dieser Tätigkeit.  Man sagt auch nicht „Fußgängerzone“ zur Gehstraße. Wir bitten den Erklärer uns den Kaisersaal zu zeigen. Dort hat die SPD 1891 ihr Erfurter Programm beschlossen. Der Saal ist geschlossen. Aus Frust kaufe ich im benachbarten Fachgeschäft für Agitation und Propaganda gleich zwei Honecker-Poster. Der Verkäufer versteht meine Begeisterung nicht ganz, teilt aber mein Bedauern über den Mangel an Fähnchen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Seit Gorbatschow sind die Dinger beliebter als es das ZK der SED geplant hat. Der Erklärer wartet vor dem Laden, deutet traurig auf den Kaisersaal und sagt leise: Ich habe früher auch zu dem Laden gehört. Ich schlucke.

Weimar, nach dem Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald. Irgendjemand hat Ellen aus Versehen „Else“ genannt. Ellen ist eine sehr nette alte Dame, die sich bei den Falken engagiert. Jetzt heult sie. Später erklärt sie mir, warum. Else sei ihr Tarnname gewesen in Amsterdam, als sie versteckt wurde von den Holländern, geflohen aus Deutschland als jüdisches Kind. Später bringen die Retter sie mit dem Boot nach England, wo sie gleich interniert wird als Angehörige einer verfeindeten Nation. Ellen erzählt ihre Geschichte zum ersten Mal seit 40 Jahren. Ich kann heute noch heulen, wenn ich daran denke.

Recklinghausen, Montagsdemo, vorgestern. Ich mache ein paar Fotos der öffentlichen Veranstaltung. Solche Aufmerksamkeit kennen die Demonstranten nicht. Sie werden barsch bis ausfallend. Später erklärt mir einer sein Problem: „Wir hatten in der letzten Zeit n bisschen Stress mit den Nazzis“. Ich frage empört zurück: „Sehe ich etwa aus wie ein Rechter?!“ Es gibt Sachen, die lasse ich mir von Menschen mit MLPD-Buttons nicht gerne sagen. Aber vielleicht verstehe ich manchmal den Westen einfach nicht.

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Geschichte der DDR muss neu geschrieben werden – Marx/Engels-Schrift entdeckt

Ein guter Grund, der DDR auch noch zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden nachzutrauern, ist der Tag der Deutschen Einheit. Der fiel, solange es sie noch nicht gab, auf den 17. Juni, führte zu ungehörten Reden und war ansonsten oft ein Brückentag und damit beste Gelegenheit, irgendwo am holländischen Strand rumzuliegen.

Nur die armen SDAJ-Angehörigen (DKP, damit geistig irgendwie DDR und ästhetisch eine Zumutung) und die geistig rein westlichen, aber ebenso gering geschätzten Anhänger der Jungen Union hatten Schlechteres zu tun. Die JU feierte ihren Deutschlandtag. Ihre Angehörigen fuhren von Castrop-Rauxel, Herne oder Duisburg aus in Bussen nach Berlin (West), zumindest versuchten sie es. Am Busbahnhof lungerte nämlich gerne irgendein DKP-Pionier herum, notierte das Kennzeichen und verpetzte es bei einer Stasi-Hotline. Daraufhin wurde der ein oder andere JU-Trupp kurz hinter Helmstedt an der Weiterreise gehindert wegen des absehbaren Missbrauchs der Transitwege. Woraufhin alle glücklich waren, die lungernden Pioniere, die Zurückgewiesenen, die Politiker, die dann doch ein Thema hatten für ihre Feiertagsreden und schließlich wir Hollandurlauber, weil wir in Egmont ein paar Idioten weniger am Hals hatten. Erkläre das heute mal einem 16-jährigen.

Heute ist Tag der Deutschen Einheit am 3.Oktober, da wollen nur die ganz Harten in Holland am Strand liegen, und das Feiertags-Shopping in Winterswijk ist so prickelnd auch nicht mehr, seitdem jede Ruhrgebietskleinstadt mit drei verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr nervt.

Bleibt die Frage: Wer hat Schuld am Bankrott der DDR? Einfache Antwort: Honecker und Kollegen. Sie hätten es besser wissen müssen, hätten sie nur mal ihren Marx genauer gelesen, könnte man leichtfertig sagen. Der Fall (der DDR) liegt aber genau anders herum. Karl Marx und Kumpel Friedrich Engels sagten nämlich schon 140 Jahre vor dem Mauerfall genauestens voraus, wie es mit der Deutschen Demokratischen Republik einmal zu Ende gehen wird. Das berühmte „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 liest sich heute wie das Drehbuch für den Untergang. (Nein, nicht jenen mit Bruno Ganz.) Der Verdacht liegt nahe, dass das Politbüro die Schrift sehr wohl gelesen und sie dann einfach und linientreu Punkt für Punkt abgearbeitet hat. Blöd gelaufen.

Schauen wir einmal genauer in den Text, nehmen wir uns den ersten, berühmten Satz vor: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. (31) Gespenster sind bekanntlich lebende Leichen, Untote, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Der Kommunismus konnte also erst zombiehaft durch Europa geistern nach seinem Ende. Nebenbei erklärt sich, warum die Hummer verzehrende Sahra Wagenknecht so luxemburgesk durch die Gegenwart wandelt. Sie personifiziert gerne Rosas Gespenst.

Schon der erste Satz des Manifests ist also ein Volltreffer. Mit Blick auf die Wendezeit stellt sich die Frage: Warum musste die DDR untergehen? „Zwangsläufig“, antwortet der geschulte Marxist, denn Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen… Kampf, einen Kampf, der … mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete. (32f.) Nun gut, die Revolution im Osten war eher lau. Hierzulande werden ungeliebte Staatschefs halt nicht an die Wand gestellt, sondern allenfalls wegen Bananenunterschlagung vor Gericht. Aber Pazifismus ist nicht immer die schlechteste Lösung.

Eine Alternative, einen dritten Weg, eine demokratische DDR war nie möglich. Auch das wussten Marx und Engels: Die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird. (47)

Der Umsturz im deutschen Osten 1989/90 war so friedlich, dass viele Kader nicht nur überlebten, sondern munter weiter machten. Blockflöten, Forumsmitglieder, CDU-Neugründer, Wendehälse waren zu erwarten, das wusste das Autorenduo Marx/Engels. Denn in Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt. (45) Da waren Krenz, Modrow und Maueröffner Schabowski Klassenbeste.

Jahrelang war die DDR in ihrem Mief, der nicht nur von Braunkohlehausbrand und Kohleintopf stammte, nahezu erstickt. Das war kein Betriebsunfall, das war Planübererfüllung in Sachen Sozialismus.

Dieser deutsche Sozialismus, der seine unbeholfenen Schulübungen so ernst und so feierlich nahm und so marktschreierisch ausposaunte, verlor indes nach und nach seine pedantische Unschuld. (67)Man erinnert sich an dieses lächerliche Paraden-, Ordens- und Feiertagsgedröhne.

Las man das kreuzlangweilige Neue Deutschland, lauschte den offiziellen Verlautbarungen, konnte man kaum übersehen, was den deutschen Sozialismus umtrieb. Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, worin sie ihr Gegenteil bedeutete. (69)

Unschuldige Bäume mussten sterben für das Neue Deutschland und Berge von Literatur, die wir Wessis mit unserem Zwangsumtausch aus Berlin, Hauptstadt der DDR, abschleppten. Auch diese Publikationen folgten dem 1848-er Plan, denn mit sehr wenigen Ausnahmen gehört alles, was in Deutschland von angeblichen sozialistischen und kommunistischen Schriften zirkuliert, in den Bereich dieser schmutzigen, entnervenden Literatur. (69)

Erich Honecker checkte das alles und konnte auch in hohem Alter das Manifest der Kommunistischen Partei mühelos in SED-Sprech übersetzen. Die historische Schrift gab die Linie vor: Auf diese Art entstand der feudalistische Sozialismus, … stets komisch wirkend durch gänzliche Unfähigkeit, den Gang der Geschichte zu begreifen. (62) Honecker bewies, dass er der folgsamste, also unfähigste Schüler war. „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, reimte er noch kurz vor Toresschluss und Maueröffnung, vielleicht noch auf einen Weltanschauungsorden hoffend, den er sich selbst an die Brust heften dürfte.

Berauscht von den ständigen Erfolgen des sozialistischen Wettbewerbs, waren die Jungs in der Wandlitzer Seniorenwohngruppe geflissentlich bemüht, die 140 Jahre alten Visionen von Marx und Engels Wirklichkeit werden zu lassen, bis zum bitteren Ende. Den proletarischen Bettlersack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihren Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter. (62)

Schließlich wurde es im Manifest wie in der DDR paradox. Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände (76), folglich auch jene Bewegung, die sich gegen sie selbst richtete. Das nenne ich mal konsequent. Die Wende im Herbst 1989, der Untergang der DDR im Oktober 1990, beides war also ganz im Sinne der Vordenker. Mit der Wende konnte das Politbüro stolz auch die Schlussformel des Manifestes als erledigt abhaken: Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! (77) Und sei es nur auf dem Oktoberfest oder am Ballermann.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf: Marx, Karl u. Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, Peking 1975, Verlag für fremdsprachige Literatur.

Wohin mit all dem Pazifismus? – Soja statt Zivi

Zivi im Dienst Foto: Bundesamt für Zivildienst

Muss der politisch korrekte Pazifist sich freuen oder darf er trauern? Wenn bald die Wehrpflicht ausgesetzt wird, verschwindet auch der Zivildienst. Er ist eine der wirkmächtigsten sozialen Errungenschaften der Republik, eine großartige kollektive Coming-Of-Age-Veranstaltung und bescherte mir den zweitschönsten Bühnenauftritt meines Lebens. Dazu später mehr.

An kaum einer Stelle ist das Grundgesetz so ehrlich wie im Artikel 12a. Der beschäftigt sich mit dem Ersatzdienst, der längst zum Normalfall geworden ist. Geht es um die Bundeswehr in Afghanistan, krücken und eiern führende Militärpolitiker noch immer um den „wenn ihr so wollt, nennt ihn ruhig“- Krieg herum. Das klingt, als erklärte Schalke-Stürmer Klaas-Jan Huntelaar: „Keine Ahnung, ich laufe im Stadion rum und trete hin und wieder vor einen Ball. Ob das schon Fußball ist, kann ich nicht sagen.“

In der Kriegsfrage ist unsere Verfassung klarer als unser sich durch AC/DC-Shirts modern daher schleimender adeliger Verteidigungsminister. (Musikfreunde sollten spätestens jetzt ihren Plattenschrank entrümpeln, so wie Tätowierten nach dem Einzug von Präsidentengattin Bettina Wulff ins Schloss Bellevue dringend härtere Formen der Körpermodifikation empfohlen werden.) Ach so, zurück zum Thema. Für das Grundgesetz war Krieg schon Krieg, als Rekruten noch allenfalls vor Langeweile Folter im Kasernenkeller spielten: „ Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden“, heißt es schlicht im Artikel 12a.

Dem Zivildienst trauere ich hinterher, weil mir seit Jahren in meinem Hauptjob als Kabarettist ein Zivi namens Knut ebenso treuer wie ungesehener Bühnenbegleiter war (eine Art Mrs. Columbo), weil ich in den 16 Monaten als ZDL wunderbare Sachen erlebte, Campino von den Toten Hosen dienstlich kennenlernte, weil es die einzige Zeit in meinem Leben war, in der ich jemals einen Chef hatte, geregelte Arbeitszeiten, wo man irre hohe Beiträge für mich in die Sozialversicherung abführte und ich Geld dafür bekam, dass ich in meiner Freizeit nicht nackt herum lief. Letzteres war dem Gleichbehandlungsgrundsatz, also der Gerechtigkeit geschuldet. Der Kriegsdienstleistende bekam eine Ausgehuniform, die nur von den größten Idioten öffentlich getragen wurde, ich nicht. Dieser Nachteil musste ausgeglichen werden mit ein paar Pfennigen pro Tag. Da beginnt man die deutsche Bürokratie zu lieben.

Der Zivildienst begann mit oben erwähntem Auftritt vor der damals üblichen Wahrheitskommisssion, die das Gewissen des Antragstellers erforschten sollte. Ich hatte das Gremium zuvor gefüttert mit Zeugenaussagen meiner Friedfertigkeit. Geschult an Billy Wilders „Zeugin der Anklage“ wählte ich als Fürsprecher weder einen friedensbewegten Pfarrer noch einen wohlmeinenden Sozialarbeiter, sondern einen  Weltkriegsveteran und einen ehemaligen Panzerfahrer.

Höhepunkt der Verhandlung ist die berühmte Notwehrfrage. Der Vorsitzende fragt vorsichtig, ich helfe ihm weiter: „Sie meinen, ich bin mit meiner Freundin im einsamen Wald, der böse Russe kommt mit der Kalaschnikow vorbei, ich habe zufällig meine Knarre in der Tasche?“  – Pause, imaginäre Krümel vom Tisch wischen, betroffen aus dem Fenster starren, schlucken, Tränen andeuten, zögernd weitersprechen, zweifeln. Du sollst dem Staat geben, was des Staates ist: Irgendeine scheiß Antwort. Wenn ich so weitermache, wollen die Beisitzer, ein Rentner, eine Hausfrau und ein Stadtamtmann, mich gleich adoptieren. Großes Gefühlskino vor kleinem Publikum, ich habe sie. Erschöpft durchatmen.

Während des Zivildienstes wurde ich begleitet vom coolsten Regionalbetreuer, den man sich vorstellen kann. Der lief bei den seltenen Treffen auf im Hummel-Trainingsanzug und war nebenbei Fußballmanager beim VfL Bochum: Klaus Hilpert. Heutzutage sind Fußballmanager im Nebenberuf Trainer, in Gelsenkirchen jedenfalls. Hilpert setze durch, dass mir die letzten drei Tage des Dienstes erlassen wurden, „zur Vorbereitung des Antritts der Heimreise“, Gleichbehandlungsgrundsatz; ich wohnte fünf Meter neben der Zivildienststelle.

Eine Sache hat bei mir nicht geklappt. Eine Sprecherin des Bundesamtes für Zivildienst lobte gestern noch die weiter bestehenden Vorzüge der bald nur noch sechsmonatigen Dienstzeit. Viele soziale Einrichtungen gewännen darüber Ehrenamtliche für spätere Zeiten. Ich revidierte im städtischen Jugendzentrum hingegen meinen sozialpädagogischen Berufswunsch. Ich kapierte schnell, dass ich immer die Interessen der Institution und nur selten die Interessen der Klienten zu vertreten hatte.

Während  jetzt auch das deutsche Hartz IV am Hindukusch verteidigt wird, ist der Ersatzdienst zum Schnupperpraktikum geworden. Mag sein, dass man nicht viel Zeit braucht zu lernen, wie man andere totschießt oder selbst auf eine Mine fährt. Der Umgang mit Senioren sollte einem anderen Rhythmus folgen als die Verrichtung von Leistungen der Pflegekasse. Viele Senioren fürchten heute schon dement geworden zu sein, weil sie morgens ihren Zivi wieder mal nicht erkennen. Dabei hat er nur in raschem Wechsel seinen Vorgänger abgelöst.

Längst sind nicht mehr alle Zivis überzeugte Pazifisten. Einige beschimpfen sogar ihre Klienten nach Feierabend als Spackos oder Schmarotzer. Später studieren sie dann jahrelang Geschichte und Sozialanthropologie oder  kassieren in maroden Banken bombige Boni. Auch bei der Bundeswehr sind nicht alle von ihrem Tun überzeugt. Sie heißen oft Sylvio, kommen aus Chemnitz, einfachen Verhältnissen und im Sarg zurück aus Afghanistan.

Aber irgendjemand muss demnächst die greisen Atomgegner im Rollstuhl zur Demo nach Brokdorf schieben. Hannelore Kraft mit ihrem Eintags-Einsatz undercover und an der Basis kann die Lücke allein nicht füllen. Vielleicht werden die „Zivis“ bald ersetzt. Dann hat man es als Senior zu tun mit „jungen Menschen, die ein freiwilliges soziales Jahr ableisten“. Klingt nach schlechter Übersetzung eines indianischen Namens und prägt sich auch Nichtdementen kaum ein. Abgeleitet vom Sozialen Jahr hätte ich einen kompakten Kosenamen. Auf der Bühne spräche ich nicht mehr von unserem Zivi, sondern von unserem Soja Knut.